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Autor: Tom Kroll
Freitag, 15. Oktober 2021

Als junger Erwachsener stellte sich Simon Peng-Keller die Frage, ob er nicht die Ausbildung zum Pfleger absolvieren wolle. Es war nichts für ihn. Denn schon damals, so beobachtete er, war von einem Pfleger statt Qualität eher Quantität gefordert. «Mir war schnell klar, dass ich den Arbeitsaufwand nicht bewältigen konnte, wenn ich zu lang am Bett des Bewohners stand», und ergänzt: «um eine Vertrauensbasis zu schaffen.» Das war vor 32 Jahren, und er findet: Im Vergleich zu heute habe sich nicht allzu viel verändert.

Simon Peng-Keller ist Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Er leitet dort den Fachbereich für «Spiritual Care», eine Schnittstelle zwischen Theologie und Paliativmedizin. Peng-Keller unterrichtet sowohl Theologiestudentinnen und -studenten als auch angehende Medizinerinnen und Mediziner. Seine Arbeit macht Peng-Keller zu einem Kenner des Gesundheitssystems der letzten Jahrzehnte.

Ihn erstaunt es nicht, dass die Unterschriften für die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» 2017 in Rekordzeit gesammelt worden waren, um den Vorschlag ins Parlament einzubringen und bei Annahme in der Verfassung zu verankern. Am 28.November stimmt das Schweizer Stimmvolk über die Initiative ab. Wird sie abgelehnt, tritt automatisch der indirekte Gegenvorschlag in Kraft, falls es nicht zu einem Referendum kommt.

Die Zeit drängt: In der Schweiz fehlen bis 2030 rund 20 000 Pflegerinnen und Pfleger in Vollzeitpensen. Diese Zahlen gehen aus einer Studie des Gesundheitsobservatoriums hervor. Dass sich die Lage verschärft, hängt auch mit einem Trend zusammen, der sich in vielen westlichen Industriestaaten abspielt. Gemeint ist der demografische Wandel der Gesellschaft – der mit einem starken Anstieg der Personengruppe der über Achtzigjährigen einhergeht. Eine Altersgruppe, in der bis zu einem Drittel der Menschen auf die Hilfe einer professionellen Pflegekraft angewiesen sein wird.

Um all diese Menschen versorgen zu können, verlangt die Initiative, dass Bund und Kantone die Pflege stärker fördern. Es soll genügend diplomierte Pflegefachpersonen geben, und in der Pflege tätige Personen sollen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden. Auch fordert die Vorlage, dass der Bund die Arbeitsbedingungen regelt und für eine angemessene Abgeltung sorgt. Ausserdem sollen Pflegefachpersonen gewisse Leistungen direkt zulasten der Krankenkasse abrechnen können.

Bundesrat und Parlament gingen diese Forderungen zu weit. Ihre Antwort auf die Initiative: eine Ausbildungsoffensive. Um die Ausbildung weiter zu fördern, stellen Bund und Kantone mit dem indirekten Gegenvorschlag für die nächsten acht Jahre rund eine Milliarde Franken zur Verfügung.

Fest steht, es muss sich etwas ändern. Die Stimmung unter den Pflegerinnen und Pflegern ist schlecht: Eine Studie der Gewerkschaft Unia unter 1100 Beschäftigten aus Spitälern und Seniorenheimen aus dem Jahr 2019 zeigte: Die Hälfte der Befragten wollen in den kommenden Jahren aus dem Job aussteigen. Als Gründe nannten sie einen zu tiefen Lohn, den immensen Stress und die schlechten Aufstiegschancen.

Simon Peng-Keller macht eine zunehmende Ökonomisierung der Pflege dafür verantwortlich, dass ausgebildete Pflegefachpersonen das Gefühl haben, ihrem Job nicht gerecht zu werden. Nebst der körperlich anstrengenden Arbeit am Patientenbett gehören seit einigen Jahren auch noch zeitraubende Dokumentationspflichten zum Alltag der Beschäftigten. Denn nur wenn jeder einzelne Teilschritt vom Toilettengang bis zur Dusche festgehalten werde, könne mit der Krankenkasse abgerechnet werden. Zeit für Zwischenmenschliches bleibe da wenig.

Das schreckt Jugendliche offenbar nicht ab: Die Ausbildung zu Fachfrau oder Fachmann Gesundheit ist unter 14- bis 16jährigen auf Platz zwei der beliebtesten Ausbildungen. Neun Prozent der Schulabgänger gaben in einer Befragung 2020 an, sich für diesen Job zu interessieren. Nur die kaufmännische Ausbildung stiess auf noch mehr Interesse unter den Jugendlichen. Darüber geben Zahlen des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation Aufschluss.

Der Nachwuchs zeigt Interesse. Menschen helfen ist sinnstiftend. Doch reichen die politischen Anstrengungen, damit die künftige Generation auch Jahre nach ihrer Ausbildung in Spitälern und Heimen arbeitet?

Um diese Frage zu beantworten, holt Simon Peng-Keller etwas aus. Anfang des letzten Jahrhunderts, als die medizinischen Möglichkeiten noch begrenzt gewesen seien, da hätten Diakonissen und Ordensschwestern eher die spirituellen Wunden versorgt. «Zum Glück», sagt er, «hielt im Laufe der vergangenen Jahrzehnte die moderne Hochleistungsmedizin Einzug in die Spitäler der Schweiz.» Doch nach und nach verdrängte die moderne Medizin die ganzheitliche Sicht auf den Patienten, der ausser körperlichen Leiden ja auch noch spirituelle, psychische und soziale Bedürfnisse hat. «Der Blick hat sich zu stark auf die Biomedizin verlagert.» Heute sei es gut erforscht, dass die Heilungschancen auch davon abhängen, wie gut sich ein Mensch im Spital und im Seniorenheim aufgehoben fühlt.

Um dies als Gesellschaft zu leisten, brauche es finanzielle Anstrengungen, damit die Pflegekräfte in ihren Jobs blieben. In Zukunft sollten die Pflegekräfte weniger Menschen zu versorgen haben, dafür müsse die Qualität steigen. Dies führe sowohl beim Patienten als auch bei den Beschäftigten zu einer grösseren Zufriedenheit. Darum unterstütze er die Initiative. «Die Pflegekräfte brauchen unsere Solidarität.»

Und was ist mit dem indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates? Der gehe nicht weit genug, sagt Peng-Keller. Denn es brauche weit mehr als nur Geld für die Ausbildung. Und zwar: «Mehr Zeit am Patientenbett und die Aufwertung des Berufs.»