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Texte und Bilder: Hans Domenig
Freitag, 06. Oktober 2017

Die Auswirkungen der Zürcher Jugendunruhen zu Beginn der achtziger Jahre kamen mit Verzögerung auch in Graubünden an. Einerseits äusserlich, wie das Bild eines verkleideten Gymnasiasten zeigt. Aber auch die Kritik an den Institutionen wurde nun lautstark geäussert. Hinzu kam der Konsum der Protestdroge Heroin. Für mich als Pfarrer eine schwierige Situation: Als Vertreter der Kirche stand ich plötzlich in der Kritik, zugleich betreute ich in den Kirchgemeinden vereinzelt junge Menschen, die sich am Platzspitz in Zürich Heroin spritzten. Eine für alle unglaublich belastende Situation. Man fühlte sich hilflos, kannte diese neue Droge nicht. Nur wenige wussten zu Beginn, wie man den Süchtigen helfen konnte und wie die Gesellschaft überhaupt auf die schrecklichen Auswirkungen des Konsums reagieren sollte.

Katholische Prozessionen waren noch in den achtziger Jahren sichtbare Zeichen der konfessionellen Unterschiede. Vereinzelt dienten sie auch als Abgrenzungsdemonstrationen gegenüber den Reformierten. Das Bild zeigt eine Prozession im streng katholischen Vals. Der Wille zur überkonfessionellen Zusammenarbeit zwischen reformierten und katholischen Pfarrern war damals nur bedingt vorhanden. Dies war auch abhängig davon, wer in Chur als Bischof amtete. Unter Bischof Wolfgang Haas gestaltete sich die Ökumene schwierig; eine Beruhigung der Situation brachte Bischof Amédée Grab. Seit Vitus Huonder Bischof von Chur ist, soll es angeblich in den Kirchgemeinden punkto Ökumene da und dort wieder schwieriger geworden sein.

Die Weihnachtsbeleuchtung im öffentlichen Raum war – verglichen mit heute – noch bescheiden, wie das Bild der Churer Poststrasse zeigt. Wie oft war für uns Bündner das Unterland, also Zürich, der Vorreiter von solchen Trends: Als die Weihnachtsbeleuchtung an der Zürcher Bahnhofstrasse erstrahlte, war dies ein Thema in den Bündner Tageszeitungen. Es gab aber auch Kritik am vielen Licht in den Strassen. Ein Churer Elektronikfachmann kommentierte den neuen Trend mit den Worten: «Für solch einen Mist habe ich kein Verständnis und kein Geld.»

Die katholische und die protestantische Kapelle in Selva ob Poschiavo liegen nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt. Sie sind bis heute sichtbares Zeichen früherer konfessioneller Eigenwilligkeit. Im Puschlav gestalteten sich die Beziehungen zwischen den Protestanten und Katholiken besonders schwierig, was dem Tal in der Neuen Zürcher Zeitung auch schon die Zuschreibung «Nordirland der Schweiz» eingebracht hat.

Das Bild zeigt ein Kreuz und einen Schlot in der damaligen Tschechoslowakei. Entstanden ist es in Zeiten, die mich als Fotografen nun auch vermehrt in die Welt hinaus führten. Wichtig wurden auch Reisen für das Hilfswerk Heks im Ausland. Es ist Sinnbild dafür, dass die Kirche vermehrt den Blick über die Kantons- und Landesgrenzen hinausrichtete. Sei es in Fragen der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch der Ökologie. So entschied etwa der Evangelische Grosse Rat, das gesellschaftlich erwachte Umweltbewusstsein unter den Slogan «Bewahrung der Schöpfung» zu stellen. Viele Kirchgemeinden zeigten sich engagiert, worauf im Winter prompt Kirchgänger klagten, man habe sich im Gottesdienst wegen der zu kühlen Temperatur eine Erkältung eingefangen.

Wanderte man früher mit den Konfirmanden bestenfalls auf einen Berg, waren mit zunehmendem Wohlstand plötzlich auch Reisen ins nahe Ausland möglich. Das Bild zeigt eine meiner Konfirmandinnen vor dem Mailänder Dom. Dass ich mit den Jugendlichen nach Paris, Venedig oder Florenz fuhr, wurde immer wieder kritisiert. Der damals in Graubünden spürbar steigende Lebensstandard machte sich aber auch andernorts bemerkbar: Neue Kirchen wurden gebaut und solche, die baulich in schlechtem Zustand waren, sorgfältig renoviert.

Es war die Zeit, als im Kirchenraum neben Orgelmusik plötzlich auch andere Klänge zu hören waren. Mein Amateur-Jazzer-Herz hüpfte, als in Davos zum ersten Mal eine Jazzformation im Gottesdienst spielte. Selbstredend gefiel das erweiterte Repertoire nicht allen.

Von Margrit

Sprecher Nachfolgender Text erschien 1987 im Buch Bündner Menschen und Momente von Hans Domenig (Bilder) und Margrit Sprecher (Texte).

Auf den ersten Blick scheint Graubünden ein besonders religiöses Land zu sein: Ausser dem Tessin besitzt keine andere Schweizer Gegend so viele Barockkirchen und Kapellen. Doch der Anblick täuscht. Viele der Kapellen wurden in der Pestzeit gebaut, als man aus Angst vor der Ansteckung die Hauptkirche mied. Und die protestantischen Walser sind — zum Kummer ihrer Pfarrer — anfällig für Aberglauben aller Art.

Zudem hat im Lande Jürg Jenatschs die Kirche noch immer mehr mit Politik zu tun als anderswo. In der Surselva stehen am Sonntag die Stimmurnen vor der Kirchentüre, und die Pfarrer beider Konfessionen politisieren immer noch selbstverständlicher von der Kanzel herunter als anderswo. Dies nicht nur, wenn es um Abstimmungen über ethische Fragen wie Abtreibung oder Flüchtlinge geht, sondern auch, wenn von so weltlichen Dingen wie Güterzusammenlegung, Kraftwerken und Verkehr die Rede ist. Auch ist es noch nicht so lange her, setzten die Pfarrherren der rhätischen Synode die Eidgenossenschaft unter moralischen Druck, um sie an ihr Alpenbahn-Versprechen zu erinnern.

Jahrhunderte religiöser Apartheid haben ihre Spuren hinterlassen. Selbst in der Sprache werden Unterschiede gemacht. Im Puschlav sagen die Protestanten für «getragen» noch immer «portà», die Katholiken «portù». In der Surselva schreibt die eine Konfession «de», wo die andere «da» bevorzugt. Noch immer eine Folge der Reformation, als man vom Tisch wischte, was in der ketzerischen Nachbar-Talschaft geschrieben und gedruckt wurde.

Doch allmählich zerbröckeln die Fronten zwischen den 51 Prozent Katholiken und 45 Prozent Protestanten. Man kauft nicht mehr bloss bei der eigenen Konfession ein, sondern dort, wo’s billiger ist. In Chur, das bis in die fünfziger Jahre keinen Katholiken einbürgerte, sind heute 10 Prozent der Bürger katholisch. Mit dem — allerdings zähen — Einzug der Sozialisten hat Graubünden auch eine erste interkonfessionelle Partei bekommen.

Und bereits ist man so weit, dass man beim Wort «Mischehe» nicht mehr zuerst an die Konfession, sondern an die Sprache denkt: Jeder zweite Romane ist mit einem anderssprachigen Partner verheiratet.