Als ich noch ein Junge mit blonder Topffrisur war, hatte ich nicht vier, sondern gleich achtzehn Grossväter und Grossmütter. Da waren Margarete aus Frankfurt, der homosexuelle Pfarrer Bernhard und die zierliche Frau Mut. All diese Menschen lebten in meinem zweiten Zuhause – dem Altersheim, das meine Eltern führten. Aufgewachsen bin ich Ende der neunziger Jahre. Ich ging in den Kindergarten und mittags ins Seniorenheim. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich häufig auf dem Schoss einer Bewohnerin sass und Kartoffeln schälte ; nach dem Essen spielte ich mit den Bewohnern Karten, und abends half ich beim Abtrocknen der Plastikbecher. Das «Haus am Bendstich» im pfälzischen Meisenheim war immer mehr als nur ein Altersheim, nicht nur für mich. Es war ein Pilotprojekt mit mehr Pflegerinnen und Pflegern als üblich, es kam ohne Profitstreben aus, hier lebten Menschen zusammen wie in einer Familie. Dass Heim war so beliebt, dass sich Menschen aus dem ganzen Land auf die Warteliste setzten. Dieser Ort lehrte mich, wie Nächstenliebe aussehen kann, was Sterben bedeutet und wie wichtig Würde für Menschen ist, die im Alter Windeln tragen müssen.
An einem dieser Tage im Heim, zwischen Singgruppe und Nachtessen, fragte ich meine Mutter, warum sie Pflegerin geworden war. Ihre Antwort ist bei mir hängengeblieben: «Um mit dem Herzen zu sehen.» Ich war damals vielleicht sieben Jahre alt. Einmal, als ich nachts Albträume hatte und nicht schlafen konnte, suchte ich die Wohnung nach ihr ab. Ich fand sie auf dem Küchenboden kniend. Um sie herum lagen Karteikarten, manche zerknüllt und andere noch unbeschriftet, vor ihr lag ein grosser Stapel. Auf ihnen waren Sprichwörter geschrieben: «Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.» oder «Es ist nicht alles Gold, was glänzt.» Das sei ein Spiel, erklärte mir meine Mutter mit ihrem typischen Lächeln. Ein paar Tage zuvor hatte sie es ausprobiert. Dazu versammelte sie einen Teil der Demenzkranken des Heims im Esssaal. Sie hatte ihnen einen ersten Teil des Sprichwortes vorgelesen, und im Chor schallten die Bewohner den zweiten zurück. Sie hätten sichtlich Spass daran gehabt und das Spiel würde ihr Gehirn trainieren, sagte meine Mutter.
Ihr machte die Arbeit in der Pflege Spass. Ich weiss noch, dass sie häufig dieses ungekünstelte Lächeln auf den Lippen trug, wenn sie die alten Menschen im Rollstuhl durch die Gänge schob oder wenn sie im Speisesaal ihr wildes Sprichwortspektakel abhielt. Der Saal war dann gefüllt mit lauter Kindern, die fröhlich durcheinanderriefen, es waren Kinder mit grosser Vergangenheit.
Die Angst der Jungen
Ich begriff in Momenten wie diesen, dass man auch mit achtzig Jahren noch so viel Spass wie ein Achtjähriger haben kann – zumindest für eine Stunde am Tag. Und dass diese Menschen sich an manches erinnern, die sonst sehr viel vergessen und mich jeden Mittag fragten, wie ich mit Vornamen hiesse. Für die einen ist es der bestimmte Song im Radio, der sie dazu bringt, aufzustehen und sich langsam im Kreis zu drehen. Für die anderen ist es der Geruch von Rosmarin, der sie in ihre Kindheit versetzt, bei wieder anderen ist es das Foto eines alten Stars, für den sie als Jugendliche schwärmten. Das kollektive Gedächtnis einer jeden Generation findet sich irgendwann im Esssaal eines Altersheims.
«Meine Eltern liessen jede Bewohnerin und jeden Bewohner das tun, was ihm Freude bereitete. Wenn jemand nur Kondensmilch trinken und draussen eine Zigarette rauchen wollte, dann war das so.» David Gutensohn
Viele Menschen um mich herum verdrängen den Gedanken ans Altwerden. Mir begegnen Kollegen und Freundinnen, die am liebsten nichts vom Altern wissen wollen. Nicht, was im Körper geschieht, nicht, wie sich Demenz entwickelt – durch dieses Wegschauen entsteht ein Bild des Altseins, das von Defiziten geprägt ist. Ein abschreckendes Bild des Verfalls, in dem
es keine schönen Seiten gibt. Keiner will über Patientenverfügungen, Organspendeausweise oder Lebensversicherungen sprechen, weil das einem die eigene Vergänglichkeit ins Bewusstsein ruft. Und deshalb spricht auch keiner über das Glück der Gelassenheit und über Freundschaften, die dann entstehen, wenn keiner mehr damit rechnet.

Die Eltern des Autors heirateten 1992 mit der Heimgemeinschaft. Eine Bewohnerin gratuliert seiner Mutter.
Manche meiner Bekannten fürchten sich gar vor dem Alter, sie halten absurde Diäten ein, schlucken zweifelhafte Vitaminpillen oder unterziehen sich Gentherapien und lassen sich das Blutplasma von Jugendlichen spritzen, sie wollen ewig jung bleiben. Oder zumindest die Illusion aufrechterhalten, dass sie sich bis zum Ende fit halten könnten. Bis heute bin ich derjenige, der auf die Frage, wie alt ich einmal werden will, mit «Am liebsten hundert Jahre» antwortet. Nicht, weil das Alter für mich seinen Schrecken verloren hat – es konnte durch mein Aufwachsen im Heim nie seinen Schrecken entfalten. Alt, das waren die meisten Menschen um mich herum, als ich ein Kind war. Und die besonders alten Menschen waren es, die meist die grösste Gelassenheit ausgestrahlt haben. Zumindest von aussen wirkte es, als sei es befreiend, keine Zukunft mehr vor sich zu haben, keine grossen Aufgaben mehr zu bewältigen. Da gab es diesen Mann, der seine Tage im Sommer vor allem dazu nutzte, in der Sonne auf der Hollywoodschaukel im Garten zu verbringen. Er wirkte auf mich so zufrieden wie kaum ein Bewohner dieses Planeten, den ich bis heute kennenlernen durfte.
Zigarette und Kondensmilch
Heute denke ich hin und wieder an Frau Mut. Graue Locken, buschige Augenbrauen und bis ins hohe Alter lackierte Fingernägel. Sie starrte oft an die Decke. Doch sobald ich aus dem Kindergarten kam, war sie wie ausgewechselt. Sie strahlte, rief mich zu sich. Aus ihrem Sessel heraus erzählte sie mir dann immer und immer wieder die Geschichten ihrer Eltern und Geschwister. Sie benutzte dazu nahezu die gleichen Worte. Genervt haben mich ihre Ausführungen nie. Es war ihre Erzählweise, der Klang ihrer Stimme, der sich wie ein warmer Umhang um mich legte.
Frau Mut hatte viel erlebt. Das reichte ihr, das Leben bewegte sich fort und ermahnte sie, nicht mehr neue Erlebnisse anzuhäufen. Genau das schien entspannend zu wirken, ja befreiend auf sie und die anderen. Ihr Leben im Heim war das tägliche Zelebrieren der Gegenwart. Menschen, die vergessen haben, dass jeder vergangene Tag sie näher an den letzten bringt.
Mir wurde aber auch bewusst, wie anstrengend und schmerzhaft das Alter sein kann. Dass Menschen gebrechlich werden und oft einsam sind, weil Freunde und Verwandte nicht mehr leben. Manche schaffen es nicht mehr, zu duschen oder zu essen. All das konnte ich bei Frau Mut beobachten, die erst noch langsam in Trippelschritten durch die Gänge ging und leicht zitternd den Löffel Suppe in der Hand halten konnte, mit der Zeit aber beides zu verlernen schien. In ihrer Gegenwart begriff ich, was Vergänglichkeit bedeutet, ohne diesen Begriff zu kennen. Mein Vater war es, der mir erklärte, dass es Menschen gibt, die sich im Rückwärtsgang von der Welt entfernen. Manche schneller, manche langsamer, einige werden dabei vergesslich. Doch egal in welchem Gang sie ihren Weg beschreiten, das Hier und Jetzt sei für sie alle entscheidend.
Oft wird angenommen, dass sich Einsamkeit durch das Zusammensein mit irgendwem bekämpfen liesse. Doch das Heilmittel gegen Einsamkeit ist Geborgenheit. Sie erst macht Nächstenliebe möglich. Durch Menschen wie meine Eltern, durch Pflegerinnen und Pfleger, die sich in ihrem Leben, in ihrer Arbeit dem Leben anderer verschreiben.
Meine Eltern sahen es als ihre Aufgabe an, möglichst jeder Bewohnerin und jedem Bewohner ein schönes Jetzt zu schaffen. Sie wussten genau, welcher Bewohner was brauchte, um zufrieden zu sein. Die eine, die gestreichelt werden wollte, der andere, der sich wohlfühlte, wenn er mit « Herr Pfarrer » angesprochen wurde. Es gab einen dementen Mann, der es liebte,
den ganzen Tag lang den Garten im Innenhof umzugraben, und einen früheren Buchbinder, der nichts brauchte als ein Regal mit Büchern, die er immer wieder prüfen konnte. Und eine Seniorin entschied sich irgendwann, nur noch Kondensmilch zu trinken, mit einem kleinen Löffel, Schluck für Schluck.
«Das Altersheim meiner Eltern war immer mehr als nur ein Aufbewahrungsort für Ältere. Es war ein Projekt mit mehr Pflegerinnen und Pflegern als üblich, ohne Profitstreben, ein familienorientierter Ansatz. Dieser Ort lehrte mich Nächstenliebe.» David Gutensohn
Sprichwortspektakel
Die Biografie jedes Bewohners zu verstehen und weiterzutragen, das war der Ansatz im «Haus am Bendstich». Stundenlang führten die Mitarbeiter Gespräche mit den Angehörigen der
neuen Bewohnerinnen, um mehr über deren Leben zu erfahren. Sie richteten ihre Zimmer im Stil ihrer früheren Wohnungen ein. In manchen Räumen standen Nähmaschinen, Plattenspieler oder alte Spiegel, in anderen hingen Lampen aus den fünfziger Jahren oder Bilder, zu denen sie einen Bezug hatten.
Das Heim als Daheim, jeder sollte möglichst viel aus seinem alten Leben mitnehmen und dadurch Teil dieser Wohngemeinschaft werden. Auch die Angehörigen nahmen das Heim als etwas wahr, das sie mitgestalten konnten, und nicht als eine geschlossene Institution. Ich erinnere mich, wie einmal ein grosser Lastwagen vor dem Altersheim stand, weil einer der Angehörigen uns neue Gartenmöbel besorgt hatte. Oder wie an Weihnachten eine Frau selbstgeschnitzte Krippenfiguren vorbeigebracht und dann gemeinsam mit uns Stollen gebacken hatte. Oder wie ein Mann sich eine Woche lang im Heim einquartierte, um seine Frau beim Sterben zu begleiten. Erst das machte aus dem Altersheim einen Ort für alle, die Teil der Familie sein wollten. Damals dachte ich, dass ich eines Tages auch gerne hier alt werden würde, mit meinem Gameboy und vielen Postern im Zimmer. Ich malte mir aus, wie ich mit meinen Freunden zusammen in einer Hollywoodschaukel sässe und wir herumalbern würden.

Draussen Vorstadtarchitektur, drinnen Nächstenliebe: das Altersheim «Haus am Bendstich».
Heute bin ich Journalist und hoffe, dass ich später einmal nicht in einem Altersheim leben werde. Durch meine Arbeit erlebe ich, wie selten so eine Welt für alte Menschen tatsächlich geschaffen wird. Weil ich heute mehr darüber weiss, wie unser Pflegesystem funktioniert, wie die Gesundheit zum Geschäft wurde in den Jahren, in denen ich aus dem Altersheim herausgewachsen bin und zum Studieren den Ort verliess. Das, was ich erleben durfte, war eine Ausnahme, die heute vermutlich noch seltener geworden ist. Ich verstehe mittlerweile, weshalb auch meine Eltern unser Altersheim und damit das deutsche System irgendwann verliessen, um in einem besseren Gesundheitswesen in Luxemburg zu arbeiten. Für Nächstenliebe, für die bedingungslose Wärme und das Eingehen auf die Bedürfnisse jedes einzelnen zu pflegenden Menschen bleibt den wenigsten Angestellten heute die Zeit. Stattdessen arbeiten sie im Akkord, pflegen mit der Stoppuhr in der Hand, dokumentieren jeden einzelnen Schritt ; alles ist berechnet, jeder Handgriff muss abgerechnet werden. Sie verdienen wenig, machen viele Überstunden, sind oft selbst psychisch belastet und körperlich angeschlagen. Da hilft auch das kollektive Klatschen auf den Balkonen nichts, wie das zu Beginn der Pandemie vorkam.
Für meine Familie war das Heim unser Haus, obwohl es uns nie gehörte. Der Ort, an dem meine Eltern sich kennenlernten, sich beim ersten gemeinsamen Ausflug der Angestellten auf Schlittschuhen verliebten und später heirateten. Eine Zeit, die ich nur von Bildern kenne, auf denen meine Mutter im weissen Kleid durch das Wohnzimmer des Heims lief und mit Bewohnerinnen und Bewohnern ihre Hochzeit feierte. Heute wäre das Gesundheitsamt alarmiert. 37 Hygienevorschriften wären gebrochen, wahrscheinlich wäre auch der Datenschutz in irgendeiner Weise verletzt. Und natürlich würde sie jeder für verrückt erklären, wenn meine Eltern wie früher einmal Heiligabend gemeinsam mit Senioren im Heim verbringen würden. Die totale Entgrenzung der Arbeit, das muss man doch trennen können, da braucht es eine neue Vorschrift! Ob es noch Teams gibt, die wie damals eine echte Gemeinschaft und nicht nur Kolleginnen und Kollegen sind? Ich bezweifle es, in einem Gesundheitswesen, das Gewinn machen muss und den Stress an die Angestellten weiterreicht. Zumindest haben mir meine Recherchen zu Pflege eine andere Seite gezeigt. Spreche ich heute mit Menschen, die denselben Beruf wie meine Eltern ausüben, erlebe ich Tränen, Frust, Wut und verloren gegangene Ideale. Pflegerinnen und Pfleger, die mir erzählen, dass sie an dem Druck zerbrechen und täglich das Wohl der Bewohner gefährden müssen. Und ich lese Studien, die zeigen, dass keine andere Berufsgruppe in Deutschland so viele Schmerzmedikamente oder Antidepressiva einnimmt und jede dritte Intensivpflegekraft ihren Job kündigen will.
Pflege, wie ich sie damals erleben durfte, ist heute eine Utopie. Als Junge war ich stolz, wenn ich meine Kindergartengruppe zu uns ins Heim einladen durfte und wir mit den Seniorinnen und Senioren sangen und bastelten. Ich erinnere mich an die schönen Karnevalstage, an denen ich als Cowboy oder Indianer das Heim betrat und die dementen Bewohner zum Lachen brachte. Ich denke an Frau Mut, die ich auf ihrem letzten Rückwärtsgang begleiten konnte. Durch sie lernte ich, wie ein Leben langsam endet, durch andere, dass es ganz schnell vorbei sein kann. Und dass Menschen auch dann vermisst werden können, wenn sie keine Verwandten und Freunde mehr haben.
Am meisten hat mir das Aufwachsen im Altersheim aber gezeigt, dass das Altern und Sterben eine Gleichheit mit sich bringt, die nirgendwo sonst zu erfahren ist. Die Ärztin wie der Bauarbeiter, sie sassen alle im Speisesaal und riefen gemeinsam Sprichwörter durch den Raum. Irgendwann ist es egal, wie ungleich unsere Leben verlaufen sind, sie enden gemeinsam. Vielleicht besteht genau darin die grösste Aufgabe von Pflegerinnen und Pflegern und letztlich unserer Gesellschaft: dafür zu sorgen, dass wir zusammenfinden und irgendwann jeder in Würde gehen kann. Wenn es sein muss, dann eben mit einigen Tassen Kondensmilch am Tag.
Bilder: ZVG