Menschliche Tiere sind klug, aber vergesslich. Sie vergessen, dass sie ein Wunder im Kosmos sind, denn sie besitzen etwas Unfassbares – sie besitzen Bewusstsein. Das Leben kann über das Leben nachdenken. Es kann sich selbst in Frage stellen und in aller Freiheit Nein sagen.
Wer will, mag in dieser evolutionären Auszeichnung einen natürlichen Nachteil sehen: Das Bewusstsein erzeugt Hunger nach Orientierung und Sinn, denn kein angeborener Instinkt sagt dem Menschen, was er tun und was er lassen soll. Das Animal rationale will es wissen: Worin besteht der Sinn des Lebens? Welchen Sinn hat die Weltgeschichte?
Als vor dreissig Jahren das kommunistische Ungeheuer von der Weltbühne verschwand, war die Frage nach dem Sinn der Weltvergangenheit leicht und freudig zu beantworten. Vor aller Augen marschierte die Weltgeschichte in der Gestalt des Fortschritts in die richtige Richtung.
Nach dem Sieg über die östliche Diktatur schien sich die westliche Lebensform nach und nach über den ganzen Globus auszubreiten und den Wartenden Demokratie und Freiheit zu bringen, auch Wohlstand. Die Geschichte hatte einen Sinn und ein Ziel. Und es war gut.
Die Ausreden sind aufgebraucht
Es bereitet einen gewissen kognitiven Schmerz, an die Zeiten der Zuversicht zu erinnern, denn inzwischen hat sich die Lage dramatisch verfinstert. Nicht nur, dass die liberale Freiheit ihre Aura verloren hat; nein, die «Krone der Schöpfung» ist im Begriff, bei vollem Bewusstsein ihre natürlichen Lebensbedingungen zu ruinieren. In der Klimakrise begegnet die Zivilisation ihrer eigenen Endlichkeit, und fürs erste ist die Zukunft kein offener Horizont mehr, kein Möglichkeitsraum, sondern wiederkehrende Vergangenheit: Uns Endverbrauchern kommen die Sünden des fossilen Zeitalters aus der Vergangenheit nun entgegen, all die Umweltverbrechen, der ganze Dreck von gestern.
Für die verwöhnte liberale Freiheit, die in ihrem Alltag zwischen mindestens dreissig Zahnpastasorten wählen darf, ist das eine maximale historische Beleidigung. Der siegessichere lineare Fortschritt verwandelt sich zurück in eine zyklische Zeit, in die Wiederkehr des schmutzigen Alten. Der Sinn der Geschichte verdunstet. Er pervertiert zum Nicht-Sinn.
Die Ausreden sind aufgebraucht, und nicht einmal die Kunst, es nicht gewesen zu sein, hilft noch weiter. Weder dem lieben Gott noch dem armen Teufel lässt sich die Schuld an einem möglichen Klimakollaps in die Schuhe schieben. Schon im 18. Jahrhundert hatten die Aufklärer gezeigt, dass nicht Gott, sondern der Mensch Herr über die Geschichte ist – er macht sein Schicksal selbst.
Kaum hatten sie diese Wahrheit ausgesprochen, waren die Aufklärer darüber so erschrocken, dass sie auf die göttliche Gunst doch nicht ganz verzichten wollten. Der Allmächtige sollte ein überirdischer Sinngarant bleiben, ein Bürge dafür, dass die Geschichte es gut meint mit den Menschenkindern, und der dafür Sorge trägt, dass die Gattung gemeinsam fortschreitet in eine lichte Zukunft. Wie schrieb der Philosoph Johann Gottfried Herder: «In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint, so ist’s doch überall ein und dieselbe Menschengattung.» Im Ganzen der Weltgeschichte, so sah es Hegel, verwirklicht sich der göttliche Geist, und selbst wenn dieser Geist über Leichenfelder geht: Am Ende wird alles gut.
Menschheit, Weltgeist, globale Ganzheit: Von den alten Zauberworten ist scheinbar nichts übriggeblieben, die Geschichtsphilosophie ist ein toter Hund. In den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren es konservative und postmoderne Intellektuelle, die von dieser «Irrlehre» Abschied nahmen und triumphierend die letzten geschichtsphilosophischen Gedankenfiguren zu Grabe trugen. Eine Geschichte im Singular gibt es nicht. Wer von der Menschheit spricht, der spricht von einer Fata Morgana.
Es gibt nicht die Geschichte
Damals, in den Post-68er-Zeiten, enthielten solche Sätze eine Warnung an alle Weltverbesserer und «Geschichtsplanverwalter» (Hermann Lübbe). Niemand, erst recht nicht die ewige Linke, dürfe sich als Steuermann der Weltgeschichte aufführen und unter Berufung auf eine höhere Wahrheit das Staatsschiff kapern, um es an irgendeiner utopischen Insel zerschellen zu lassen. Mit einem Satz: Es gibt nicht die Geschichte, es gibt nur Geschichten. Nur die unverbundene Pluralität von Ereignissen.
Die Weltgesellschaft teilt ein Schicksal. Ihr droht etwas, das in der Geschichte der Menschheit beispiellos ist: die Unbewohnbarkeit der Erde.
Allerdings, wenn der Sinn der Weltgeschichte nur noch darin bestehen sollte, viele Geschichten hervorzubringen, dann hätte sich die Frage nach ihrem Wozu erledigt. Bürgerinnen und Bürger müssten sich in einer Art melancholischer Heiterkeit mit der verwirrenden Pluralität geschichtlicher Vorkommnisse abfinden, mit Glück und Unglück, Aufstieg und Fall, mit tragischen Helden und komischen Heiligen.
Im bunten Schauspiel der Weltgeschichte existiert keine Einheit der Handlung und der Gattung, und allein der Zufall führt darin Regie. Wir müssen, schrieb der Philosoph Odo Marquard damals, allen «Totalfragen» entsagen und im Gottvertrauen auf wetterfeste staatliche Institutionen den Sinn des Lebens im Kleinen suchen. Ohnehin empfänden Menschen einen Überdruss daran, ständig Geschichte machen zu müssen. «Es gibt das Recht der nächsten Dinge gegenüber den letzten. (…) Das Wahre ist das Halbe.»
Warum klingen diese besonnenen Sätze heute wie Kalendersprüche aus der biedermeierlichen Welt von gestern? Warum sind sie empirisch falsch? Weil uns die Klimakrise schockhaft vor Augen führt, dass die Gegenwart eben nicht aus unverbundenen Geschichten besteht, die im Wechsel der historischen Jahreszeiten am Logenplatz des bürgerlichen Daseins vorüberziehen. Das, was es angeblich nicht gibt, existiert eben doch: Es gibt eine Geschichte im Singular und eine «Totalfrage» des Zeitalters – es gibt nicht das gefährdete Halbe, sondern das gefährdete Ganze.
Die Weltgesellschaft teilt ein gemeinsames Schicksal. Ihr droht etwas, das in der Geschichte der Menschheit beispiellos ist: die Unbewohnbarkeit der Erde. Wenn das die Lage ist, worin besteht dann noch der Sinn der Geschichte? Wie lässt sich die Frage nach ihrem Wozu beantworten? Nur Salonzyniker und Selbstbetrüger können noch behaupten, ihr Sinn bestehe darin, viele Geschichten hervorzubringen, denn dann wäre der Zusammenbruch des Erdsystems auch nur eine Geschichte im grossen Welttheater.
Die Antwort auf die Sinnfrage ist deshalb von epischer Freudlosigkeit: Der Sinn der Geschichte besteht in der Entsorgung von Nicht-Sinn – er besteht darin, das Schlimmste zu verhindern und sich damit abzufinden, dass es bereits ein gewaltiger Fortschritt wäre, die Altlasten des vergangenen Fortschritts zu beseitigen und den Weltzustand zu stabilisieren. Als sinnstiftendes und alles beflügelnde Motiv bliebe dann nur die Hoffnung auf einen evolutionären Lernprozess – darauf, dass die Erdbewohner im Kampf gegen die Klimakrise eine Lebensweise entwickeln, in der Kapitalakkumulation nicht Selbstzweck ist und in der das Verhältnis zur Natur nicht darin besteht, ihre Schätze zu plündern und die Atmosphäre zu vergiften.
Inzwischen dürfte sich herumgesprochen haben, dass die Staatenwelt dabei an einem Strang ziehen und in einem Mass kooperieren müsste, das alles bislang Dagewesene weit übersteigt. Derzeit aber ist – vom Pariser Klimaschutzabkommen abgesehen – das Gegenteil der Fall: Die sogenannte Weltgemeinschaft präsentiert sich als erweiterte Kampfzone für Nationalegoisten, als Exerzierplatz für kommende kalte Kriege. Was tun, um nicht zu resignieren?
Fiktion als Weltenretter
Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht die Fiktion des Als-ob, und das bedeutet: Man muss so handeln, als ob die kooperierende Weltgesellschaft bereits Wirklichkeit wäre. Für den Fall, dass diese Handlungsweise auf dem Feld der Klimapolitik genügend Nachahmer findet, könnte der Widerstreit der Staaten, ihr endloser Kampf um Anerkennung, positiv umgepolt werden: Fortan würden Regierungen darum wetteifern, wem die sozialökologische Transformation als erstem gelingt, wer die intelligentesten Technologien und die besten Rezepte entwickelt, um die Erde abzukühlen. Der Glaube an eine Fiktion würde Berge versetzen, und die Staaten hätten etwas gelernt: Wer überleben will, muss gemeinschaftlich handeln und seiner nationalen Selbstsucht Zügel anlegen.
Theologen dürften sich bestätigt fühlen. Sie haben hinter dem irdischen Gott der Moderne – dem Fortschrittsglauben – stets einen teuflischen Machbarkeitswahn vermutet.
Klar, das ist Wunschdenken, es wäre zu schön, um wahr zu sein. Doch bleibt alles beim Alten, dann hätte sich das menschliche Tier schon nach zweihundert Jahren Hochindustrialisierung in eine Lage manövriert, die die Problemlösungsfähigkeit seines Bewusstseins überfordert. Es kann sich den selbstgemachten Wahnsinn nicht vorstellen, das Angerichtete ist grösser als die eigene Phantasie.
Trotz zweifelsfreiem Wissen über den Fieberzustand der Erde erwiese sich die Weltgesellschaft als unfähig, aus der apokalyptischen Naherfahrung zu lernen und politische Handlungen global zu koordinieren, übrigens auch deshalb, weil kapitalistische Gesellschaften nicht nach dem Webmuster von Kooperation, sondern nach dem Prinzip rücksichtsloser Konkurrenz organisiert sind.
Theologen, die auf ihre Weise immer Geschichtsphilosophen geblieben sind, dürften sich bestätigt fühlen. Sie haben hinter dem irdischen Gott der Moderne – dem Fortschrittsglauben – stets einen teuflischen Machbarkeitswahn vermutet, ein fehlendes Bewusstsein für das Unverfügbare.
Alles soll sich technisch herstellen und alles perfekt bewältigen lassen. Das gilt selbst für die Hoffnung, die ökologische Krise in den Griff zu bekommen. Auch bei dieser Anstrengung, wenn es denn dazu kommt, gibt es ein Moment an Unverfügbarkeit.
Das Gelingen lässt sich nicht einfach herstellen, die Gesellschaft hat nicht alles in der Hand. Angesichts des Unvorstellbaren hoffen säkulare Geister auf eine günstige Fügung. Theologen hoffen auf Gnade.