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Montag, 16. April 2018

Wer Reto Camenischs Atelier betreten will, muss zuerst an dem schwarzen Landrover in der Garage vorbei. Das Auto habe er sich vor wenigen Jahren angeschafft, sagt Camenisch. Früher habe er öfter den Zug benutzt, um in die Berge zu fahren. Heute würden die Leute in der Öffentlichkeit immer übergriffiger: «Es nervt mich, auf der ganzen Fahrt private Handygespräche mitzuhören.»

Aus dem Mund des Thuner Fotografen überrascht dieser Satz nicht. Seit Jahren geht Camenisch künstlerisch den Weg der Stille. Bekannt ist er für seine düsteren Landschaftsbilder, meist von Bergen, die er auf tage- und wochenlangen Märschen erkundet hat. Seine grossformatigen Schwarzweissfotografien vom Himalaja, dem Glarner Weissenberg oder vom Grimsel beeindrucken durch ihre existenzielle Wucht. Es sind Bilder, die von einer Zeit vor der Anwesenheit des Menschen sprechen, urtümliche Landschaften aus Stein, Himmel und Licht.

Als menschenscheuer Melancholiker wird Camenisch deshalb oft beschrieben. Er sei einer, der in der Abgeschiedenheit der Landschaft eine beinahe mystische Erfahrung suche, ist in Artikeln über ihn zu lesen. Fast schon legendär ist, dass Camenisch auf seinen Wanderungen nur alle paar Tage den Auslöser seiner Kamera betätigt. Ein Perfektionist, der auf das vollkommene Bild zu warten vermag. So lange, wie eben nötig.

Wer dem 60jährigen gegenübersitzt, spürt von dieser Distanz nicht viel. Ob es okay sei, wenn man sich duze, fragt Camenisch, während er Espresso serviert. Es ist später Vormittag, das Licht im Sitzungszimmer ist gedimmt, an der Wand hängen Kunstplakate, und in den Regalen sind dicke Fotobände aufgereiht. Mit dem Etikett des Melancholikers könne er umgehen, sagt er. «Die Schwere ist eine Konstante in meinem Leben. Ich habe aber auch sehr früh erfahren, dass sie mein Schaffen beflügeln kann.»

Dass Bilder etwas in ihm auslösen, merkte Camenisch schon als Kind. Als Zehnjähriger sah er erstmals Werke des Fotografen Robert Frank, der mit «The Americans», einer visuellen Studie der amerikanischen Gesellschaft, weltberühmt geworden war. «Ich war ergriffen von diesen Bildern, obwohl ich sie rational nicht verstand», sagt Camenisch. Wenige Jahre später habe er selbst mit dem Fotografieren begonnen – auch weil er ein 22 bref Nº6/2018 schlechter Schüler gewesen sei und im Unterricht oftmals wenig Sinnhaftes gesehen habe, wie er selber sagt. Als er später vor der Berufswahl stand, fiel ihm die Entscheidung leicht: Statt wie von der Familie vorgesehen Jus oder Volkswirtschaft zu studieren, wurde er Fotograf.

Am falschen Ort

Heute, vierzig Jahre später, sagt Camenisch noch immer: «Ich habe vor allem eine Liebesbeziehung zum Fotografieren.» Doch diese Liebe hatte ihren Preis. Die tiefen Furchen in seinem Gesicht zeugen davon. Zwanzig Jahre lang war Camenisch als Fotojournalist und Portraitfotograf für die grossen europäischen Medien unterwegs, reiste von Reportage zu Reportage, rund um den Globus. «Am Anfang war das noch ein geiles Gefühl, wenn ich sagen konnte: Du, ich bin morgen für ein Shooting in Hongkong. Irgendwann aber realisierte ich, wie oberflächlich mein Rumgehüpfe war», sagt er.

Das schnelle Picture-Taking entsprach immer weniger Camenischs Vorstellungen von Fotografie. Als er für das Magazin Facts in acht Tagen vier Reportagen liefern und dabei Tausende Kilometer durch die USA reisen musste, wurde ihm klar: So wollte er nicht weitermachen. «Was ich da ablieferte, war nur ein Bruchteil dessen, was es eigentlich zu erzählen gab», sagt er. Zu dem Stress kamen die ewigen Streitereien um Honorare und Bildrechte. «Irgendwann stand ich vor der Frage: Schimpfe ich weiter gegen das System, oder gestehe ich mir ehrlich ein, dass ich am falschen Ort gelandet bin?»

Er hat auch etwas Impulsives, dieser Mann, der da im abgedunkelten Sitzungszimmer sitzt und gestikuliert. «Ich kann auch mal heftig, ja aggressiv werden», sagt er. Vielleicht war es dieses Temperament, das ihn 2003 die Reissleine ziehen liess: Er warf den Job hin, ohne einen neuen in Aussicht zu haben. «Ich merkte nur, dass ich immer kränker wurde und Angst hatte, mich selbst zu verlieren.»

Nach dem Ausstieg implodierte Camenischs Leben. Der Arbeitslosigkeit folgten Schulden, Depressionen, die Scheidung. Gelegenheitsjobs als Carchauffeur hielten ihn finanziell kaum über Wasser. Sein einziger Halt waren seine Kinder. «Meine Verantwortung als Vater habe ich auch in dieser schwierigen Zeit wahrgenommen. Darauf bin ich stolz.»

Camenisch hat keinen verklärten Blick auf diese Jahre. «Im nachhinein tönt das immer so grossartig: Da wirft einer aus Haltung seinen Job hin und nimmt alle Konsequenzen auf sich.» In Wahrheit habe er keine Wahl gehabt. Alles in ihm habe sich gegen sein damaliges Leben gesträubt.

Nur alle paar Tage ein Bild

Was macht ein Fotograf ohne Job, ohne Geld und ohne Aufträge? Er fotografiert weiter. Klar war für Camenisch zu diesem Zeitpunkt nur eines: Die Geschichten, die er als Fotoreporter nur halb erzählen konnte, wollte er nun ganz erzählen. Auf der Suche nach neuen Motiven entdeckte er seine Faszination für die Berge. «Mein Vater verunglückte tödlich in den Bergen, als ich sechs war. Sie machten mir deshalb immer Angst.» Sich den eigenen Ängsten zu stellen gehört seither zu den Hauptmotiven von Camenischs Fotografie. Was er in einer Landschaft sehe, habe immer auch mit ihm zu tun, sagt er. «Mich interessiert die Erschütterung, die Berührungen, die ein Raum in mir auslöst.»

Die Fotografie, die er nun ausübte, hatte ein anderes Tempo. Oft entstand auf den tagelangen Bergtouren nur ein einziges Bild. 2009 begab sich Camenisch auf eine neunmonatige Reise durch Nepal, Tibet und Nordindien. Drei Monate davon war er zu Fuss unterwegs, immer die Grossbildkamera auf der Schulter. Ein strapaziöses Unterfangen, das ihn physisch an seine Grenzen brachte. Am Ende kehrte er mit nur 120 Bildern zurück. «Das war keine Strategie, es hat sich einfach so ergeben», sagt er.

Camenisch zögert, seine Wahrnehmung beim Fotografieren zu beschreiben. Es sei für ihn etwas sehr Persönliches, er habe Angst vor der Einmischung anderer. Schliesslich meint er schlicht: «Wenn ich merke, dass eine Landschaft etwas in mir auslöst, drücke ich ab. Das kann oft ein langer Prozess sein. Fotografiere ich dagegen Menschen, spüre ich sehr rasch, wie jemand drauf ist.» Camenisch erinnert sich an eine Episode aus seiner Kindheit. Mit seiner ältesten, geistig behinderten Schwester Carla sei er als Bub im Zirkus gewesen. Wahnsinnig stolz sei er gewesen, mit ihr in der ersten Reihe zu sitzen. Während der Vorstellung passierte es nun aber, dass seine Schwester immer dann vor Lachen schrie, wenn sonst niemand im Zirkus lachte. «Ich schämte mich zutiefst, weil alle zu uns schauten. Gleichzeitig fand ich es aber unglaublich spannend, wie meine Schwester offensichtlich anders wahrnahm.» Heute sagt Camenisch, er sei nicht zuletzt aus diesem Grund Fotograf geworden.

Seine grossen Fotoarbeiten seien zwar tatsächlich eher bittersüss, sagt Camenisch. Er habe aber auch viel Schelmisches in sich und könne sehr schadenfreudig sein. Etwas davon kommt in den kleinen Arbeiten, die er für das Magazin bref liefert, zum Vorschein. Seine Bildrubrik «Camenisch» setzt einen poetischen Akzent, nicht selten mit feiner Ironie. Es sind Momentaufnahmen, mit dem Handy geschossen und mit einem dreifränkigen Bildprogramm nachbearbeitet. «Ich glaube, dem guten Bild ist es egal, wie es technologisch hergestellt wird», sagt Camenisch. Zum Motiv wird ihm alles, was seine Neugier erweckt: eine Kirche in Saragossa, die Requisitenkammer des Opernhauses oder ein Fliegenpilz, den er in Bern entdeckte – ausgerechnet vor dem Haus eines Psychiaters, der alternative Medizin betreibt.

Heute ist Camenisch dankbar für den Weg, den er eingeschlagen hat. «Ich weiss, dass ich privilegiert bin», sagt er. Das Wunderbare an der Fotografie sei, dass er durch sie viel über sich selbst erfahren habe. Manchmal habe sie ihn auch gezwungen, sein Menschenbild anzupassen. Zum Beispiel damals, als er für ein Magazin einen Berner Politiker porträtieren sollte. «Der Mann war mein absolutes politisches Feindbild, ein Grüsel», erinnert sich Camenisch. Unterwegs zum Ort des Shootings seien sie an einer Weide mit Pferden vorbeigekommen. Da habe der andere plötzlich völlig entrückt gewirkt. Er habe ihn dann gefragt, was los sei, und da erzählte der ihm, dass die Pferde ihn an die wunderbare Zeit mit seinem Grossvater erinnerten. «Da musste ich mir sagen: Hoppla, Reto, auch ein Tubel ist nicht 24 Stunden am Tag ein Tubel.»

Camenisch, der Moralist

Dass Fotografieren mit der eigenen Persönlichkeit zu tun hat, will Camenisch als Dozent auch den Studenten der Journalistenschule MAZ vermitteln. «Als Fotograf kannst du dich nicht einfach rausnehmen, du trägst eine Verantwortung», sagt er. Für diese Überzeugung kann er lautstark einstehen. Als die Fotoagentur Magnum 2014 unzensierte Bilder von der Absturzstelle einer Boeing in der Ukraine publizierte, trat Camenisch in der Öffentlichkeit eine Debatte los. Ihn störte, dass Gesichter und Personen zu erkennen waren. «Wäre deine Tochter bei dem Absturz ums Leben gekommen, würdest du sie wirklich auf dem Cover der Schweizer Illustrierten sehen wollen?»

Drastische Worte fand Camenisch damals für die Bildindustrie. Das Empfinden der Betroffenen, der Angehörigen und Leser interessiere sie nicht im geringsten, sagte er. Das Credo der Medien, das Schreckliche in ebenso schrecklichen Bildern zu zeigen, kritisierte er als Doppelmoral: «Müssen wir wirklich in die Augen der Toten sehen, um zu begreifen, wie grausam es in der Welt zu- und hergeht?»

Er habe damals ziemlich aufs Dach gekriegt, sagt Camenisch: «Einige aus der Branche liefen nach meinen Äusserungen Amok.» Man habe ihm dann immer gleich die berühmte Aufnahme des Napalm-Mädchens entgegengehalten, die angeblich den Vietnamkrieg beendet hat. «Aber das war 1974. Heute haben Bilder einen anderen Stellenwert. Wir sehen sehr viel mehr in einer sehr viel kürzeren Zeit. Das stumpft ab.»

Es ist Nachmittag geworden in Reto Camenischs Atelier. Zizou, der schwarzweisse Mischlingshund mit den grossen Ohren, steckt den Kopf ins Zimmer. Zurzeit arbeitet Camenisch an einem Dokumentarfilm über einen Professor für Blues in South Carolina. Es habe ihn gereizt, einmal ein neues Medium auszuprobieren, sagt er. Den Film finanziert er aus eigenen Mitteln. Er ist es auch, der filmt, produziert und schneidet. «So ist es mir am liebsten. Ich lasse mir ungern dreinreden.»

Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.
Der Fotograf Bruno Augsburger lebt in Zürich.