Der Metaverse-Pfarrer predigt in einem Wald. Genauer auf einer Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen und dichtem Gebüsch. Kein Vogel zwitschert, kein Blatt raschelt, kein Wind weht. Alles ist künstlich – eine Landschaft aus Tausenden von Pixeln.
Pfarrer Bismik schwebt auf und ab. Seine Beine fehlen, wie bei allen Avataren, die sich in dieser virtuellen Welt namens Altspace tummeln. Hinter Bismik leuchtet eine Leinwand. «Virtual Reality Church» ist darauf zu lesen.
15 Besucherinnen haben sich an diesem Sonntagabend zum Gottesdienst im Metaverse versammelt: Auch sie schlichte Computerfiguren, die von echten Personen gesteuert werden. Sie haben sich von irgendwo auf der Welt eingeloggt, um sich in Altspace zur virtuellen Feier zu treffen. Die meisten kommen aus den USA und Europa. Manche bezeichnen sich als liberal, andere als evangelikal. Auch Atheisten haben schon teilgenommen.
Der Umgangston ist freundlich. Man begrüsst sich mit «Welcome!» und «So good to see you!», trägt Namen wie «Coldest» und Outfits von Rockern und Cowboys. Jemand ist als Schaf dazugestossen. Pfarrer Bismiks Avatar gleicht dagegen seinem echten Ich: schwarze Kleidung, lange Haare.
Bismik heisst im richtigen Leben Markus Neher und ist 39 Jahre alt. Aber was heisst schon richtiges Leben für jemanden, der sich im digitalen Raum genauso zuhause fühlt wie im analogen?
Während Neher als Bismik die Besucher virtuell durch den Gottesdienst führt, befindet er sich physisch in Erlangen, einem Vorort von Nürnberg. Eben hat er sich seine Virtual-Reality-Brille aufgesetzt. «Meine Kopfhörer für die Augen», sagt Neher. Breitbeinig steht er zwischen Bett und Sofa. Seine schwarze Mähne fällt auf die muskulöse Brust, über die er sich ein Shirt der ukrainischen Band «1914» gestreift hat.
In jeder Hand hält er einen Controller. Damit umarmt er in der virtuellen Welt Avatare, zeigt auf Bibelverse und bewegt sich durch Altspace – ohne sich in seiner kleinen Einzimmerwohnung in Erlangen vom Fleck zu rühren. Mehr Platz braucht es nicht, um die Weiten des Metaversums zu erkunden.
Schuhbildchen für 134 000 Dollar
Was dieses Metaverse ist, darüber sind sich selbst Fachleute nicht einig. In seinem Buch «Das Metaverse» beschreibt es Matthew Ball als eine nicht enden wollende virtuelle Welt, in der sich alle als komische Avatare verkleiden, in immersiven Spielen um Punkte kämpfen und ihre unmöglichsten Phantasien ausleben.
Ball hat für Amazon Studios gearbeitet und für renommierte Blätter wie die «New York Times» und «The Economist» geschrieben. Für ihn steht fest, dass dieses «nächste Internet» einfach alles revolutionieren wird. Metaverse werde bis zum Ende dieses Jahrzehnts in der Gesellschaft angekommen und viele Billionen Dollar wert sein, prophezeit Ball.
Auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg glaubt das. Nicht umsonst hat er sein Unternehmen 2021 in Meta umbenannt. In seiner Vision werden wir uns künftig in zwei Welten aufhalten: der analogen und der virtuellen. Dabei werden sich die physischen Grenzen zusehend aufheben, und wir werden an zwei Orten gleichzeitig sein können. So wie wir heute am Bahnhof auf den Zug warten und dabei nach einem Hotel für den Sommerurlaub googlen, könnten wir künftig jederzeit direkt in ein Inselparadies mit weissem Sandstrand und Palmen eintauchen – nur eben virtuell.

Pfarrer, Lehrer und Metal-Band-Frontmann: Markus Neher auf seinem Balkon in Erlangen. (Bild: André Kirsch)
Ansätze dieser neuen Welten sind bereits vorhanden. Um einzutreten, muss man sich bloss am Computer bei einem Anbieter einloggen. Wirklich erlebbar wird das Metaverse allerdings erst, wenn man es mit Hilfe eines Headsets betritt, einer Virtual-Reality-Brille, die eine 360-Grad-Sicht ermöglicht. Wie realistisch diese Umgebung wirkt, hängt von der Qualität der Hardware ab – aber auch von der Software. Und die unterscheidet sich von Anbieter zu Anbieter.
Denn Metaverses gibt es viele. Sie heissen Sandbox, Rec Room, Ceek – oder eben Altspace. Rec Room hat wie viele Metaverses seinen Ursprung in Computerspielen. Andere wiederum wurden neu entwickelt, um Handel mit digitalen Produkten zu betreiben.
Das Metaverse werde zu einem Markplatz der unbegrenzten Möglichkeiten, schreibt Matthew Ball in seinem Buch. Namhafte Unternehmen haben sich schon einen Stand auf diesem Markt gesichert. H&M plant einen virtuellen Kleiderladen auf Ceek. Nike ist auf Roblox und verkauft dort im «Nikeland» virtuelle Turnschuhe unter dem Label «CryptoKicks». Eines der digitalen Schuhbildchen wechselte im vergangenen Sommer für 134 000 US-Dollar den Besitzer.
Konkurrent Adidas hat in Sandbox ein Grundstück erworben. Im gleichen Metaverse liess sich US-Rapper Snoop Dogg eine Villa bauen. Um neben dem Promi zu wohnen, und sei es virtuell, hat sich jemand für 450 000 Dollar das Nachbargrundstück gesichert.

Die VR Church feiert den letzten Gottesdienst im Metaversum von Altspace. Der Betreiber Microsoft schliesst die Plattform. (Bild: André Kirsch)
Der Hype ist riesig. Doch die Metaverses sind nicht alle gleich ausgereift. Welche dieser Welten – ob Sandbox, Ceek, Decentraland oder ein anderes – in fünf Jahren noch existieren werden, ist auch für Matthew Ball völlig offen.
Für Altspace, das Metaverse der VR Church, naht schon das Ende. Der Betreiber Microsoft schliesst die Plattform. Pfarrer Bismik wird heute zum letzten Mal in Altspace predigen. Die virtuelle Kirche und ihre Mitglieder ziehen um nach Rec Room.
Markus Neher ist darüber nicht traurig. Die Grafik auf Altspace sei veraltet. «Die Avatare sehen schlecht aus», sagt er. «Die waren vielleicht vor 15 Jahren auf Spielkonsolen noch erträglich – aber jetzt nicht mehr.» Auch die Mimik der Avatare sei eingeschränkt.
Skaten und beten
Sein theologisches Wissen hat sich Markus Neher selbst beigebracht. Er stammt aus einem strenggläubigen Elternhaus und hatte, wie er sagt, eine schwierige Jugend. «Ich habe dunkle Zeiten erlebt, schlechte Erfahrungen gemacht, viel Hass und Traurigkeit gespürt.» Genauer darauf eingehen möchte er nicht.
Mit 17, nach einer langen Suchphase, habe er «eine Entscheidung für Jesus» gefällt. Anschluss fand er in einer lokalen Jugendbewegung, den «Jesus Freaks»: Gleichaltrige, die seine Sprache sprachen – Rocker, Skater und ehemalige Punks, mit denen er durch besetzte Häuser zog und «Jesus-Abhäng-Abende» veranstaltete. «Wir waren radikal», sagt Neher. «Für uns gab es nur Jesus – sonst nix.» Heute bezeichnet er sich als evangelikalen, aber nicht fundamentalistischen Christen.
«Das Christentum hat es schon immer verstanden, neue Medien zu nutzen, um die Frohe Botschaft zu verbreiten.» DJ Soto, VR-Church-Gründer
Sein Geld verdient er sich als Geschichts- und Ethiklehrer an einem privaten Gymnasium. Hinzu kommen Gagen als Sänger der Metal-Band Triuwint, mit der er oft in der Schweiz auftritt und regelmässiger Gast am «Elements of Rock» im zürcherischen Uster ist. Seine Einsätze als Laienprediger im Metaverse leistet er ehrenamtlich.
Zur VR Church stiess er 2017, nachdem er in einem PC-Magazin darüber gelesen hatte. Eine VR-Brille besass der leidenschaftliche Computerspieler bereits. Damit war die virtuelle Kirche nur ein paar Klicks entfernt.
Ins Leben gerufen wurde die VR Church 2016 von DJ Soto, einem US-amerikanischen Pfarrer. Er hatte zuvor als Computer- und Musiklehrer gearbeitet, als Fotojournalist beim Fernsehen gejobbt und in einer Kirche in Pennsylvania gepredigt.
In seiner noch jungen VR Church fiel ihm bald ein engagierter Besucher mit deutschem Akzent auf. 2019 reiste DJ Soto schliesslich nach Erlangen, um Markus Neher persönlich zu treffen und ihn zu fragen, ob er einen europäischen Ableger der Kirche leiten wolle. Neher fühlte sich geehrt und sagte zu. Seither setzt er sich fast alle zwei Wochen das Headset auf und predigt als Bismik – ein Name, den er aus einem Kosenamen aus der Jugendzeit abgeleitet hat.
Radikal inklusiv
In seinem Gottesdienst geht Bismik nun durch das Markusevangelium, zitiert Verse und deutet sie. Inzwischen hat er die virtuelle Gemeinde von der Waldlichtung in einen Garten geführt. Eichhörnchen umkreisen die Szene. Jemand hat sich auf eine riesige Blume gesetzt, Schmetterlinge flattern herum. Bismik zeigt auf sie und erklärt den Besuchern das deutsche Wort dafür. Einer der Teilnehmer spricht es nach, sein amerikanischer Akzent ist unüberhörbar. Andere Avatare lassen Herz-Emojis aufsteigen. Als Bismik sich umdreht, kommt ein Bus ins Blickfeld. AC/DC steht drauf, am Heck leuchtet die Endstation: «Highway to Hell».

Alina hat sich in der VR Church taufen lassen. In der virtuellen Kirche blüht sie als Avatar auf. Im richtigen Leben hindert sie eine Krankheit, nach draussen zu gehen. (Bild: André Kirsch)
Solche Spielereien gehören zur VR Church. Für ihre Gottesdienste lässt das Team immer wieder neue Umgebungen entwerfen. Mal trifft man sich in einem virtuellen Park, mal auf einem Schiff oder am See. Der Umgangston ist locker und freundlich, der Ablauf meistens gleich. Man begrüsst sich, lauscht einem Lied, geht in sich und folgt anschliessend einem der sieben Pfarrerinnen und Pfarrer, die aus Bibelstellen zitieren und diese deuten. Zuletzt wird gebetet.
Die internationale Kirchgemeinde der VR Church umfasst etwa 200 bis 300 Mitglieder und finanziert sich durch Spendengelder. Näheres ist von Gründer DJ Soto selbst nicht zu erfahren. Er habe keine Zeit für Interviews, lässt seine Frau Kari Soto auf eine E-Mail-Anfrage ausrichten. Gegenüber der Computerzeitschrift «wired» gibt sich DJ Soto überzeugt, dass seiner Kirche im Metaverse eine grosse Zukunft bevorsteht. Das Christentum habe es schon immer verstanden, neue Medien zu nutzen, um die Frohe Botschaft zu verbreiten: vom Buchdruck über das Radio, Fernsehen und schliesslich das Internet. Gott spiele es keine Rolle, ob sein Wort in der realen oder der virtuellen Welt verkündet werde.
Nach Sotos Vorstellungen soll die VR Church radikal inklusiv sein und alle Menschen willkommen heissen: egal wo sie leben, woran sie glauben und wo sie politisch stehen. Manchen Erstbesuchern ist dieser Ansatz zu liberal, weiss Markus Neher. «Kürzlich habe ich einer Frau erklärt, dass Homosexualität keine Sünde sei. Darauf hat sie die Gemeinde verlassen.»
Eine neue Kulturtechnik
Mittlerweile gibt es im Metaverse auch landeskirchliche Angebote in deutscher Sprache. Letztes Jahr hat die Evangelische Landeskirche in Baden (D) eine Basler Firma damit beauftragt, einen virtuellen Raum zu programmieren. Am ersten Weihnachtstag war Premiere. Gegen 50 Mitglieder nahmen als Avatare am Gottesdienst teil. Im dunklen Waldstück stand ein Altar, Kerzen brannten, Lichterketten leuchteten und ein Lagerfeuer loderte. Die Nachfrage war so gross, dass nun bereits die nächste virtuelle Feier geplant ist.
Die Initianten waren Ulli Naefken und Gernot Meier. Naefken ist Digital Producer und Meier seit 2020 Beauftragter für Ethik und Theologie der Digitalisierung in der Evangelischen Landeskirche in Baden (D).
«Das Metaverse ist nicht die Welt, aber es wird die Welt verändern.» Gernot Meier, Religionswissenschaftler
Das Metaverse komme, sagt der aus der Nähe von Basel stammende Religionswissenschaftler Meier in einem Zoom-Gespräch: «Die Frage ist bloss, wie schnell und wie gross.» Wie bei anderen digitalen Erfindungen sei die Entwicklung meist sprunghaft und schwer abzuschätzen. Die Gaming-, aber auch die Porno-Industrie dürften zu Treibern der Weiterentwicklung zählen.
Meier, der an der Universität Heidelberg lehrt, rät den Landeskirchen, Erfahrungen in dieser virtuellen Welt zu sammeln. Damit sie vorbereitet sind, wenn der Trend in der breiten Bevölkerung ankommt. «Metaverse ist nicht die Welt, aber es wird die Welt verändern», sagt Meier. Gerade in der Bildung biete das Metaverse unermessliche Möglichkeiten. Schon in ein bis zwei Jahren werde es vielleicht möglich sein, im Zürcher Grossmünster virtuell Huldrych Zwingli bei der Predigt zuzuhören.
Doch was geschieht mit uns, wenn die digitale Welt so real wird, dass sie mit der analogen verschmilzt? Was passiert, wenn im realen Leben Menschen sterben und in der virtuellen Welt weiter existieren? «Das wird geschehen, ob wir wollen oder nicht», sagt Meier. Und damit ergäben sich viele weitere Fragen. Was bedeutet es aus seelsorgerischer Sicht, wenn jemand über den Tod hinaus im Metaverse präsent bleibt? Wie ist das für Angehörige – heilend oder belastend?
«Um solche Fragen zu beantworten, müssen wir theologisch nachdenken und muss die Gesellschaft neue Kulturtechniken entwickeln», sagt Meier. «Und wer, wenn nicht Kirche, ist eine Spezialistin dafür?» Doch ihr mangle es leider manchmal an Experimentierfreude. «Sie muss schauen, dass nicht andere Player diese wichtige Rolle übernehmen.»
«Zu wenig Tiefe»
Ganz ähnlich klingt es bei Hanno Terbuyken. Der 40jährige Deutsche ist Country Manager bei ChurchDesk, einer Firma, die Kirchgemeinden, Landeskirchen und Bistümer bei der Digitalisierung hilft. «Kirche muss sich ganz grundsätzlich überlegen, wie sie weitermachen will. Die Verpackung mit den Gottesdiensten, wie wir sie heute kennen, ist nicht mehr attraktiv.» Das Metaverse ermögliche Alternativen, auch wenn ihm persönlich die Gottesdienste der VR Church nicht besonders gefallen würden. «Theologisch haben sie mir zu wenig Tiefe, und auch von der Sprache und Ästhetik her sprechen sie mich nicht an.»

Auch die Evangelische Landeskirche in Baden (D) hat einen virtuellen Gottesdienst organisiert. Die Nachfrage war gross. (Bild: Evangelische Landeskirche Baden)
Hinzu komme, dass aktuell noch zu wenige User im Metaverse unterwegs seien. Deshalb würde Terbuyken den Landeskirchen empfehlen, zuerst einen Fortnite-, Roblox- oder Minecraft-Pfarrer einzustellen. In diesen Computerspielen und Online-Plattformen gibt es bereits Millionen von Menschen, die interagieren und Freunde finden. «Das hat Potenzial – aber die institutionelle Kirche hat das noch nicht wirklich mitbekommen. Es ist halt schwierig, in 800jährigen Mauern an zukünftige Entwicklungen zu denken.»
DJ Soto dagegen hat dieses Potenzial schon erkannt. Kürzlich hat er innerhalb des Shooter-Games Rust einen Ableger der VR Church aufgebaut. Auf Youtube sind Ausschnitte dieser Gottesdienste zu sehen. Zu den Treffen erscheinen bewaffnete Avatare und eigenartige Kreaturen. Es ist ein Kommen und Gehen.
Beim gamenden Pfarrer
Einer, der sich mit Computerspielen und dem Metaverse gut auskennt, ist der Winterthurer Pfarrer Mike Gray. Beim Besuch in seinem Pfarrhaus schickt er zuerst seine drei grossen Hunde in die Stube, um in einem Einbauschrank das Herzstück seines Hobbys zu zeigen: eine High-End-Ausrüstung für Videospiele. «Ich habe kein Auto, dafür einen schnellen PC», sagt Gray in seinem amerikanisch gefärbten Zürcher Dialekt und lacht.
Genauso beeindruckend ist der ultrabreite und gekrümmte Bildschirm, vor den er sich nun hinsetzt, um in die Welt von «Cyber Punk 2077» einzutauchen. In diesem Computer-spiel muss sich Gray in einer postapokalyptischen Gesellschaft zurechtfinden und als weibliche Spielfigur «V» Aufgaben lösen.

Computerspiele sind ein grosses Hobby des Winterthurer Pfarrers Mike Gray. In «Cyber Punk 2077» geht es auch brutal zu und her. (Bild: Madeleine Schoder)
Heute nimmt «V» an einem Raser-Rennen teil. Mit ihrem Sportwagen schlingert sie durch die Nacht, bis ihr Kontrahent in einen Baum kracht und halbtot aus dem Wrack kriecht. Als eine Mitspielerin den verletzten Bösewicht aus Rachegelüsten hinrichtet, muss sich «V» überlegen, wie sie mit der Täterin, einer Freundin, nun umgehen soll. Es seien solche Fragestellungen, die ihn interessierten, sagt Gray.
Von der VR Church dagegen hat er einen zwiespältigen Eindruck. Als Gamer und Mensch, der digitale Welten liebe, sei Virtual Reality einerseits ein spannendes Phänomen. Und kirchliche Präsenz im Metaverse mache durchaus Sinn. Denn Kirche müsse dort sein, wo Menschen sind – und Menschen seien auch in der virtuellen Realität unterwegs. «Zwar nicht allzu viele, aber, um es in der Sprache meiner Kindheit zu sagen: Jesus liebt auch Tech-Bros.»
«Im Metaverse bin ich abgekapselt, an einem völlig anderen Ort. Das finde ich heikel.» Mike Gray, reformierter Pfarrer
Andererseits schliesse die virtuelle Kirche viele Menschen aus, weil sich nicht jeder VR-Brille, Controller und guten PC leisten könne. Auch sei das Metaverse noch zu wenig ausgereift, um als Medium für eine authentische und vielfältige kirchliche Erfahrung zu taugen. Wenn er in die lokale Kirche gehe, dann würden viele andere Erfahrungsebenen mitschwingen – Gerüche, Berührungen oder das Ritual, sich für den Gottesdienst zurecht zu machen. «Dinge, die mein kirchliches Erleben aufwerten, werden in VR ausgeklammert. Da geht einiges an Spiritualität verloren.» Durch das Aufsetzen einer VR-Brille werde zudem die eigene Weltwahrnehmung stark eingeschränkt. «Im Metaverse bin ich abgekapselt, an einem völlig anderen Ort. Das finde ich heikel.»
Ganz schwierig findet Gray, jemanden in der virtuellen Welt zu taufen. «Gott kann bestimmt damit umgehen», sagt er. «Aber die Vorstellung stimmt mich traurig. Eine Taufe sollte mit allen Sinnen erlebt werden.»
Alina würde Gray widersprechen. Sie gehört wie Bismik zum Führungsteam der VR Church und hat sich dort von DJ Soto virtuell taufen lassen. Sie habe diesen Akt körperlich gespürt, sagt Alina. Das allein zähle für sie. In der VR Church blühe sie auf. Hier könne sie mit Gleichgesinnten ihren Glauben teilen. Im richtigen Leben hindert sie eine Krankheit, nach draussen zu gehen.
Ihr Avatar mit den lilafarbenen Haaren bedankt sich bei Bismik für die Predigt. Dieser führt die kleine Gemeinde nun vom Garten zurück in die Waldlichtung. Dort wird Mister Pete das Gebet sprechen. Der 81jährige lebt in Alabama und schafft es aus gesundheitlichen Gründen nur selten aus dem Haus. «Dank der VR Church kann ich Christen aus der ganzen Welt begegnen – das ist doch grossartig», sagt Mister Pete. Sein Avatar trägt ein Cowboy-Kostüm und schwebt nun vor die Leinwand. Seine Worte kommen offenbar an, die anderen Avatare lassen Herz-Emojis steigen.
Zwischenrufe und Krach
Der Gottesdienst ist zu Ende. In seiner Wohnung nimmt Markus Neher das Headset ab. Schweissperlen kullern über sein Gesicht. Er trocknet sich ab, gönnt sich eine Pause, um sich für die zweite Feier dieses Sonntagabends vorzubereiten. Diese findet im Metaverse VR Chat statt und richtet sich an ein jüngeres Publikum. «Neulich war sogar ein 13jähriger dabei», sagt Neher.
Im VR Chat ist der Gottesdienst noch offener als in Altspace, teilweise auch wild. Vor allem dann, wenn Trolle auftauchen und dazwischenrufen, Krach machen oder sich sonst unflätig benehmen. Neher findet das nicht weiter schlimm. «Ab und zu muss ich jemanden stummschalten», sagt er.
Eine halbe Stunde später setzt sich Markus Neher erneut seine VR-Brille auf. Wieder stellt er sich breitbeinig zwischen Bett und Sofa und taucht ein ins Metaverse. Der Gottesdienst im VR Chat beginnt. Der virtuelle Kirchenraum besteht hier aus Sitzbänken und einer Leinwand. Trolle sind keine in Sicht. In der ersten Reihe hat ein Roboter Platz genommen, dahinter eine Gans und eine Banane. Neher zeigt mit langen Armen auf Bibelstellen und beginnt zu sprechen. Sein Avatar ist nun Rafiki, der Affe aus «König der Löwen».
Titelbild: André Kirsch.