Als Kind wollte Scotty J. Williams so sein wie Bruder Tuck, der dicke Mönch aus dem Disney-Zeichentrickfilm Robin Hood. Tuck, der neben predigen auch ganz gut mit seinem Stock kämpfen kann. «Robin Hood war mir irgendwie fremd, da fehlten mir die Vorbilder in der Realität», erinnert sich Williams. Anders bei Tuck: In der Nachbarschaft in Louisiana im Süden der Vereinigten Staaten, wo Scotty J. Williams seine Kindheit verbrachte, lebten einige Pastoren. «Die sah ich immer und wusste: Ein Geistlicher wie Tuck, das kann man also werden.»
Trotzdem musste er sich noch eine Weile gedulden, bis er in seinem Leben auf ein solches Vorbild stiess: «Die Pastoren in meiner afroamerikanischen und kreolisch geprägten Heimat waren alle ein bisschen abgehoben.» Tuck sei das Gegenteil. Einer, der auch mal mit den Leuten zusammen ein Bier trinkt. Erst im Teenageralter habe er so einen Pastor gefunden. «Er war nicht nur am Wochenende in der Kirche für uns da, sondern half uns auch bei Alltagsproblemen. Und er inspirierte mich, tatsächlich selber Theologie zu studieren.»
Williams besuchte ein evangelisches College, das calvinistisch ausgerichtet war. Später wurde er bei den amerikanischen Presbyterianern, einer reformierten Kirche mit schottischen Wurzeln, ordiniert.
Seit gut zwölf Jahren ist Williams nun schon als Pfarrer tätig und hat dabei auch einige Irrwege hinter sich.
«Jesus liebt alle Menschen, egal, welche sexuelle Orientierung sie haben.» Scotty J. Williams, Pfarrer
«Am Anfang wollte ich ‹hip›, ‹cool› und ‹modern› sein und mich in einer populären ‹Mega-Church› einbringen», sagt der 33jährige.
Williams nennt diese Art von Kirche heute «McChurch». Sie sei ein Business-Modell, bei dem es nur um das Feiern geht. «Celebrations sind ja schon schön. Aber es gibt auch Menschen, denen am Sonntag nicht nach Feiern zumute ist. Die gerade jemanden verloren haben oder in einer Depression stecken.» Für die müsse die Kirche auch da sein. «Leid gehört zum Leben dazu. Wenn Kirchen das ausblenden, machen sie Menschen falsche Hoffnungen.» Eines Tages habe ihm ein Freund gesagt, dass die «Mega-Church» gar nicht zu ihm passe. «Er hatte recht. Diese Show-Gottesdienste, die Marketing-Maschine, das war nicht ich. Ich liebe die Tradition, die Liturgie, den kleinen Rahmen. Ich stehe lieber im Talar vor den Gläubigen als in Jeans und T-Shirt.» Williams verliess deshalb die Show-Kirche und ging für acht Jahre zur Morrison Baptist Church in Minneapolis, einer kleinen Gemeinde mit Wurzeln in Schweden.
Die Liebe führte den Pfarrer schliesslich in die Schweiz. Williams lernte eine Schweizerin kennen, die er heiratete und mit der er vor sechs Jahren in den Kanton Aargau zog. Nach einer ersten Pfarrstelle an der International Protestant Church in Zürich, wo er englischsprechende Arbeitskräfte, sogenannte Expats, betreute, leitet Williams nun seit Ostern die neu gegründete und von der reformierten Kirche des Kantons St. Gallen finanzierte All Souls Protestant Church (siehe Kasten). Auch hier kümmert sich Williams um Gläubige, die aus dem Ausland in die Schweiz gekommen sind.
«Zuerst wollte ich die Kirche ‹All Saints› nennen», erzählt Williams. «Aber meine Frau meinte, dass ja nicht jeder ein Heiliger ist, sehr wohl aber eine Seele habe. Sie hatte recht.» Jeden zweiten Sonntag gestaltet Williams einen Gottesdienst in der evangelisch-reformierten Kirche in der Stadt St. Gallen. Bis jetzt finden rund dreissig Gläubige aus Europa, den USA, Afrika oder Asien, die hier leben und arbeiten, in den Gottesdienst. Auch Flüchtlinge gehören dazu. «Zu uns kommen Menschen aus verschiedenen Glaubensrichtungen: Reformierte, Lutheraner, Baptisten, Anglikaner, Pentecostals, Methodisten, aber auch Katholiken», sagt Williams. Die Liturgie sei evangelisch-lutherisch und evangelisch-reformiert. «Das passt für diesen Mix ganz gut.» Mittwochs findet jeweils zusätzlich und alternierend ein «Evensong», ein Abendgebet, oder eine Bibelstunde statt. An diesen Abenden seien die Gespräche auch ganz weltlicher Natur: Wie man sich in der Schweiz möglichst gut integrieren könne, diese Frage sei ein Dauerbrenner, sagt Williams.
«Ich will den Menschen geben, was sie brauchen. Und das ist Liturgie, Gemeinschaft, Sakramente und Ruhe.» Scotty J. Williams, Pfarrer
In den Gottesdiensten versuche er akute Anliegen und Ereignisse wie jetzt gerade das Massaker von Orlando aufzunehmen, bei dem ein Mann 49 Menschen in einem Nachtclub für Schwule tötete.
«Gott hat diese Menschen nicht für ihre sexuelle Ausrichtung bestraft, wie nun manche konservative Pfarrer behaupten. Jesus liebt alle Menschen, egal, welche sexuelle Orientierung sie haben», sagt Williams. Die Antwort zeigt, wo Williams gesellschaftspolitisch steht. Er glaube weder dass Homosexualität eine Sünde ist, noch dass man Homosexuelle «heilen» müsse. Deshalb wurde auch in der Kollekte für die Opfer gesammelt. «Ich komme aus dem ‹Confessional Movement›. Die Liebe und das Evangelium Jesu sind die Basis für mein Denken und Handeln.» Auch in Beziehungen zwischen Mann und Frau müsse diese Liebe zentral sein. Deshalb rate er Paaren, mit Sex bis zur Heirat zu warten. «Ich verurteile Sex vor der Heirat nicht. Ich rate jedoch davon ab. Zuerst muss das Fundament stimmen. Am Ende müssen die Paare aber natürlich selber entscheiden.» Für solche Gespräche nehme er sich jeweils viel Zeit.
Williams bezeichnet seine bevorzugte Art von Kirche als «Slow Church». Eine wichtige Rolle dabei spiele, nicht gleich jedem kurzfristigen Trend nachzurennen. «Viele Kirchen behandeln die Gläubigen mittlerweile wie Kunden. Sie bieten ihnen an, was sie anscheinend wollen: schnelle Lösungen, sofortige Zufriedenheit, Probleme vergessen. Ich will ihnen aber geben, was sie brauchen. Und das ist Liturgie, Gemeinschaft, Sakramente und Ruhe.»
Williams, der seine Dissertation über seinen Lieblingsreformator Huldrych Zwingli schrieb, versucht die Menschen nicht nur über Worte, sondern auch über die Musik zu erreichen. Das unterscheide die All Souls Protestant Church von vielen anderen reformierten Kirchen in der Schweiz. Dort spiele in der Regel nur ein Organist. Bei der All Souls Protestant Church beginnt und endet der Gottesdienst zwar auch mit der Orgel. Hinzu kommen aber noch ein Gitarrist, ein Percussionist, eine Pianistin und eine Kantorin. «Wir wollen einen warmen Sound haben. Dabei ist der Inhalt genauso wichtig wie der Stil.»
Drei Jahre hat Williams nun Zeit, die All Souls Protestant Church in St. Gallen aufzubauen. So lange ist die Finanzierung gesichert. Wie es danach weitergeht, ist noch offen. «Ich will jetzt ein gutes Fundament legen, damit später einmal ein anderer Pfarrer eine gesunde Community übernehmen kann», sagt Williams.
Die All Souls Protestant Church in St.Gallen ist ein Projekt der reformierten Kirche des Kantons St.Gallen. Auf dem Papier existiert die englischsprachige Kirche bereits seit Jahren. «Eine Untersuchung zeigte, dass in der Ostschweiz unter den ausländischen Arbeitskräften, den sogenannten Expats, aber auch bei weiteren Kreisen das Bedürfnis nach einer englischsprechenden Kirchgemeinde da ist», sagt der für das Projekt verantwortliche Kirchenrat Heinz Fäh. Allerdings hätte bisher eine geeignete Person gefehlt, die gut vernetzt sei und eine Gemeinschaft aufbauen könne. «In Pfarrer Scotty J. Williams sind wir nun fündig geworden. Er hat Wurzeln in der presbyterianischen Kirche, die der reformierten Kirche theologisch nahesteht. Und noch wichtiger: Scotty ist mit viel Herzblut dabei», sagt Fäh. Williams werde bei seiner Arbeit eng vom Kirchenrat begleitet. Dazu wurde auch eigens ein «Ältestenrat» gegründet, eine Art Beirat der neuen Gemeinde. In diesem sind auch Mitglieder der Stadtkirchgemeinden St.Gallen sowie der Seelsorger der Universität St.Gallen vertreten, sagt Fäh: «Damit wollen wir zeigen, dass die All Souls Protestant Church eine Ergänzung und keine Konkurrenz zu bestehenden Kirchgemeinden ist.» In der dreijährigen Projektphase trägt die Kantonalkirche die vollen Kosten des Projekts, was sowohl das Pfarrsalär als auch die operativen Kosten umfasst. «Nach drei Jahren wird eine neue Finanzierungsstruktur zu finden sein.» Wie diese künftig aussehen wird, habe mit der Akzeptanz und dem Erfolg im Grossraum St.Gallen zu tun. «Das Projekt wird dann als erfolgreich beurteilt, wenn sich im Lauf der kommenden drei Jahre eine stabile Gruppe von Menschen bildet, die ihre spirituelle Heimat in dieser Gemeinde findet», sagt Fäh. Zudem müsse das Angebot bei den evangelischen Kirchgemeinden der Stadt St.Gallen gut etabliert sein. bat