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Autor: Daniel Etter
Freitag, 15. Mai 2020

An einem Donnerstagvormittag im vergangenen Juni steht Raed Saleh, Gastarbeiterkind mit palästinensischen Wurzeln und SPD-Politiker, am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg vor einer Lücke, die das Dritte Reich hinterliess. «Was seht ihr hier?» fragt Saleh Schüler, die sich mit ihrem Klassenlehrer das jüdische Berlin anschauen. Die Schüler, 13, 14 Jahre alt, blicken über ein Vorgartenarrangement – getrimmter Rasen, Rosen, die an einem Holzspalier in die Höhe ranken, eine Gartentischgarnitur unter einem Pavillon, in einer Ecke des Grundstücks steht eine Blechgarage. Sie scheinen sich nicht sicher, nach welcher Antwort Saleh sucht, dann beantwortet er seine Frage gleich selbst: «Hier stand einmal eine Synagoge», sagt er. «Und die wollen wir wiederaufbauen. In all ihrer Pracht.»

Die Frauenkirche in Dresden, das Berliner Stadtschloss oder die Neue Frankfurter Altstadt – in Deutschland mangelt es nicht an Gebäuden, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern lagen und nach den ursprünglichen Plänen in den letzten Jahren wieder errichtet wurden. Noch nie aber wurde eine der mehr als 2100 Synagogen, die fast alle nach der Machtergreifung Hitlers 1933 zerstört worden waren, wieder auf­gebaut. Die hundert jüdischen Gotteshäuser, die heute in Deutschland genutzt werden, sind entweder Neubauten oder dann aufwendige Restaurationen.

Geht es nach Raed Saleh, soll die Synagoge am Fraenkelufer, welche die Nationalsozialisten als erste Synagoge in der Novemberpogromnacht 1938 schändeten, von Grund auf originalgetreu wiederaufgebaut werden. Aber warum gerade Saleh mit seinem Hintergrund? Was bedeutet es, dass ein deutscher Muslim mit palästinensischen Wurzeln eine von den Nationalsozialisten zerstörte Synagoge wiederaufbauen will? Und warum ausgerechnet die Synagoge am Fraenkelufer?

Von Palästina nach Berlin-Schönefeld

Die Suche nach Antworten auf diese Fragen beginnt in den späten siebziger Jahren in Sebastia, einem Dorf im Westjordanland, damals nichts mehr als eine Strassenkreuzung mit ein paar flachen Häusern in hügligem Gelände. Hier verbrachte Saleh seine erste Lebensjahre. Er erinnert sich an die Pflaumenbäume, an die Olivenhaine und an den Geruch frischen Brotes, das die Dorfbewohner damals noch selber buken. Zu dieser Zeit war sein Vater bereits Gastarbeiter in einer Berliner Grossbäckerei. In Deutschland Geld verdienen und dann zurückkehren, das sei sein Plan gewesen, sagt Saleh. Es kam anders. 1982 traten die Mutter und sechs Kinder auf das Rollfeld in Berlin-Schönefeld. Saleh war da fünf Jahre alt. Drei weitere Geschwister sollten in Berlin geboren werden. Fortan lebte die wiedervereinte Familie in einer Vier-Zimmer-Wohnung im Berliner Bezirk Spandau, westdeutsche Version einer Plattenbausiedlung, 9. Etage mit Blick ins Grüne. Seine Mutter lebt heute noch dort. Der Vater starb 2002, gerade 66 war er da.

Vier Jahre vor dem Tod des Vaters wählte Deutschland Gerhard Schröder zum Kanzler. Für Salehs Integrations­geschichte war das ein entscheidendes Ereignis. Die CDU hatte kurz zuvor noch postuliert, Deutschland sei kein Einwanderungsland. In seiner ersten Regierungserklärung bezeichnete Schröder das als Realitätsverweigerung. «Wir haben die Menschen, die in den fünfziger Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heute sagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen und Mit­bürgern, dass sie keine Fremden sind», sagte der Kanzler. Saleh fühlte sich in Deutschland zum ersten Mal wirklich akzeptiert. In den nächsten Jahren stieg er, der schon nach dem Abitur in die SPD eingetreten war, in der Partei auf.

Die Frage, welche Rolle Salehs Herkunft beim Wiederaufbau der Synagoge spielt, beinhaltet auch ein Misstrauen gegenüber muslimischen Einwanderern.

Die Frage, welche Rolle Salehs Geburtsort und Religion für seinen Einsatz spielen, beinhaltet auch ein impliziertes Vorurteil, ein unterschwelliges Misstrauen gegenüber Einwanderern, gerade muslimischen. Denn das steht bei der derzeitigen Debatte um aufflammenden Antisemitismus in Deutschland immer öfter im Raum – heutiger Antisemitismus sei ein­geschleppt, eingeschleppt aus Ländern, in denen er in der Schule gelehrt wird, in denen er Staatsräson ist, eingeschleppt aus einer Weltregion, die ideologisch durch den Konflikt um Israel und Palästina geprägt ist.

Als hätte der Antisemitismus in Deutschland 1945 sein Ende gefunden und erst im Jahr 2015, mit der Ankunft von Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan eine traurige Renaissance erlebt. Wenn dieses unterschwellige Misstrauen also nicht da wäre, wie würde diese Geschichte aussehen? Vielleicht würde sie sich nicht auf Raed Saleh konzentrieren, auf seine Einwanderungsgeschichte, auf seinen mus­limischen Glauben. Vielleicht würde es dieses Projekt gar nicht geben.

Ein Freitagabend im Juni. Auf der kopfsteingepflasterten Strasse vor der Synagoge. Es ist die frühere Jugendsynagoge der damals zerstörten Synagoge am Fraenkelufer. Dass hier jüdisches Gemeindeleben stattfindet, darauf weist die Anwesenheit der Polizei hin. Sie hält Wache – so wie vor fast jeder jüdischen Schule, jeder jüdischen Kita, jeder Synagoge in Berlin. Der Gebetsraum ist mit Birkenzweigen und Hortensien geschmückt. Schawuot steht in zwei Tagen an, ein jüdisches Erntedankfest.

Vielleicht zwei Dutzend Betende folgen den Worten des Kantors. Sie sind nach Geschlechtern getrennt. Zwei Säuglinge krabbeln durch den zentralen Gang, glucksen und schreien manchmal auf. Eine davon, Ronja, ist die Tochter von Dekel und Nina Peretz. Die beiden engagieren sich ehrenamtlich, sitzen in einem Verein, der sich um die Belange der Synagoge kümmert, und in einem weiteren, der sich den Wiederaufbau zum Ziel gesetzt hat. Sie sind Salehs Ansprechpartner in der jüdischen Gemeinde.

Dekel Peretz wurde Ende der siebziger Jahre in Tel Aviv geboren. Als Erwachsener zog er nach Berlin, wo er Nina traf. Die beiden verliebten sich, Nina konvertierte, später heirateten sie. Heute sitzt sie als erste Frau überhaupt im Vorstand der Synagoge. Die Gemeinde bereitet sich in diesen Tagen auf die traditionelle Nacht des Lernens vor Schawuot vor. Jüdische Orte in der Umgebung werden ihre Tore öffnen. «Schlaflose Juden, die durch Kreuzberg ziehen», sagt Nina Peretz. Freunde haben sich angekündigt – lesbisch-schwul-bi-trans-queere und egalitär-orthodoxe Juden.

Ruine der von den Nationalsozialisten geschändeten Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg, 1958. Ein Jahr später wurden die Überreste gesprengt.

Hummus und Falafel – Juden und Muslime

Kaum hundert Meter östlich der Synagoge beginnt der Berliner Stadtteil Neukölln. Als Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, 2015 vor Problemvierteln warnte, in denen Juden keine Kippa tragen sollten, dann wird er damit wahrscheinlich auch Neukölln gemeint haben. Es gibt kaum einen Ort in Deutschland, der so arabisch, so muslimisch geprägt ist wie die Sonnenallee hier. Arabische Coiffeure, Restaurants, Hochzeitsausstatter, Reisebüros, Gemüseläden, Metzgereien, Shisha-Bars. Dazwischen halten sich noch Altberliner Kneipen, die schon um zehn am Morgen aufmachen, und inzwischen haben sich Hipster-Cafés reingentrifiziert. Hier im Restaurant Azzam trafen sich Saleh und das Ehepaar Peretz zum ersten Mal.

Es war eben das Jahr, in dem Schuster vor dem Kippatragen in Problembezirken warnte. Das Treffen fand im Schatten der daraus entstandenen Debatte statt. Es gab Hummus und Falafel, und man wollte einen symbolischen Gegenpunkt zu dieser Debatte setzen – Juden und Muslime können in Neukölln zusammenkommen, miteinander reden.

«Das war einfach Mensch zu Mensch», erinnert sich Nina Peretz. «Wie können wir euch unterstützen, was braucht ihr?» habe Saleh gefragt. Damals habe noch niemand an den Wiederaufbau der Synagoge gedacht, nur angesprochen, dass sie sich für ihre Gemeinde mehr Platz wünschten. Seit den fünfziger Jahren nutzt sie die ehemalige Jugendsynagoge für ihre Gottesdienste. Seit ein paar Jahren steigt die Zahl der Betenden, und an den grossen Festtagen finden sie kaum Platz auf den Bänken.

In Deutschland leben heute geschätzt 200 000 Juden, Tendenz sinkend. Berlin ist da eine Ausnahme. Hier wächst die Zahl der Juden. Inzwischen sollen es 30 000, vielleicht sogar 40 000 sein. Ein paar Alteingesessene gibt es noch, viele Zugezogene aus der ehemaligen Sowjetunion, und in den vergangenen Jahren haben sich auch zahlreiche junge Israeli in der Stadt nieder­gelassen, mal aus politischen, mal aus ökonomischen Gründen.

Saleh sagt, seine Idee zum Aufbau der Synagoge gehe auf dieses Treffen zurück. Im Jahr darauf, 2016, beim Fest zum hundertjährigen Bestehen der Synagoge, haben Nina und Dekel Peretz ihn wieder getroffen. Sie hatten Pläne für ihre Gemeinde, aber nicht den des Wiederaufbaus. «Wir hätten nicht gewagt, so gross zu denken», sagt Nina. «Wir dachten schon, dass wir gross denken», sagt Dekel. Sie wollten eine Kita, vielleicht eine grössere Küche.

Das Ehepaar Dekel und Nina Peretz mit Tochter Ronja im vergangenen Sommer in der ehemaligen Jugendsynagoge am Fraenkelufer.

Wieder ein Jahr später erhielt Nina Peretz einen Anruf von Salehs Büro: «Was haltet ihr davon, wenn die Synagoge wiederaufgebaut wird?» Ihre erste Reaktion war: So wie sie früher war, das brauchen wir nicht. Die zerstörte Synagoge hat 2000 Betenden Platz geboten. Viel zu gross für heutige Verhältnisse, selbst wenn die Gemeinde wächst. Trotzdem hat sich das Ehepaar für die Idee begeistert.

Nur in den Kreisen der jüdischen Gemeinde habe es Bedenken gegeben, dass ein Muslim den Wiederaufbau anstosse, erzählt Nina. Am Ende einigte man sich und gründete einen Verein und ein Kuratorium, das den Wiederaufbau überwachen soll. Geplant sind nun eine Kita und ein koscheres Café. Der Architekt will sich an dem klassizistischen Gebäude orientieren, das einst dort stand.

Auf Veranlassung von Saleh sind sieben Millionen Euro aus einem Entwicklungsfonds der Stadt bewilligt, um die Planungsphase des Wiederaufbaus der Synagoge zu finanzieren. Bereits gibt es eine erste Simulation, die Baukosten sollen teilweise aus Spenden getragen werden. Geht es nach Saleh, soll der Bau am 9. November 2023 beginnen.

Dekel Peretz promoviert und verdient nebenbei sein Geld damit, Touristen durch das jüdische Berlin zu führen. Die häufigste Frage, die er dabei hört: Wie ist das mit dem Antisemitismus in Deutschland? Für zugezogene Juden wie ihn ist die Frage des Ankommens eine andere als für ein Gastarbeiterkind wie Saleh. Pass, Karriere, Familie, die Aufgabe der Illusion der Rückkehr, all das ist gleich, aber die Frage nach der Verantwortung, die sich aus deutscher Geschichte ergibt, stellt sich für ihn nicht.

Dafür ist die jüdisch-deutsche Identität untrennbar mit dieser Geschichte verbunden, und man sieht sich ständig damit konfrontiert. Dekel Peretz sagt, dass es manchmal ermüdend sei, das ständige Reden über den Holocaust. Das Judentum in Deutschland habe auch eine Gegenwart, sagt er. Jüdische Orte zu schaffen bedeute auch, dass man Orte schafft, an denen die grossen Fragen schon beantwortet sind und man ein implizites, gegenseitiges Verständnis dafür hat. Trotzdem ist das Reden darüber notwendig. Nicht-Juden in Deutschland müssen sich dieses Verständnis erarbeiten – vor allem, wenn sie ihre Wurzeln in anderen Ländern haben.

Eine Synagoge, gebaut auf Verletzlichkeit

Vor ein paar Jahren hat Raed Saleh eine Gruppe von sogenannten Problemjugendlichen nach Auschwitz begleitet. Sein Bruder Mahdi ist Sozialpädagoge und organisiert diese Fahrten bis heute. «Es war bitterkalt», erinnert sich Raed Saleh. Die Jugendlichen hatten Wurzeln in Serbien, Albanien, Russland, Deutschland, dem Sudan, ein paar Araber waren darunter.

Und dort, im ehemaligen Konzentrationslager, kehrte plötzlich Ruhe unter den Jugendlichen ein: «Alles was vorher war, spielte keine Rolle mehr.» An einen von ihnen, Muhammed aus Libanon, kann er sich besonders gut erinnern. Als der die Koffer mit den Namen und den Ortsbezeichnungen sah und dann die ihm vertraute Ortsbezeichnung «Charlottenburg», sah blieb ihm die Sprache weg. «Hier kriegen die jungen Leute mit, dass diese Geschichte verdammt nochmal in diesem Land passiert ist. Sie ist echt.»

Saleh hat einen Plan, wie er Antisemitismus bei musli­mischen Jugendlichen begegnen will. «Du musst ihnen klar­machen, dass sie zu dem Land dazugehören, dass sie Teil dieser Kultur sind, dass sie Deutschland als ihre Heimat und nicht als ihr Gastland betrachten. Nur dann sind sie bereit, auch die Schattenseiten des Landes anzunehmen und zu sagen: Nie wieder Auschwitz!» Es klingt, als sei das für ihn selbst­verständlich und er müsse es nur deutlich genug sagen, damit jeder dem zustimmt. Dahinter steckt umgekehrt auch ein Anspruch: Wer in deutscher Gegenwart ankommen will, muss auch die Verantwortung deutscher Vergangenheit akzeptieren.

Natürlich, Saleh ist Politiker, er hat Ambitionen, er hat Gespür für Geschichten und Symbolik. 2014 hat er sich um das Amt des Bürgermeisters von Berlin bemüht, ist aber parteiintern gescheitert. Wenn die Synagoge einmal steht, wird er sie sicher als einen Teil seiner Geschichte, seines Ankommens in Deutschland verstanden wissen. Es ist eine Geschichte, die sich in der Öffentlichkeit, in den Medien besser erzählen lässt als etwa der erfolgte Rückkauf der Berliner Wasserwerke, für den er sich stark gemacht hat. Aber vermutlich täte man ihm unrecht, würde man dieses Projekt auf Salehs politische Ambitionen reduzieren. Dafür ist sein Engagement zu konstant.

Im Berliner Stadtteil Wilmersdorf entsteht gerade ein Neubau des Jüdischen Bildungszentrums Chabad. Es soll eine Kita geben, eine Schule, ein Kino, ein Tanz- und ein Musikstudio. Saleh trifft sich mit Yehudah Teichtal, dem Vorsitzenden des Bildungszentrums, um sich den Baufortschritt anzuschauen. Rabbi Teichtal fährt im Smart vor. Er spricht mit breitem amerikanischem Akzent und ist ansteckend gut gelaunt. «Die Idee ist: es wird so viel über Antisemitismusbekämpfung geredet, hier ist ein Ort, wo es wirklich passiert», sagt Teichtal.

Teichtal kam vor einiger Zeit zu Saleh, weil er einen Ansprechpartner in der Politik suchte. Inzwischen gibt es breite Unterstützung über Parteigrenzen hinweg. «Aber der Visionary ist Raed Saleh!» ruft Teichtal. Saleh hat insgesamt 12 Millionen Euro organisiert, teils durch die Lotto-Stiftung, teils über den Bund, teils Mittel der Stadt. «All die Sachen wären nicht da ohne Raed Saleh.

Und das sage ich nicht, weil du hier stehst», sagt Teichtal zu Saleh. «Seitdem ich Politik mache, unterstütze ich mein Bild von Berlin, und mein Bild von Berlin ist ein Berlin, wo man nicht gefragt wird, warum man einer Religion angehört. Aber wo man auch nicht gefragt wird, warum man keiner Religion angehört», sagt Saleh. «Die Fähigkeit ist es, uns so auszuhalten, wie wir sind.»

Vor fünfzehn Jahren hat Saleh zum ersten Mal einen Dialog der Religionen organisiert. Der Ost-West-Konflikt war vorbei und der 11. September hatte die ganze Welt in Unsicherheit versetzt. «Ich spürte, dass da was auf uns zukommt», sagt er. Plötzlich haben antimuslimische Übergriffe zugenommen, und zum ersten Mal wurde er mit seiner Identität als sunnitischer Muslim konfrontiert. «Plötzlich spielte es eine Rolle, ob jemand Sunnit oder Schiit war. Das kannte ich vorher nicht», erinnert er sich. Vielleicht erwuchs die Idee zur Synagoge aus dem Gefühl der eigenen Verletzlichkeit, aus der Erfahrung, wie schnell Gräben in einer Gesellschaft aufreissen können.

«Vielleicht würde ich mich, wenn ich kein Moslem wäre, sondern Michael Müller hiesse, für den Aufbau einer Moschee einsetzen.» Raed Saleh

«Würde ich mich dafür einsetzen, wenn ich keinen Migrationshintergund hätte?» fragt Saleh. «Ich weiss es nicht», sagt er selbst. «Vielleicht würde ich mich, wenn ich kein Moslem wäre, sondern Michael Müller hiesse, für den Aufbau einer Moschee einsetzen.»

Differenzieren kann nur, wer das Herz öffnet

Es gibt eine Parteikollegin von Saleh, die eine ähnliche Biografie hat wie er. Sawsan Chebli, Kind von palästinensischen Flüchtlingen, bis zum fünfzehnten Lebensjahr staatenlos, Muslima, inzwischen Staatsekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. Auch sie setzt sich seit Jahren gegen Antisemitismus ein. Sie war kürzlich mit einer Flüchtlingsklasse im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen, hat die Dialogreihe «Tu was gegen Antisemitismus!» ins Leben gerufen und trifft sich zur Diskussion mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano.

Chebli war einst Pressesprecherin des früheren Aussenministers Frank-Walter Steinmeier. In Deutschland ist sie ein bekannteres Gesicht als Saleh. Mit der Prominenz nahmen auch die Angriffe auf ihre Person zu. «Wie kann sich jemand, der palästinensische Wurzeln hat, für florierendes jüdisches Leben in Deutschland einsetzen?» sei die Frage, der sie oft ausgesetzt sei. «Es gibt ein ständiges Verdachtsmoment, dass man nicht seriös ist.»

Die Zweifel waren in der ersten Zeit ihres Engagements nicht in dem Masse zu spüren. Es fehle oft die Fähigkeit, ihren Hintergrund, den Schmerz, den der Konflikt zwischen Israel und Palästina mit sich bringe, von der Haltung gegenüber Juden zu unterscheiden. Differenzieren, sagt sie, «das können Menschen, die ihre Herzen öffnen». Wenn man mit ihr spricht, klingt sie pessimistisch. «Es sind leider nicht so viel Brückenbauer unterwegs.» Kann jemand, der palästinensische Wurzeln hat, diese Zweifel je ausräumen? Muss man dafür eine Synagoge bauen? «Es reicht gar nichts», sagt sie. «Das hält uns beide nicht davon ab, weiterzumachen.»

In Potsdam, knapp 30 Kilometer Luftlinie vom Fraenkelufer entfernt, baut man momentan den Turm der evangelischen Garnisonkirche wieder auf. Das Fundament steht. Fertigstellung soll in zwei Jahren sein. Der Wiederaufbau ist nicht ohne Kontroverse. Am 21. März 1933 gab es hier einen Staatsakt zur Wiedereröffnung das Reichstages nach den Wahlen, bei denen die Nationalsozialisten gewonnen hatten.

Es gibt ein Foto von diesem Tag, das Hitler bei der Verabschiedung mit tiefer Verbeugung vor dem 86jährigen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zeigt. 1945 traf ein britischer Luftangriff die Kirche, die Überreste riss die DDR-Führung 1966 ab. Wie wird man dieser Vergangenheit gerecht? Soll man die Kirche originalgetreu wiederaufbauen, wie es ein Verein wollte, der schon in den achtziger Jahren Geld dafür sammelte? Soll man so einen belasteten Ort überhaupt wiederaufbauen?

«Es gab mal eine romantische deutsche Vergangenheit», sagt Dekel Peretz über solche Wiederaufbauprojekte. Sie versuchten Deutschland in einer Kontinuität und Homogenität darzustellen, die es so nie gab. Die Synagoge sei in gewisser Weise ein Gegenentwurf dazu. «Ich verstehe dieses Projekt auch als geschichtspolitisches Projekt, das eine deutsche Vergangenheit in ihrer Pracht darstellen möchte, die multiethnisch war.»

Saleh sieht es pragmatischer. Er macht sich Sorgen, dass die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit schwindet, und will dagegen anbauen. In der Schule, als Saleh in der siebten Klasse war, habe ein Lehrer, ein alter Mann, diese Filme gezeigt – 16 Millimeter, eingespannt in einen Projektor, über die Nazizeit. «Irgendwann zeigt man diese Filme nicht mehr. Aber dann kann man die Synagoge zeigen. Hier, da steht sie.»

Warum also steht ein Muslim mit palästinensischen Wurzeln hinter dem ersten Wiederaufbau einer von den National­sozialisten zerstörten Synagoge? Vielleicht wegen seiner Biografie. Vielleicht weil er sich Sorgen macht. Vielleicht weil Saleh lange angekommen ist und mit ihm viele andere – und er das dieser Gesellschaft immer wieder versichern muss. Vielleicht. In Salehs Vision von einem Berlin, in dem religiöse Konflikte keine Rolle mehr spielen, wäre die Antwort darauf vermutlich eine Gegenfrage: Warum nicht? «Für uns ist das Radikalste an Raed, dass er Spandauer ist, und nicht, dass er in Palästina geboren ist», sagt Nina Peretz.

Lange werden die letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus, die letzten Überlebenden des Holocaust, nicht mehr bei uns sein. Vermutlich wäre diese Geschichte aus ihrer Sicht eine andere geworden. Nicht: Warum ein Deutscher Muslim mit palästinensischen Wurzeln? Sondern: Warum hat man in Deutschland so lange damit gewartet, eine Synagoge wiederaufzubauen?

Der Fotograf und Journalist Daniel Etter lebt in Berlin. 2016 hat er den Pulitzerpreis erhalten.

Verein für den Wiederaufbau der Synagoge am Fraenkelufer: aufbruch-am-ufer.berlin