Ich muss dreizehn gewesen sein, als mein Lehrer in der Französischstunde fragte, wer von uns regelmässig Briefe schreibe. Keiner meldete sich. Und wer würde gerne Briefe bekommen? Dora, eine Mitschülerin, streckte ihren Rücken beim Aufzeigen durch, um die Hände der anderen zu überragen. Ich war seit Wochen in Dora verliebt. Sie war gut in der Schule, ohne ständig zu lernen, war sportlich, blitzgescheit, beliebt und dennoch reserviert; sie war keine, die allen um den Hals fiel. Ich versuchte immer wieder, mit ihr zu plaudern, umarmte sie, wann immer es ging – und schrieb ihr kurz nach der Französischstunde meinen ersten Brief. Eine Antwort bekam ich nie.
Aus uns wurde nichts, doch die Liebe zum Briefeschreiben ist gewachsen. Jetzt bin ich zweiundzwanzig und schreibe immer noch, an Freunde und Bekannte – meist bekomme ich eine Antwort. Ich mag diesen niedergeschriebenen Gedankenaustausch, das Warten auf die Erwiderung, das Tagebuchschreiben mit Dialogpartner. Früher kannte ich kaum jemanden, der Briefe schrieb, doch jetzt, während der Pandemie, ändert sich das:
Auf Twitter posten Jugendliche, dass sie ihren Grosseltern schreiben, statt sie zu besuchen, kirchliche Einrichtungen veranstalten Briefschreibaktionen für Schulklassen an Altersheime, und mehrere Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder schreiben, um mit Schulfreunden in Kontakt zu bleiben. Alle schreiben sie jetzt. Ich fühle mich wie der langjährige Fan einer Indie-Band, die plötzlich ihren Durchbruch hat.
Ich bin mit dem Internet aufgewachsen, fand es unheimlich, aber auch faszinierend. Als Kind ging ich über den Computer ins Netz, googelte «Yeti», weil ich nicht glauben wollte, dass es die Gestalt wirklich gab, und tatsächlich: Ich fand Bilder.
Dann der Aufstieg des iPhones – das Internet war plötzlich immer dabei. SchülerVZ, Facebook, Instagram. Der Whatsapp-Messenger, chatten in Gruppen, oberflächliche Nachrichten, «Wie geht’s, was machst?» und oberflächliche Antworten, «Gut, nix, du?»
Mit dem Briefeschreiben wollte ich dem entgegenhalten. Auf echtem Papier, mit echten Stiften schreiben, Entwürfe machen, bis jedes Wort seine Berechtigung hat. Dann dreimal falten, rein in den Umschlag, Briefmarke drauf und zum Briefkasten gehen.
Ich erinnere mich nicht, was ich Dora geschrieben hatte. Es war kein Liebesbrief, dafür hat der Mut gefehlt. So wie immer, wenn es um Dora ging. Eigentlich war ich ein unerschrockenes Kind. Ich war Klassensprecher, wurde im Turnunterricht unter den ersten ins Team gewählt, konnte die anderen zum Lachen bringen oder sie trösten, wenn sie traurig waren. Ich ging gerne in die Schule, hatte viele Freunde und einen besten Freund, meinen Nachbarn Paul, mit dem ich Stunden auf der kleinen, unbefahrenen Strasse zwischen unseren Häusern verbrachte.
Wir spielten Fussball, drehten Kurzfilme mit einem alten Videorecorder, erfanden Geschichten oder spionierten unseren Nachbarn nach. Über Dora redeten wir nie – miteinander über unsere Gefühle zu sprechen, das war nicht unsere Art. Auch sonst erzählte ich niemandem, wie verliebt ich war, wie aufgeregt ich war, wenn ich mit Dora sprach, und wie sehr ich die anderen Burschen bewunderte, die in Doras Nähe so locker blieben, als wäre sie ein ganz normales Mädchen.
Durch das Briefeschreiben wollte auch ich mir diese Lockerheit holen. Ich könnte länger nachdenken, was ich Dora sagen will, dachte ich mir, und würde dabei auch nicht aufgeregt sein. Mein Ziel war, eine Brieffreundschaft zu beginnen, die schliesslich in einem Liebesbrief ihren Höhepunkt finden sollte.
Hätte ich den Brief damals nur kopiert oder mit Pauspapier gearbeitet – dann wüsste ich jetzt, was ich geschrieben hatte. Aber vielleicht ist es gut, dass ich es nicht getan habe. Briefeschreiben heisst ja auch: Ich schenke dir meine Gedanken. Ich löse mich ein Stück weit, du kannst damit tun, was du möchtest. Einmal hatte ich ein Gespräch mit einem Fotografen, der gemeint hat: «Sobald ich ein Foto ausstelle, gebe ich es auf. Es gehört dann nicht mehr nur mir, es ist frei.» Ein bisschen ist das auch mit Briefen so, denke ich jetzt.
Meine pathetische Überhöhung des kindlichen Liebesgekritzels zum frei gewordenen Kunstwerk währt nicht lange. Ich muss an damals denken, wie ich wochenlang auf eine Antwort gewartet habe, wie ich in den Briefkasten schaute, bevor meine Eltern die Zeitung holten, und Bankfach und Spind in der Schule durchsuchte. Warum sie nicht antwortete, traute ich mich nie zu fragen.
Die Sehnsucht nach dem Analogen
Seitdem sind fast zehn Jahre vergangen. Ich denke eigentlich nie an Dora. Doch ich kann mich noch hineinversetzen in mein dreizehnjähriges Ich, wie es sich im Bett krümmt vor Liebeskummer und sich wochenlang nur mit der Frage «Warum schreibt sie nicht zurück?» beschäftigt. Damals empfand ich es als Abweisung, aber vielleicht hatte sie sich gefreut und war nur unsicher, was sie zurückschreiben sollte? Stellvertretend für mein kleines Ich will ich sie fragen.
Dora studiert mittlerweile Medizin in Frankfurt, viel mehr weiss ich nicht. Ihre Nummer habe ich noch, ich könnte ihr einfach auf Whatsapp schreiben, hey Dora, sag, kannst du dich noch an den Brief erinnern, den ich dir vor acht Jahren geschrieben habe? Aber was, wenn sie sich nicht erinnern kann? Wenn sie ihn weggeschmissen hat, verbrannt?
Vielleicht hatte ich mir damals zu viele Gedanken gemacht – viele wichtige Briefe der Geschichte blieben unbeantwortet: Die Paulusbriefe waren gar nicht zur Beantwortung gedacht und trugen dennoch wesentlich zur Verbreitung des Christentums bei. Martin Luther hat nie eine Antwort bekommen, als er sich an Albrecht von Brandenburg wandte und sich gegen den Ablasshandel aussprach – und hat trotzdem die Reformation ausgelöst.
Luthers Brief ist im Schwedischen Reichsarchiv in Stockholm aufbewahrt – mein Brief an Dora vielleicht noch irgendwo in ihrem alten Kinderzimmer, in Umzugskartons oder auf dem Dachboden. Briefe haben Bestand – auch deshalb schreibe ich sie; niemand wird Whatsapp-Nachrichten in zehn Jahren auf dem Dachboden finden. Briefe, die mir geschrieben werden, bewahre ich in der obersten Schublade einer schweren Fichtenholzkommode auf.
Mit der kleinen Sammlung habe ich vor Jahren begonnen, als ich von Andy Warhols «time capsules» hörte, also kleinen Kartonkisten, in denen er alles aufbewahrte, was ihm in die Finger kam. Er sammelte Briefe, aber auch Eintrittskarten und gedruckte Magazine. Auch ich habe stapelweise Magazine zuhause, von denen ich mich nicht trennen kann. Wenn ein neues erscheint, muss ich es haben. Ich gebe so viel Geld für Printprodukte aus, dass es mir manchmal klüger erscheint, ich würde gleich den ganzen Kiosk kaufen. Die Sehnsucht nach dem Analogen.
Oben auf dem Stapel liegt die Ausgabe eines «Zeit»-Magazins aus dem Dezember, darin ein Interview mit dem Kurator und Kunstsammler Hans Ulrich Obrist. Morgens, sagt Obrist, schreibe er Briefe, jeden Tag. Er zitiert den britischen Anthropologen Tim Ingold: «Es gibt keine direktere, emotionalere und ehrlichere direkte schriftliche Form der Kommunikation.» Und später sagt er selbst: «Einen Brief zu schreiben hat ja auch oft mit Liebe zu tun – wir öffnen uns dabei.»
Ich krame in der Schublade und finde meinen Briefwechsel mit Laura, wir sind seit Jahren befreundet, haben viele Nächte betrunken nebeneinandergesessen, in Parks, an Stränden, mit einer Flasche Wein oder Whiskey, haben geredet, zusammenhanglos. In einem der Briefe schreibt mir Laura, für wie gefährlich sie es halte, Briefe zu schreiben: die Endgültigkeit des Gedachten, das jederzeit wiedergelesen werden kann. Was in einer betrunkenen Nacht gesagt wird, verblasst meist – der Brief bleibt.
In unserem Briefwechsel finden sich häufig zwei Worte: Zweifle nicht. Es war ihre Antwort auf meine Unsicherheiten, die ich ihr manchmal schilderte. Ich lese die Wörter mehrmals, dann greife ich zum Handy und will Dora schreiben, aber wie? Ich fühle mich wie das dreizehnjährige Kind, das von einem leeren weissen Blatt Briefpapier verschlungen wird.
Was, wenn ich damals einen Fehler gemacht hatte? Eine ironische Bemerkung, die falsch ankam? Einen Witz, der sie gekränkt hat, statt sie zu amüsieren? Und wieso finde ich jetzt die richtigen Worte nicht, obwohl die Sprache ja zu meinem Beruf geworden ist? Ich könnte meinen besten Freund von damals treffen, Paul. Wir könnten plaudern über die alten Tage, das Spielen auf der unbefahrenen Strasse, das Ausspionieren der Nachbarn; und irgendwann könnte ich Dora erwähnen, vielleicht war ihm damals ja was aufgefallen?
Es darf Zeit vergehen
Gerne hätte ich die Leichtigkeit von Ingeborg Bachmann, die Hans Magnus Enzensberger schreibt – einer der schönsten Briefwechsel, die ich je gelesen habe. Bachmann sagte einmal, sie habe nie Angst, wenn sie einen Brief von Enzensberger aufmache, derweil habe sie doch sonst immer Angst. Es ist ein Briefwechsel der vielfältigen Wahrheit des Lebendigen. Hätten sie bloss telefoniert, wäre derart Poetisches nicht entstanden – und wir, die Leser, könnten niemals daran teilhaben. Im Sommer 1965 schreibt Enzensberger an Bachmann :
liebe ingeborg
bist du noch da? bist in rom? gesund, viele bücher schreibend auf ein mal? liebes abenteuer bestehend?
Auch wenn ich das wunderschön finde, ich kann mir dabei nichts für Dora abschauen. Es wäre seltsam, würde ich schreiben:
liebe dora
bist du noch da? bist in frankfurt? gesund, viele medizinbücher studierend? liebes abenteuer bestehend? schön und lebendig?
Ich stosse in meiner Schublade auf die Briefe von einem pensionierten Professor, einem meiner regelmässigsten Briefpartner. Wir siezen uns, schreiben über Literatur, Geschichte und Alltäglichkeiten – manchmal auf Latein, das er fliessend sprechen kann und ich zumindest sinnergreifend lesen. Seine Wohnung ist eine Bibliothek, sein Kopf eine Zitatsammlung, seine Briefe schreibt er in der Handschrift eines alten Oberlehrers.
Erst vor kurzem hat er mich schriftlich gebeten, ich möge unseren Briefwechsel doch veröffentlichen, wenn er gestorben sei. Er schreibt das so: «… können Sie ja post mortem meam unseren Gedankenaustausch veröffentlichen, so Sie das je wollten.» Und selbst ein Gespräch mit ihm wirkt oft, als würde er aus einer Dichtung des 18. Jahrhunderts rezitieren.
«Wenn man einen Brief schreibt, ist das schönste, wenn es gelingt, nicht zu überlegen, wie die Antwort lauten könnte. Am besten, man vergisst den Brief, sobald man ihn abgeschickt hat, und lässt sich von der Antwort überraschen. Es darf Zeit vergehen, es muss nicht unmittelbar sein. Auf Whatsapp vergeht nie Zeit.» Gabriel Proedl
Briefe- und Postkartenschreiben ist für ihn nicht Nostalgie, sondern übliche Form der Kommunikation, oder wie er sagen würde: Usus. Er besitzt zwar ein Tastenhandy, aber keinen Computer. Die Inauguration von Joe Biden hat er über gedruckte Zeitungen verfolgt. Früher hätte Barack Obama Joe Biden wohl einen Brief geschrieben, um ihm zu gratulieren, jetzt macht er das auf Twitter: «Congratulations to my friend, @JoeBiden! This is your time.»
Mit digitalen Glückwünschen kann der Professor nichts anfangen. Er gratuliert per Postkarte, zum Beispiel mir zum Namenstag: «Ad diem onomasticum tuum cordialissime tibi gratulor!» Hätte ich ihn also gefragt, wie ich Dora anschreiben soll, hätte er vermutlich mit Goethe geantwortet: « Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst.»
Ich schreibe Dora auf Whatsapp: «Hey Dora, sag, hast du den Brief noch, den ich dir damals geschrieben hab?»
Wenn man einen Brief schreibt, ist das schönste, wenn es gelingt, nicht zu überlegen, wie die Antwort lauten könnte. Am besten, man vergisst den Brief, sobald man ihn abgeschickt hat, und lässt sich von der Antwort überraschen. Es darf Zeit vergehen, es muss nicht unmittelbar sein. Auf Whatsapp vergeht nie Zeit. Ich sehe, ob Dora online ist, ob sie meine Nachricht gelesen hat, ja ich sehe sogar, dass sie schreibt, noch bevor eine Antwort ankommt. Keine zehn Minuten später: Ja, sie hat den Brief noch.
Ob sie sich damals gefreut hat, weiss sie nicht. Auch nicht, warum sie nie geantwortet hatte. Es hat ihr weniger bedeutet als mir. Aber immerhin, sie hat ihn aufgehoben. Sie schickt mir ein Foto. Der Brief ist dreimal gefaltet und mit kleinen, kindlichen Buntstiftzeichnungen verziert: eine Blume, ein paar Bäume, ein Haus auf einem Hügel. Darin erzähle ich von meinen Weihnachtsferien, vom Skifahren, vom Schnee – ich kann mich wieder an all das erinnern. Es ist ein Streifzug durch meine Gedanken als Dreizehnjähriger, die sonst in der Alltäglichkeit des Jetzt verloren gegangen wären.
Eigentlich sollte ich das Foto ausdrucken, falten und in der Schublade der Fichtenholzkommode aufbewahren. Einige Zeit später telefonieren Dora und ich. Wir sprechen über die Kindheit in der Schule und über das Briefeschreiben an sich. Im Nachhinein findet sie es schade, dass sie nicht geantwortet hat. Sie erinnert sich gerne zurück. Ich erzähle ihr, dass ich jetzt mit meiner Freundin zusammengezogen bin. Beiläufig erwähne ich die Adresse.
Der freischaffende Reporter Gabriel Proedl schreibt u. a. für die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» und die «Zeit».