Er weiss, was Journalisten wollen – und dass sie es immer ein bisschen zu eilig haben. Seit Jahren steht Dieter Puhl stets bereit, wenn eine Redaktion noch schnell ein Foto oder ein Interview braucht. Deswegen dauert es nicht lange, bis er zurückruft, nachdem man ihn um ein Treffen gebeten hat. Doch dieses Mal zögert Puhl. Er wisse nicht, ob er da der Richtige sei. «Ich habe bei dem Thema Angst, etwas Doofes zu sagen.» Das Thema, über das man mit ihm reden will: sein Glaube.
Dieter Puhl ist einer der bekanntesten Berliner. Zehn Jahre lang, bis Ende Dezember, leitete er am Zoologischen Garten die Bahnhofsmission. Es ist die grösste Deutschlands; täglich kommen Hunderte hierher, für ein Essen oder eine saubere Unterhose. Auch Journalisten kommen oft hierher, auf der Suche nach Geschichten – Dieter Puhl erzählte sie. Er wurde zum Gesicht der Einrichtung, zum Sprecher der Obdachlosen; zum «Berliner des Jahres» und «Mr. Obdachlos», so stand es in lokalen Zeitungen. Nie scheute Dieter Puhl die Öffentlichkeit. Wird es auch weiter nicht tun: Seit Januar ist er Leiter des neu geschaffenen Arbeitsbereichs bei der Berliner Stadtmission «Christliche und gesellschaftliche Verantwortung», in der er so etwas wie ein Lobbyist für die Armen werden soll.
Warum zögert Dieter Puhl also beim Thema Glauben?
Es ist ein Sonntag Mitte Januar, zwei Tage nach der offiziellen Bekanntgabe seines Abschieds als Leiter der Bahnhofsmission. Die Freimaurer haben zum Neujahrsempfang eingeladen. Hundertfünfzig Gäste, Klavierspielerin, Opernsängerin, Reden. Dieter Puhl ist hier, um eine Spende für die Bahnhofsmission entgegenzunehmen. Als er vorn steht, neben Vertretern anderer Organisationen, die ebenfalls einen Check erhalten, wird klar, warum ihn die Zeitungen so gern ablichten.
Die anderen tragen vor allem Schwarz, Anzug, bewusst chic. Puhl, 61, trägt Jeans, Jeansjacke, Mütze, alles in Beige, die Hände in der Hosentasche, den Blick oft nach unten, ein schelmisch-schüchternes Grinsen auf dem Gesicht. Am Ende schütteln viele Freimaurer Puhls Hand, loben seine Arbeit und beteuern, wie schade sein Weggang sei.
Bevor man Dieter Puhl trifft, sendet er einem bereits bei Facebook eine Freundschaftsanfrage, drei Minuten nach Annahme den ersten wohlwollenden Kommentar. Im Gespräch gibt er sich, als sei man auf dem besten Weg, beste Freunde zu werden. Das mag einigen zu viel sein, aber genau mit dieser Methode hat er in den vergangenen Jahren ein breites Netz an Förderern für die Bahnhofsmission aufgebaut. Auf der Liste stehen Frank Walter Steinmeier, Joachim Gauck, der ehemaligen Deutsche-Bahn-Chef Rüdiger Grube.
Manchen Kollegen machte Dieter Puhl in der Bahnhofsmission zu viel Trubel, zu wenig Sozialarbeit. Aber selbst die sagen: Ohne seine Öffentlichkeitsarbeit wäre die Einrichtung am Zoo nicht da, wo sie heute ist. Sie hat heute mehr Geld, mehr Personal, mehr Ansehen als vor zehn Jahren. Als er an der Bahnhofsmission anfing, arbeiteten dort 8 Sozialarbeiter und 60 Ehrenamtliche. Er hatte die Vorgabe, am besten noch welche zu entlassen. Heute sind es 24 Festangestellte und 210 Ehrenamtliche.
Abgefaulte Glieder
Trotzdem bleibt Berlin in Sachen Obdachlosigkeit ein Brennpunkt. Niemand weiss genau, wie viele Menschen in der Dreieinhalb-Millionen-Stadt auf der Strasse leben; die Sozialverbände gehen von Tausenden aus. Puhl schätzt, dass es zwischen 4000 und 6000 Menschen sind, Tendenz steigend. Bis zu 700 davon kommen täglich in die Bahnhofsmission. Er sieht jeden Tag Dutzende von ihnen, neue Gesichter, bekanntes Leid; schüttelt Hände, unterhält sich, spricht Mut zu. Sieht seit zehn Jahren, dass vieles eben nicht gut läuft auf der Welt – und sagt trotzdem, sein Glaube sei in den letzten zehn Jahren stärker geworden. Da fragt man sich natürlich schon, wie das eigentlich zusammenpasst.
Wenn Dieter Puhl von seinem Glauben erzählt, dann durchaus klar und doch so nebenbei, dass er damit keinem Atheisten auf die Nerven geht. Gerade in Berlin, wo nur noch jeder vierte Einwohner Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft ist, kann diese Eigenschaft hilfreich sein.
Beim Treffen in der Bahnhofsmission zeigt er das Hygienezentrum mit Duschen und Toiletten; die Kantine, in der es an diesem Tag Leberkäse mit Sauerkraut gibt. An den Wänden der Bürogänge hängen die Fotos der Verstorbenen. Er erzählt von ihnen, von Siggi, Kathi, Janne; beschreibt deren «abgefaulte Füsse», benutzt bewusst derbe Wörter, weil er wohl schocken will, um aufzurütteln. Er geht durch den Anbau des Gebäudes, in dem neue Räume für die Bahnhofsmission entstehen sollen. Vieles ist noch unaufgebaut, aber an der Wand hängt ein Kreuz. Eine Kapelle soll hier entstehen. Als er das erste Mal hier reinkam, sagt Dieter Puhl, sei das gleich seine Vision gewesen.
Er schaut aufs Kreuz, und auf einmal: «Glück können Sie übersetzen mit Segnung.» In einem Moment von abgefaulten Körperteilen reden und im nächsten von Segen – wie kann das sein?
Religionskritik versus Glaube
Es ist gar nicht lange her, da hätte Dieter Puhl so etwas noch nicht gesagt. Zwar ist er in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen, in einer Gemeinde bei Kiel – die Mutter evangelisch, der Vater katholisch, beide keine Kirchgänger, aber doch so selbstverständlich gläubig, dass Dieter Puhl Gott nie anzweifelte. Nach der Schule dann, mit 17, ging er sogar nach Berlin, um Diakon zu werden.
Aber ausgerechnet in der Ausbildung verlor er, so sagt er das, den Glauben. Er kann sich nicht mehr genau daran erinnern, wie es kam. Sie haben sich in der Ausbildung auch viel mit Religionskritik beschäftigt, da setzte sich, glaubt er, wohl etwas fest. Und irgendwann habe er es einfach nicht mehr geglaubt: «Bei unserer Einsegnung war ich der einzige Atheist.» Er blieb es zwanzig Jahre, sagt er, zumindest habe er sich selbst so gesehen.
Wenn man ihm zuhört, fragt man sich, ob das stimmt. Oder ob da nicht immer dieses kleine Wissen um eine Allgegenwart Gottes in seinem Herzen war. Er sie nur eine Weile ignorierte.
Es ist Abend geworden. Dieter Puhl sitzt in einem seiner Lieblingscafés, in seinem Kiez in Charlottenburg. Nun tut er es doch, sich den Fragen über seinen Glauben zu stellen. Nach den Gründen gefragt, warum er vom Atheisten wieder zum Gläubigen wurde, erzählt er von einer Entscheidung vor etwa fünfzehn Jahren: Da liess er auf seine Visitenkarte neben «Sozialarbeiter» das Wort «Diakon» schreiben.
«Das war eine Versöhnung mit meiner Biografie», sagt er. Wieder hakt man nach, fragt nach den konkreten Momenten, Anlässen, Gedanken, die zu dieser Entscheidung führten und die dafür sorgten, dass er seinen Glauben zuerst verlieren und dann wiederfinden konnte. Dieter Puhl verweigert sich auch jetzt einer finalen Antwort und dem einen Klick-Moment. Lieber erzählt er Geschichten. Er ordnet sie nicht zeitlich, einige sind nicht lange her, andere aus der atheistischen Phase. Manchmal passen sie zur Frage, manchmal geht es gerade um etwas anders.
Da ist die von seinem Vater, den er am Sterbebett begleiten konnte. Von seiner Tochter, die als Kind an Leukämie erkrankte und heute selbst Mutter ist. Oder die Geschichte von dem Gefühl, das er hat, wenn er morgens auf seinen Balkon geht, zwei Zigaretten raucht, einen Kaffee trinkt und daran denkt, was er alles hat. Das Schönste an seinem Glauben sei das Wissen um die Zugehörigkeit, sagt er, und der Glaube die grösste Konstante seines Lebens.
Seit drei Jahren macht er ihn auch öffentlich. Schreibt auf Facebook darüber und wünscht dort «guten, tragenden Rückenwind». Lässt Journalisten wissen, dass Jesus ihm Kraft gebe und dass seine Oma ihm als kleinem Jungen aus der Bibel vorgelesen habe. Er hat ein Buch geschrieben, Glück und Leid am Bahnhof Zoo, in dem er Jesus das erste Mal auf der zweiten Seite erwähnt und ihn seinen Coach nennt.
Wieso hat er so lange nicht darüber gesprochen? «Ich hatte Angst, dass ich so etwas wie Gotteslästerung betreibe», sagt er. Angst, Worte und Erklärungen zu benutzen, die Gott nicht gerecht werden.
Die Angst hat ihn nie ganz verlassen, weshalb er bei diesem Treffen zögerte: «Ich lebe meinen Glauben in einer bewusst gewählten Naivität, nicht gross intellektuell.» Was er damit meint: Er geht nicht in die Kirche, liest nicht in der Bibel, hat kein Kreuz zuhause. Puhl hält seinen Glauben nicht für grossartig theologisch versiert, daher rührt seine Angst, etwas Dummes zu sagen.
Obwohl man auch sagen könnte: Er hat ihn eben nicht gelesen, er hat ihn erfahren.
Rückblickend sagt er über die Entscheidung, trotzdem öffentlich darüber reden zu wollen: «Ich war irgendwann so voll von Gott, und dann die Klappe zu halten, das habe ich irgendwann nicht mehr geschafft.» Wenn man ihn nach seinem Glauben fragt, zitiert er nicht aus der Bibel, sondern beginnt aus seinem Leben zu erzählen. Und tat das immer mehr, weil er merkte, das verstehen die Leute. Er sagt, das öffne «ihr Herz».
Glücksgriff Puhl
Es gibt eine Geschichte, die er an diesem Tag gleich zweimal erzählt. Sie handelt von einem der Ärzte, die seine kranke Tochter auf der Kinderkrebsstation betreut haben. Dieser Arzt habe drei Tage und drei Nächte durchgearbeitet, und als er ihn fragte, warum er dies tue, war seine Antwort: Herr Puhl, das ist so schwierig. Ich habe vier gesunde Kinder zuhause, ich halte das Glück nicht aus. – Das ist es wohl: die Antwort auf die Frage, warum der Glaube von Dieter Puhl sogar stärker geworden ist, je mehr Leid er sah: Dankbarkeit.
Ist er auf christlicher Mission? Dieter Puhl verneint. Er freue sich aber drüber, wenn trotzdem «etwas rüberspringt». Wenn Dieter Puhl von seinem Glauben erzählt, dann durchaus klar und doch so nebenbei, dass er damit keinem Atheisten auf die Nerven geht. Gerade in Berlin, wo nur noch jeder vierte Einwohner Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft ist, kann diese Eigenschaft hilfreich sein. Vielleicht ist er deshalb für die Kirche ein Glücksgriff.
Wer Dieter Puhl eine Weile zuhört, bekommt nicht das Gefühl, dass sein Glaube ein Weg war, wie das viele andere immer sagen. Dass also nicht eines nach dem anderen geschieht, bis man irgendwann bei Gott landet. Dieter Puhls Glaube ist eher ein Meer, in das er mal tiefer, mal weniger tief eintaucht, sich umschaut und an dem erfreut, was er gerade sieht.
Valerie Schönian arbeitet als freie Autorin, u.a. für die ZEIT.
Der Fotograf Patrick Desbrosses lebt in Berlin.
Die Berliner Bahnhofsmission am Zoo zählt zu Europas grössten Einrichtungen dieser Art und hat das ganze Jahr hindurch, 24 Stunden am Tag, geöffnet. Durchschnittlich 600 Menschen suchen täglich die Institution auf, dabei sind 24 hauptamtliche und 210 ehrenamtliche Mitarbeiter im Einsatz. Im Winter gibt es 1200 Notübernachtungsplätze, im Sommer 300. Es stehen auch ein Hygienezentrum, in dem die Menschen duschen können, und eine medizinische Fusspflege zur Verfügung. Die evangelische Bahnhofs-mission am Zoo wird — wie alle 105 Bahnhofsmissionen in Deutschland — seit über hundert Jahren ökumenisch von der evangelischen und der katholischen Kirche getragen. Bekannt wurde der Bahnhof Berlin Zoologischer Garten auch durch das 1978 erschienene, biografische Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Darin werden das Leben der Heranwachsenden Christiane F. und die Situation drogenabhängiger Kinder und Jugendlicher rund um den Bahnhof geschildert. Damals galt der Ort als Treffpunkt der Westberliner Drogenszene. dem