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Autor: Lukas Elser
Autor: Joel Bedetti
Bilder: Nicolas Zonvi
Freitag, 17. März 2017

Zürich, Helvetiaplatz, Café Bank. Zwei Männer in den Dreissigern sitzen zwischen Stahlträgern, abgeblätterten Wänden, Palmen und edlem Holz. Sie besprechen ein Projekt. Einer von ihnen, rote Wollmütze, Hornbrille, Retro-Skateboard, stellt sich als «Hipster» vor. Als DJ und Yogalehrer ist er stadtbekannt. Seine Sätze sind durchsetzt mit Wörtern wie «meta», «predictable», «enablen». Der andere, Patrick Schwarzenbach, formuliert ganze Sätze. Er ist Pfarrer im Offenen St. Jakob am Stauffacher und will junge Gemeindemitglieder mit einem Filmscreening in seine Kirche locken. Von «locken» würde Schwarzenbach natürlich nicht sprechen. Vielmehr möchte er «ein Angebot schaffen, das junge Menschen in der Stadt bei ihrer Suche nach Gott unterstützt». Nun fragt er den Hipster um seine Meinung: Soll er sich für den Dokumentarfilm über den irren Psychiater entscheiden? «Gute Idee», findet der Hipster, denn da könne jeder anknüpfen, haben doch alle einen Crazy-Onkel, der nach Südamerika ausgewandert ist. – «Oder doch eher der Film über den indischen Guru? Der hätte einen spirituellen Bezug», überlegt Schwarzenbach laut.

Klar ist nur: Schwarzenbach braucht Ideen. Teilten sich in den siebziger Jahren Katholiken und Reformierte fast die ganze Schweiz gleichmässig untereinander auf, sah der Vergleich 2015 für die Protestanten schlecht aus. Während die Katholiken nur 9 Prozentpunkte verloren hatten, waren die Reformierten von 49 auf 25 Prozent der Gesamtbevölkerung geschrumpft. Also um fast die Hälfte. In der Stadt Zürich sank die Mitgliederzahl seit den sechziger Jahren auf einen Drittel der ursprünglich 270 000 Mitglieder. Bis 2030 sollen es nochmals 20 000 weniger werden. In der Hauptstadt des einst fast vollständig protestantischen Kantons Zürich sind die Reformierten mittlerweile in der Minderheit; die Katholiken bilden mit 117 000 Mitgliedern die stärkste Religionsgemeinschaft.

Wie stoppt man diesen Prozess? Wie holt man die Leute zurück, wenn viele nicht einmal mehr wissen, was an Weihnachten geschah, und die, die es noch wissen, austreten, weil die Kirche sie enttäuscht oder ihnen schlicht nichts mehr bedeutet? Und wie erreicht man die sogenannte Projektgeneration, die spürt, dass da etwas ist jenseits des Fassbaren, die aber keine Lust hat auf Sonntagsgottesdienst? Mit Filmscreenings? Indem Schwarzenbach unter der Woche ein Guerilla-Yoga oder ein DJ-Set in der Kirche veranstaltet? Wer eine andere Spiritualität sucht, wird im Programm des Offenen St. Jakob am Stauffacher jedenfalls fündig: viermal wöchentlich Schweigemeditation, Yoga, Atemübungen, Derwischtanz.

Nach dem Treffen mit dem Hipster begibt sich Schwarzenbach zurück in die Citykirche, wo um Punkt zwölf der Ton einer Klangschale erklingt. Zehn Personen sitzen in zwei Reihen und mit geschlossenen Augen vor der Kirchenorgel. Die einen auf einem Schemel, die anderen im Lotussitz. Sie falten die Hände oder formen sie wie Buddha über dem Bauch zu einem Kreis. Eine Viertelstunde lang konzentrieren sie sich auf den Atem und suchen die Stille. Schwarzenbach sitzt im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern, denen das Sitzen ohne Lehne schwerfällt, immer kerzengerade. Sein Kopf schwankt im Millimeterbereich, husten muss er kein einziges Mal. Kein Wunder, meditiert der 32jährige doch schon sein halbes Leben. Immer wieder zieht er sich ins Kloster zurück. Und dabei ist er strikt: Nächste Woche sei er für Fragen nicht erreichbar, sagt er bei einer Terminbesprechung. Er weile im jesuitischen Lassalle-Haus und habe sein Handy ausgeschaltet.

Kirchgemeinden wie ein Facebook-Feed

Gerade für die Zürcher Kirche wäre das Zwingli-Jahr eine grosse Chance, sich ein inhaltliches Profil zu geben. Fehlenden Willen kann man ihr nicht vorwerfen: Der Trägerverein «500 Jahre Reformation Zürich» verfügt über ein Budget von über 13 Millionen Franken. Inhaltlich konzipiert werden die Feierlichkeiten aber nicht von Theologen. Verantwortlich zeichnen Kulturmanager: Barbara Weber, ehemalige Co-Direktorin des Theaters Neumarkt, und Expo-02-Kopf Martin Heller. Für Nicolas Mori, Pressesprecher der Reformierten Kirche Zürich, steht man angesichts des Aufwands und dieser Chance denn auch vor einer Bewährungsprobe: «Wenn wir es bei einem solchen Jubiläum nicht schaffen, Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzielen, ist die Frage berechtigt, ob die Kirche überhaupt noch etwas zu sagen hat.»

Was sagt die Kirche denn? Und wie sagt sie es? Die Zürcher Kirche Sihlfeld beispielsweise bietet einen «Meditativkreativen Malworkshop» an. Damit will die Quartierkirche auf ihr Jahresthema «Chaos und Ordnung» einstimmen. Ein Saal, gelbes Parkett, bemalte Fenster und ein Dutzend vorwiegend ältere Personen, die mit geschlossenen Augen und unter Anleitung einer Künstlerin ein Blatt Papier mit Neocolor bearbeiten. Die einen kritzeln mit zusammengekniffenen Augen, die anderen kreisen locker aus dem Handgelenk heraus mit einem stillen Lächeln im Gesicht. Die Künstlerin will, dass sie Kontakt mit dem «Anderen» aufnehmen. Sie sollen die inneren «Tornados», «Erdbeben» und «Überschwemmungen» verarbeiten.

Das Angebot ist erfolgreich, der Kurs ist ausgebucht. Der christliche Glaube allerdings, der ist eher nebensächlich. Sozialdiakonin Christina Falke, die den Workshop begleitet, versteht das Malen als spirituelle Übung. Man wolle nicht neue Mitglieder rekrutieren. «Bei solchen Kursen geht es darum, die Kirche als Gesamtes attraktiv zu halten.»

Das versucht die Reformierte Kirche Zürich auch mit sogenannten Profilgemeinden: Die Kirche individualisiert sich auf die Bedürfnisse der Leute, ähnlich dem Facebook-Feed. Für Traditionelle gibt es den Gottesdienst mit Orgelmusik. Für ein moderneres Publikum Jazzgottesdienste, wie sie in Wiedikon stattfinden. Verwandt mit diesem Versuch ist das Konzept der «Fresh Expressions of Church», das aus der anglikanischen Kirche stammt. Die Idee: Man feiert Gott mit spontanen Events statt jeden Sonntagmorgen und bildet so in einer Zeit der gesellschaftlichen Fragmentierung Milieukirchen, die unabhängig von einer grösseren Gemeinschaft und einem Gotteshaus funktionieren. Doch «Fresh Expressions» kursiert in der Schweiz hauptsächlich als Modebegriff unter Theologen. Eines der wenigen konkreten Beispiele gibt es in Rüti im Zürcher Oberland: Ein paar Heavy-Metal-Fans fühlten sich in der traditionellen Kirchgemeinde ausgeschlossen und begannen, Gottesdienste mit ihrer Musik zu unterlegen.

Mit individuellen Zuschnitten arbeiten aber nicht nur ganze Gemeinden. Einige Zürcher Pfarrer etwa versammeln ihre Kirchenmitglieder in Whatsapp-Gruppen. Christoph Sigrist, Pfarrer im Grossmünster, besucht jedes neue Mitglied seiner Kirche persönlich zuhause. Sigrist sieht, dass immer weniger Menschen am Sonntagmorgen den Weg in den Gottesdienst finden: «Er ist im Markt der Religionen ein Nischenprodukt.» Stattdessen bietet er andere spirituelle Veranstaltungen an: Gottesdienst unter der Woche mit Taizé-Klängen, Gottesdienste, an denen die Vesper nach benediktinischer Regel gesprochen wird. «Von anderen spirituellen Angeboten wie Yoga unterscheiden wir uns durch unsere sakralen Räume, die andere spirituelle Schwingungen evozieren als ein Yogastudio», sagt er. Zudem habe man mit Jesus eine tröstende Figur, welche mit ihrem Tod für das ewige Leben steht. «Wir sind aber nicht besser als ein anderes spirituelles Angebot. Jeder soll sich das holen, was ihm entspricht.» Dass seine Kirche mehr Mitglieder verliert als die katholische, erklärt sich Sigrist mit der Zuwanderung. «Sie hat Zulauf durch Migranten, denen die traditionelle Kirchlichkeit wichtig ist.»

Im Dilemma der Freiheit

Josef Hochstrasser, 70, aus dem aargauischen Oberentfelden, liess sich ursprünglich zum katholischen Priester ausbilden. Dann verliebte er sich mit 27, heiratete, wurde des Amtes enthoben und reformierter Pfarrer. Hochstrasser widerspricht dem Grossmünster-Pfarrer Sigrist vehement: «Das Problem geht tiefer. Die Protestanten schaffen es nicht, ihre Theologie mit Sinnlichkeit zu verbinden, mit einer gewissen Erotik, wie es die Katholiken mit ihren Ritualen tun. Das Wort ist das einzige Instrument ihrer Religion. Und die meisten Pfarrer sind nicht mal gute Redner.» Was er ganz und gar nicht versteht: «Der Begriff religiöses Angebot macht mich fuchsteufelswild. Jesus hat auch nicht gefragt, was die Leute wollen. Er hat gesagt: Hallo, da bin ich, und die Leute sind ihm gefolgt. Wir sind kein Profi-Dienstleister, die im religiösen Markt auf Kundenbedürfnisse reagieren. Wir müssen uns im Gegensatz zurück auf uns besinnen und überlegen, was Gott und Jesus im Kern ausmacht.»

Noch liberaler geht fast nicht: 1868 führten Zürichs Reformierte die Bekenntnisfreiheit ein. Seither sind selbst Atheisten in der Kirche willkommen.

Doch bei dieser Rückbesinnung auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen scheint einfacher gesagt als getan. Das liegt auch an der demokratischen Natur der reformierten Kirchen: Die Mitglieder ihrer Behörden werden gewählt, die Kirchgemeinden sind weitestgehend autonom und die Pfarrer frei in dem, was sie predigen.

Die reformierte Kirche war die erste, die theologisch mit der Aufklärung Schritt hielt. Im 19.Jahrhundert erhielten in den aufgeklärten, urbanen Gegenden Europas, auch in Zürich, die historisch-kritischen Theologen die Deutungshoheit über die reformierte Theologie. Für sie war die Bibel auch eine historische Quelle. Sie predigten an Weihnachten, dass Jesus nicht vom Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau Maria geboren wurde, und an Auffahrt, dass er nicht gegen den Himmel gefahren war.

1839 führte das zum Züriputsch. Die konservative Landbevölkerung stürmte Zürich und zwang die Regierung, den liberalen Theologen, den sie als Professor in der theologischen Fakultät der neuen Universität eingesetzt hatte, wieder zu entlassen. Die reformierte Kirche traf in den folgenden, von diesen Konflikten geprägten Jahren eine Entscheidung, die bis heute nachwirkt: Weil sie es sich mit niemandem verscherzen wollte, bezog sie keine Position – und führte 1868 stattdessen die Bekenntnisfreiheit ein. Ab sofort war jeder in ihrer Kirche willkommen: Pietisten genauso wie Atheisten. Mit der seither fortschreitenden Liberalisierung ist die reformierte Kirche also paradoxerweise an ihrem Ziel angelangt: Alle sind gleich, alle sind frei. Doch was soll man tun, wenn alles geht?

Gottesdienst ohne Gott

Jungpfarrer Francesco Cattani hat sich für das Gespräch den «Sternen» ausgesucht, der zehn Minuten von seiner Kirche im Stadtzürcher Quartier Albisrieden entfernt liegt. Eine Jägerstube mit dunklen Tischen, Kuhglocken, geschmiedeten Pendelleuchten mit fein verzierten Milchglaslampen, handgemachten Fenstern und alten Herren beim Jassen. Er nimmt einen Schluck von seiner Stange und sagt: «Es ist auffallend, dass die meisten ihre theologischen Fragen lieber bei einem Bier als in der Kirche besprechen.» Cattani, seit drei Monaten Pfarrer, sagt: «Gott ist manchmal ein Schaf******.» Er meint damit, dass er ihn nicht immer versteht. Jesus, erklärt er, habe das Anti-Establishment angesprochen, also müsse man auch heute Ausgegrenzte integrieren. «Warum nicht aufs Koch-Areal gehen und die Besetzer fragen, was sie suchen?» Grinsend fügt er an: «Vielleicht würde ich auch eins an den Grind bekommen, wie Stadtrat Leutenegger, als er vor Ort aufkreuzte. Aber vielleicht würden sich auch spannende Gespräche ergeben.»

Das waren noch Zeiten: Die reformierte Neue Kirche Albisrieden wurde 1949 bis 1951 gebaut, da nicht mehr alle Kirchenmitglieder in der bisherigen Albisrieder Kirche Platz fanden.

Cattani will, dass die Kirche Flagge zeigt. Und er will, dass die Mitglieder ein klares Bekenntnis zu ihrer Kirche ablegen. Er erzählt, wie ihn Freunde nach Italien einladen wollten, damit er sie dort traue. Sie sagten: «Mach einen Gottesdienst. Aber lass ja Bibel und Gott weg.» Er blickt fassungslos durch seine Hornbrille: «Ein Gottesdienst ohne Gott? Ja, wozu denn überhaupt einen Pfarrer?» Cattani fordert weniger Angst vor Mitgliederschwund. «Wenn uns das egal wäre, könnten wir ein revolutionäres Element sein. Wir könnten uns gegen die staatlichen Richtlinien stellen und Homosexuelle trauen. Wir könnten SVP-Burka-Plakate offiziell als unchristlich verurteilen.» Die Kirche von Jesus, sagt er, sei eine provozierende Minderheitenkirche gewesen. «Die Leute kamen wegen des Inhalts. Nicht weil sie von Geburt an Mitglied waren.»

Später ist Cattani zurück in der Kirche, die in ihrer Schlichtheit eher an die Tonhalle als an ein Gotteshaus erinnert. Cattani wünscht sich, dass Pfarrer Neumitglieder nicht einfach per Formular aufnehmen, sondern sie auch auf die Relevanz der Taufe aufmerksam machen. Neumitglieder sollten einen Glaubenskurs besuchen, damit sie wissen, was der christliche Glaube beinhalte. «Wir können nicht die Bibel aus der Kirche schmeissen, nur noch von Mutter Natur sprechen und die Leute auf Sonne, Mond und Sterne taufen.» Eine Erneuerung, schliesst Cattani, sei doch gerade die Idee der Reformation: dass man über Theologie nachdenkt. Dass man sich gegen das eingerostete System erhebt. Die nächste Erneuerung wäre konsequenterweise eine Rückbesinnung. Dafür würde er sogar in Kauf nehmen, dass die reformierten Kirchen ihren Status als Landeskirchen einbüssen – und damit auch die öffentlichen Gelder entfallen.

Unterstützung erhält Cattani von Josef Hochstrasser, dem ehemaligen Priester. Kürzlich gab der zum Reformationsjubiläum ein schmales Büchlein heraus. Eine Streitschrift mit zehn Thesen, in denen er der Landeskirche im Grunde nicht viel anderes wünscht als einen sanften Tod. Und eine Auferstehung. Titel: Die Kirche kann sich das Leben nehmen. «Sie ist altersschwach, senil, hört und sieht nicht mehr gut», sagte Hochstrasser Anfang Februar im Interview mit Tele Züri. Es sei an der Zeit, dass die Kirchen arm werden – materiell arm. Nur so werden sie gezwungen sind, sich neu zu definieren. Die Kirche solle ihren Status als Landeskirche und damit ihre öffentliche Finanzierung verlieren. «Sie sollte nicht aus Profis und Amateuren bestehen, sondern sich von unten in selbständigen Gemeinden aufbauen, die das Evangelium zusammen interpretieren.»

Dass Hochstrasser mit solch markigen und öffentlichkeitswirksamen Kurzanalysen in der Kirche aneckt, versteht sich von selbst. Nicolas Mori, Sprecher der Reformierten Landeskirche Zürich, sagt: «Die Meinung, dass unsere Kirche den öffentlichrechtlichen Status verlieren sollte, ist nicht weit verbreitet.» Klar wäre man vielleicht beweglicher, aber die Vorteile des jetzigen Systems überwögen. «Wir dürfen in den staatlichen Schulräumen unterrichten, der Staat zieht für uns gegen Entgelt die Steuern ein. Die Anerkennung hat auch symbolischen Wert: Die Kirchensynode tagt zum Beispiel im Rathaus.»

Antwort auf die Panik

Eine Kirche, die kollabiert: Pfarrer Schwarzenbach kann dieser Vorstellung nichts abgewinnen. Im Gegensatz zu seinem Pfarrkollegen Cattani, der eine Rückbesinnung auf einen harten Kern von Gläubigen fordert, will Schwarzenbach die Ränder der Kirche nicht aufgeben. «Der Vorteil der Volkskirche ist doch, dass sie unter einem grossen Dach die unterschiedlichsten Stimmen versammelt: vom Zweifler bis zum Superchristen.» Er sagt aber auch: «Eine kleine Kirche kann auch eine Chance sein.» Das Urchristentum, erinnert er, habe ebenfalls mit einer losen Gruppe angefangen, die sich auf die Suche nach Gott gemacht habe. «Erst als ihre Macht grösser wurde, kamen die Probleme; die Unterdrückung von Andersgläubigen, die Kriege oder Intrigen.» Während viele ältere Berufskollegen die Kirche mit Betriebskonzepten und Marktforschungen ins 21.Jahrhundert retten wollen, als handle es sich bei der Kirche um ein serbelndes Unternehmen, blicke er gelassen in die Zukunft, sagt Schwarzenbach.

Pfarrer Franceso Cattani fordert weniger Angst vor Mitgliederschwund. «Wenn uns das egal wäre, könnten wir ein revolutionäres Element sein. Dann können wir Homosexuelle trauen und SVP-Burka-Plakate als unchristlich verurteilen.»

Einige Wochen später, am Sonntagmorgen im Februar in der Kirche Offener St. Jakob am Stauffacher. Pfarrer Schwarzenbach wird gleich ein Kind taufen. Die Orgelpfeifen verstummen, wenig später predigt er zu einer Bibelstelle, in der Jesus mit seinen Jüngern in einem Fischerboot über den See fährt, um ans andere Ufer zu gelangen. Dort warte die Verheissung. Auf der Überfahrt zieht ein Sturm auf, und die Jünger im Boot geraten in Panik. Während sie grosse Ängste ausstehen, schläft Jesus im Heck. Das Problem löst sich zügig: Die Jünger wecken Jesus, dieser stoppt den Sturm und fragt ungläubig, weshalb sie sich denn so fürchten.

Die Bibelstelle aus dem Neuen Testament, die Schwarzenbach der Taufgemeinde vorträgt, ist ungewöhnlich düster für die Taufe eines Neugeborenen. Sie passt aber wie die Faust aufs Auge an diesem verhangenen Sonntag, in dem Jahr, in dem die reformierte Kirche ihr 500jähriges Bestehen feiert und nicht so genau weiss, wohin sie steuert.

Lukas Elser hat Philosophie studiert und arbeitet als freier Journalist.
Joel Bedetti ist Coup-Mitgründer, freier Journalist und Reporter.
Der Fotograf Nicolas Zonvi lebt in Zürich.

Diese Geschichte erschien in einer Langfassung erstmals im Online-Magazin Coup. Das werbefreie Magazin wurde von jungen Journalisten gegründet und publiziert jeden Monat eine grosse Geschichte aus der Schweiz.