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Freitag, 11. Juni 2021

Herr Wenzel, am 24. Mai wird Bob Dylan 80 Jahre alt. Sie sind katholischer Fundamentaltheologe und haben ein Buch über Amerikas berühmtesten Songpoeten geschrieben. Ist er denn eine religiöse Figur?

In der Popmusik und insbesondere mit Bob Dylan kann man durchaus religionsanaloge Erfahrungen machen. 1997 bezeichnete er seine Songs als seine Bibel und sein Lexikon. Da liegt es für einen Theologen doch nahe, seine Biografie und seine Arbeiten als eine Quelle religiösen Nachdenkens zu betrachten.

Ist das nicht etwas überinterpretiert? Die Texte, mit denen Sie sich sonst beschäftigen, entstammen wohl eher weniger dem Unterhaltungsgenre.

Pop-Texte sollte man nicht unterschätzen, auch wenn sie uns einfach und schlagerhaft erscheinen. Dylan war der Erste, der das literarische Potenzial der Popwelt erkannt hat und sie verlinkte mit der Poesiegeschichte der Moderne. Seine Songs sind voller literarischer und religiöser Bezüge, die er aus der Tradition schöpfte. Das rechtfertigte wohl auch, dass ihm der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde.

Selbst ernannte «Dylanologen», vom Meister ironisch belächelt, beugen sich über seine Texte und geraten darüber in Disput. Das erinnert stark an die Textexegese in der Theologie. Ist Dylan ein Prophet?

In den frühen Sechzigerjahren wurde er zur Stimme der rebellischen Jugend. Dieser Zuschreibung hat er sich aber, wie später allen anderen Etikettierungen übrigens auch, radikal entzogen. Dabei gibt es bei ihm gar nicht so viel zu enträtseln. Er hat mit seiner musikalischen Herkunft, dem Folk und Blues, nie hinterm Berg gehalten. Später kommt der Südstaatenrock dazu. Sein literarischer Kosmos umfasst Walt Whitman und Bertolt Brecht, Arthur Rimbaud und Carl Sandburg. Ihn hat auch der walisische Lyriker Dylan Thomas geprägt, von dem er sich seinen Namen lieh.

Bruce Springsteen inszeniert seine Auftritte als evangelikalen Gottesdienst, Dylan erinnert eher an einen Zelebranten der römischen Liturgie oder der rabbinischen Tradition, wo der Priester dem Publikum den Rücken zudreht.

Seine Bühnenperformance hat sich ständig gewandelt. Er entwickelte eine ganz merkwürdige innere Distanz zu der von ihm kreierten Rolle «Bob Dylan». In den Achtzigerjahren hat er die Bühnenbeleuchtung so einrichten lassen, dass er im Lichtschatten der Scheinwerfer nicht zu sehen war. In den Neunzigerjahren kommt es dann musikalisch zu einer Neuausrichtung. Er nimmt bei einigen Auftritten am Ende des Konzerts die obligatorische Sonnenbrille ab. Und seitdem trägt er sie nicht mehr.

Sehen Sie in diesem Spiel mit Präsenz und Nichtpräsenz etwas Messianisches in seinem Gestus?

Das ist bis heute so. Er betritt die Bühne, spricht kein Wort der Begrüssung, macht auch keine Ansagen zu seinen Songs. Seit einigen Jahren stellt er auch seine Band nicht mal mehr vor. Er verbeugt sich kurz am Ende und geht. Das war’s.

Will er sein Publikum foppen?

Nein. Er will vielmehr seine Lieder in den Mittelpunkt stellen. In ihnen möchte er sich am liebsten auflösen und verschwinden.

Der Titel Ihres Buches über Bob Dylan heisst «HoboPilgrim». Was verbindet einen notgetriebenen Wanderarbeiter mit einem Wallfahrer?

Ich habe diese Begriffe sehr absichtsvoll zusammengespannt, damit sie sich wechselseitig irritieren. Der Hobo ist eine historische Gestalt, ein Tramp, der durch die Grosse Depression in den USA der 1930er-Jahre gezwungen war, der Saisonarbeit hinterherzuziehen, ein obdachloser Landstreicher. Dieser Phänotyp stand für Verarmung und Bindungsverlust, vergleichbar mit der Boheme im Künstlertum. Die Intellektuellen der frühen Sechzigerjahre idealisierten diese Figur, wie sie in der Folkmusik angelegt war. Der Pilger dagegen ist im konventionellen Verständnis ein Wallfahrer, sein Ziel ist eine Heilserwartung. Ein Hobo – Pilger ist auf der Suche, aber er hat kein fixes identifizierbares Ziel mehr vor Augen. Da gibt es kein Santiago de Compostela mehr, wohin er strebt. Aber es gibt immerhin noch die Zeile: «Tryin’ to get to heaven before they close the door», wie es in einem Dylan-Song heisst.

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