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Autorin: Susann Sitzler
Freitag, 03. November 2017

Rund um die Eidgenossenschaft lodert der Erste Weltkrieg. Die Schweizer Männer stehen im Aktivdienst an der Grenze, und unter General Wille wird die Armee in deutschfreundlicher Zackigkeit gestrafft. Doch einer will dabei nicht mitmachen: Der 24jährige Offizier Max Kleiber, im zivilen Leben Student der Agronomie an der ETH, verweigert den Dienst – als Christ, Sozialist und Schweizer, wie er erklärt.

Ein Militärgericht verurteilt ihn daraufhin zu vier Monaten Gefängnis, die Hochschule schliesst ihn für ein Jahr vom Studium aus. Die Kommilitonen protestieren. Und die reformierte Kirchgemeinde in Zürich Wipkingen beschliesst, am Nationalfeiertag 1917 aus Solidarität mit Max Kleiber das traditionelle Läuten der Kirchenglocken auszusetzen.

Das Ereignis ist als Wipkinger Glockenstreik in die Geschichte eingegangen und vielfach diskutiert worden. Seltsam wenig ist dagegen von dem Studenten die Rede, dem es durch seinen Gewissensentscheid gelang, die Kirche zu einer politischen Stellungnahme zu bewegen. Das mag daran liegen, dass Kleiber kein bequemer Charakter war, sondern ein kompromissloser Argumentierer, manchmal wahrscheinlich eine Nervensäge. Von sich und anderen erwartete er die strikte Übereinstimmung von Wort und Tat.

Der Traum von einer demokratischen Armee

Kleiber, Sohn eines Chemikers, war ein rebellischer Geist. Er verehrte Friedrich von Schiller und demonstrierte als Jugendlicher seine Abneigung gegen das Bürgertum mit einer verwegenen Aufmachung aus Sandalen, Schlapphut und Schillerkragen. Doch in seinen jungen Jahren war ihm das noch nicht konsequent genug: «Ich sagte mir: Da ich die Gesellschaft hasse, sollte ich mich von ihr ganz unabhängig machen», schrieb er später in einer biografischen Skizze.

Und so unterbrach Kleiber mit 21 Jahren sein Studium, um sich mit zwei Freunden in der kanadischen Wildnis durchzuschlagen. Er arbeitete als Farmhelfer in der Provinz Alberta und baute sich von dem Geld eine eigene Blockhütte. Dann hörte er vom Kriegsausbruch in Europa. Als «inbrünstiger Patriot», wie er sich trotz seinem selbstgewählten Rückzug bezeichnete, war er bereit, sich «im Dienst einer menschlichen Gesellschaft nützlich zu machen». Er wollte sein Land und dessen Neutralität verteidigen.

Mit finanzieller Unterstützung der Familie, für die er gerade arbeitete, reiste er im September 1914 zurück in die Schweiz, um den Aktivdienst anzutreten. Doch seine Vorstellungen von der Armee erwiesen sich rasch als idealistisch überhöht: Mitreden konnte er dort als einfacher Soldat nicht. Stattdessen stiess er auf einen «undemokratischen Militarismus», von dem er annahm, dass er von den Berufsoffizieren aus Preussen importiert worden war.

«Militärische Übung bedeutet Übung in bedingungslosem Gehorsam, anstatt im Befolgen eigener Überzeugungen und dem Handeln nach eigenem Gewissen.» Max Kleiber

Um das System von innen zu beeinflussen, diente er sich bis zum Artillerieleutnant hinauf. Die Zweifel wuchsen weiter. Als ein ranghöherer Offizier ihn aufforderte, sich mit ihm bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, weigerte er sich – und wurde dafür gerügt. «Es war ein läppischer Zwischenfall», hielt er fest. «Doch er ist ein gutes Beispiel für ein ernsthaftes Problem. Wenn militärische Disziplin in einer so unwichtigen Angelegenheit ausser Kraft gesetzt werden kann, besteht die Gefahr, dass sie auch in einer ernsten Lage aufgehoben wird.»

Für Max Kleiber kam es auch in Nebensächlichkeiten nicht in Frage, fünf gerade sein zu lassen. Weil fünf eben nicht gerade ist. Er begann zu erkennen, «dass eine demokratische Armee eine Unmöglichkeit bedeutet. Militärische Übung bedeutet Übung in Kriegsführung, Übung in unmenschlichem Töten, in Täuschung. Und damit in bedingungslosem Gehorsam, anstatt im Befolgen eigener Überzeugungen und dem Handeln nach eigenem Gewissen.» Kleiber schloss sich der religiös-sozialistischen Bewegung um den Bündner Theologen und Pazifisten Leonhard Ragaz an. Dieser war unter anderem an der Vorbereitung der sogenannten Zimmerwalder Konferenz beteiligt, an der die Spaltung der Arbeiterbewegung in revolutionäre Kommunisten und reformorientierte Sozialdemokraten ihren Anfang nahm. 1917 hatte Kleiber schliesslich keine Zweifel mehr. Zum nächsten Aktivdienst rückte er nicht ein.

Zunehmende Einschränkungen

In der Arbeiterschaft begann zu dieser Zeit das zu gären, was im November 1918 zum Landesstreik führte. Während bürgerliche Kreise – vor allem aus Landwirtschaft und Industrie – vom Krieg profitierten, mussten die Lohnabhängigen von Monat zu Monat mehr Einschränkungen hinnehmen. Die Mieten stiegen, das Geld verlor an Wert, immer mehr Lebensmittel wurden rationiert. Auch dagegen wollte die Wipkinger Kirchenpflege, die mit zwei Ausnahmen aus Sozialdemokraten bestand, mit dem Aussetzen des Glockengeläuts ein Zeichen setzen: «Gegen die Umgestaltung des demokratischen Milizheeres in ein bedingungsloses Werkzeug der herrschenden Klasse», wie es im Sitzungsprotokoll zum Streik heisst. Es seien grosse Kriegsgewinne gemacht worden, «zum Teil auf Artikeln, die für die Lebenshaltung unseres Volkes von grösster Bedeutung sind», sagte auch der Wipkinger Gemeindepfarrer Ernst Altwegg. «Unsere Behörden haben aber nicht die geeigneten Mittel ergriffen, um dieser Auswucherung des Volkes rechtzeitig entgegenzutreten.»

Die Provokation der linken Kirchenpflege wirkte. Am Morgen des 1. August sprachen empörte Gemeindemitglieder aus dem bürgerlichen Lager beim Stadtpräsidenten vor: Er solle die Kirchgemeinde zum Läuten zwingen. Der Stadtpräsident hielt sich heraus. So stürmten am Abend die selbsternannten bürgerlichen Patrioten, angeführt vom Wirt der Quartierbeiz, die Wipkinger Kirche. Befeuert vom Bier, das der Wirt spendiert hatte, brachen sie die Tür zum Kirchturm auf und läuteten für eine halbe Stunde eigenhändig die Glocken. Anschliessend soll es in der Kirche zu einem Saufgelage gekommen sein. Die guten Bürger statuierten ein Exempel.

Durfte die Kirche so unmittelbar Stellung beziehen? Durfte sie das Läuten eigenmächtig verweigern? In den Wochen danach wurde darüber erbittert diskutiert, nicht nur in Wipkingen. Am 2. September 1917 musste Ernst Altwegg vor der Kirchgemeindeversammlung eine Rechtfertigungsrede halten. Anschliessend wollte man abstimmen, ob die Verweigerung rückwirkend gut ­ heissen werden konnte. Altwegg, ebenfalls Anhänger von Leonhard Ragaz’ religiös -sozialer Bewegung, nutzte die Gelegenheit: «Solange man weiss, hat es Arme und Reiche gegeben, und haben die Reichen auf Kosten der Armen gelebt. Welch’ ein Verbrechen, zu denken, dass es einmal anders werden müsse.»

Die Kirche im Klassenkampf

In einer so geradlinigen wie rhetorisch brillanten Rede arbeitete Altwegg heraus, dass der «Fall Kleiber» von nichts weniger als sozialer Gerechtigkeit handelt – und von der Verantwortung der Kirche, wenn die Regierung in diesem Punkt versagt. Der vom Bundesrat abgesegnete Ausschluss von der Universität habe deutlich gemacht, «dass man Elemente, deren Anschauungen sich mit dem bestehenden Klassenstaat nicht vertragen, von unseren Hochschulen nach Möglichkeiten fern ­ halten will».

Altwegg warnte davor, sich mit der wachsenden Kluft zwischen den Klassen einfach abzufinden. Vor allem verwies er auf den Kern evangelischen, protestantischen Denkens – und der politischen Verantwortung, die notfalls damit einhergeht: «Man muss Gott und dem Gewissen mehr gehorchen als dem Staat.» Mit wenigen Stimmen Mehrheit billigte die Gemeinde rückwirkend den Glockenstreik.

Der religiöse Sozialismus entstand zu Beginn des 20.Jahrhunderts als kirchliche Strömung, die sich mit dem Sozialismus und den Anliegen der Arbeiterbewegung solidarisierte. Prägende Figur in der Schweiz war der reformierte Theologe Leonhard Ragaz (1868—1945). Seine Reich-Gottes-Ethik sah in sozialer Gerechtigkeit und Frieden Gottes Verheissung am Werk und nahm die spätere Befreiungstheologie vorweg: Politik und Religion waren für ihn kein Gegensatz. Der religiöse Sozialismus, wie ihn Ragaz und seine Mitstreiter vertraten, hatte stark genossenschaftliche, pazifistische Züge und stand marxistischen, militanten und staatszentrierten Ansätzen kritisch gegenüber.

Ab 1906 berief Ragaz mit Gleichgesinnten jährliche religiös-soziale Konferenzen ein. Im selben Jahr erschien erstmals die Zeitschrift Neue Wege, die Ragaz mitbegründet hatte und für die er mehrere Jahre als Redaktor tätig war. Ein früher Sympathisant der Bewegung war auch Karl Barth, der später aber mit seiner dialektischen Theologie eigene Wege ging. Ragaz selbst trat 1912 der Sozialdemokratischen Partei bei und half 1915, die Zimmerwalder Konferenz vorzubereiten. 1921 legte er seine Professur für Systematische und Praktische Theologie an der Universität Zürich nieder und widmete sich fortan im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl der Bildungsarbeit sowie der Herausgabe der Neuen Wege. Ragaz war mit der Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Clara Ragaz-Nadig verheiratet, die dem religiösen Sozialismus ebenfalls wichtige Impulse verlieh. su

Es ist nicht überliefert, wie Max Kleiber selbst zur Aktion der Wipkinger Kirchgemeinde stand. Klar ist aber, dass ihm die vier Monate Haft als milde Strafe für einen Offizier schienen. «Für manche Häftlinge ist das Gefängnis eine Schule für besseres Verbrechen. Mir verhalf es zur Bildung in Physiologie, besonders in Tierenergetik», schrieb er später. Sein Professor, der deutsche Pazifist und Agrarchemiker Georg Wiegner, versorgte ihn mit wissenschaftlicher Literatur und machte ihn nach seiner Freilassung und der einjährigen Suspendierung von der ETH zu seinem Assistenten. 1920 schloss Kleiber sein Studium ab und arbeitete danach im landwirtschaftlichen Departement der Stadt Zürich. 1924 legte er seine Dissertation vor, drei Jahre später habilitierte er.

Da er als verurteilter Dienstverweigerer in der Schweiz keine akademische Karriere machen konnte, besorgte ihm sein Doktorvater einen Ruf nach Amerika. Dort widmete er sich fortan der Grundlagenforschung vor allem in Bezug auf Ernährung und Stoffwechselvorgänge bei Tieren. Auf diesem Gebiet wurde er zu einer weltweit anerkannten Kapazität mit mehr als zweihundert wissenschaftlichen Publikationen, wichtigen Preisen und der Ehrendoktorwürde der University of California, die er 1961 bekam.

«Ein Wissenschaftler besitzt nicht nur die Freiheit, nach der Wahrheit zu suchen, sondern es ist seine Aufgabe.» Max Kleiber

Aus seiner Inhaftierung machte Kleiber nie einen Hehl, und seine Studenten schätzten ihn als unerbittlichen Wahrheitssucher, der keiner Diskussion auswich. Sein pädagogisches Interesse hatte Kleiber schon in Kanada entdeckt. Während seines «Einsiedlerexperiments» unterrichtete er das zwölfjährige Mädchen der Nachbarn als Hauslehrer.

«Schon bald erschien es mir wesentlich interessanter, ihr Mathematik und Geometrie beizubringen, als Weidensträucher auszugraben und Pappelbäume zu beschneiden.»

In der Schweiz vergass man Max Kleiber. Erst 1980 stiess der Journalist und Volkskundler Peter Egloff in der Zürcher Zentralbibliothek zufällig auf einen Hinweis zu den Ereignissen in Wipkingen. Als er im Tages-Anzeiger darüber schrieb, hatten junge Schweizer immer noch keine legale Möglichkeit, den Militärdienst zu verweigern. Ein Zivildienst wurde erst 1996 eingeführt. Da war Kleiber schon seit zwanzig Jahren tot. Er starb einen Tag nach seinem 83. Geburtstag im Januar 1976.

Streben nach Gerechtigkeit

Auch nach seinem Rückzug aus dem offiziellen akademischen Leben war er in der Wissenschaftsgemeinde geblieben und darüber hinaus aktiv und hatte sich gegen atomare Rüstung und den Vietnamkrieg engagiert. Jeden Monat empfing er in seinem Haus einen Diskussionskreis und hielt auch mit über 80 noch vereinzelt Seminare. Vor allem aber wurde er nie müde, die Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu diskutieren. «Ich bin glücklich, dass ich den richtigen Beruf gewählt habe», schrieb er kurz vor seinem Tod in seiner autobiografischen Skizze. «Ein Wissenschaftler besitzt nicht nur die Freiheit, nach der Wahrheit zu suchen, sondern es ist seine Aufgabe. Ein akademischer Lehrer hat nicht nur das Recht, die Wahrheit zu sagen, es ist seine Pflicht. Beides passt besonders gut zu Menschen, die eine Spaltung in ihrer Seele nicht ertragen.» Als einen solchen Menschen hatte sich Max Kleiber lebenslang verstanden.

Titelbild: Schweizerisches Literaturarchiv