Bereits sind die USA im Wahlkampffieber. Fast täglich vergrössert sich das Feld der Personen, die im November 2024 Präsidentin oder Präsident werden möchten. Anfang Juni hat auch Dr. Cornel West, seit 2017 Inhaber der Dietrich-Bonhoeffer-Professur am Union Theological Seminary in New York, seine Bewerbung bekanntgemacht.
Der schwarze Befreiungstheologe bediente sich dabei moderner sozialer Medien. Und tönte trotzdem wie ein alttestamentarischer Prophet: «In diesen düsteren Zeiten habe ich mich entschieden, für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten», verkündete er, «die Präsidentschaft ist eines der Vehikel, mit denen wir diese Wahrheit und Gerechtigkeit verwirklichen können.»
Cornel Wests politische Plattform verspricht nichts weniger als ein Paradies auf Erden: keine Armut und Masseninhaftierungen mehr; Schluss mit Kriegen und ökologischem Kollaps; garantierter Wohnraum, freie Gesundheitsvorsorge und Ausbildung sowie existenzsichernde Löhne für alle.
«Armut ist die allergrösste Gewalt»
Wahlpropaganda klingt immer etwas vollmundig. Doch bei Cornel West ist zumindest die Marschrichtung klar. Die erwähnten Grundwerte sind biografisch verbürgt. Der heute siebzigjährige Afroamerikaner hat sich ein Leben lang gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit eingesetzt. Bereits als Fünfzehnjähriger ging er für die Bürgerrechte der Schwarzen auf die Strasse.
Später war er bei linken Bewegungen wie Occupy (2011), Black Lives Matter (ab 2013) und dem antirassistischen Widerstand in Charlottesville (2017) aktiv dabei. In Washington DC liess sich Cornel West nach dem Besuch der Occupy-Zeltstadt vor dem Obersten Gerichtshof verhaften, in der Hand das Protestschild «Armut ist die allergrösste Gewalt».
Auch seine brillante akademische Karriere verbrachte Dr. West nicht im Elfenbeinturm. Als Philosophieprofessor an Eliteuniversitäten wie Yale, Princeton, Harvard und Dartmouth hielt Cornel West unzählige Vorlesungen zum Thema Rassismus und Klassengesellschaft.
Er schrieb akademische und populistische Bücher, Essays, Filmskripte und sogar Hiphop-Texte, um sich Gehör zu verschaffen für sein Kernanliegen, die lebendige Nachfolge Jesu oder, etwas profaner ausgedrückt, für einen «prophetischen Pragmatismus». Was Cornel West damit meint, soll dem deutschsprachigen Publikum Ende Jahr in dem Suhrkamp-Reader «Pragmatismus und radikale Demokratie» zugänglich gemacht werden.
West will einen Paradigmenwechsel bewirken, eine Neuausrichtung der politischen Landschaft, weg von organisierter Gier, institutionalisiertem Hass und routinierter Gleichgültigkeit gegenüber Ungerechtigkeit. Cornel West
Cornel West nutzt Philosophie und Poesie, Religion – insbesondere die Glaubenstradition der schwarzen Kirche – und Musik, um unsere Empathie und Vorstellungskraft zu stärken. Nur so, sagt der radikale Befreiungstheologe, könnten wir die «revolutionäre christliche Botschaft» verstehen und erfüllen: Liebe deinen Nächsten heisst, die Welt durch die Augen der Ausgestossenen, Marginalisierten, Diskriminierten zu sehen und zu fühlen – und dann auch etwas gegen die Misere zu tun. «Im öffentlichen Raum zeigt sich Liebe als Gerechtigkeit», lautet einer der Glaubenssätze auf Cornel Wests Website.
Und nach dieser Überzeugung hat er stets zu handeln versucht. Egal ob sein Vorgehen in die vorgegebenen institutionellen Rahmen von Universitäten, theologischen Fakultäten, etablierter Politik oder in vorgegebene Musikgenres passte oder nicht. Jetzt will er als Präsidentschaftskandidat der sehr jungen und sehr kleinen People’s Party eine der verhärtetsten politischen Strukturen der USA frontal angehen: das seit 160 Jahren dominante Zweiparteiensystem von Republikanern und Demokraten. Und das, obwohl in den USA seit 1860 kein einziger Drittparteienkandidat eine Präsidentenwahl gewonnen hat.
Gerade deswegen kandidiere er, sagt Cornel West. Er wolle einen Paradigmenwechsel bewirken, eine Neuausrichtung der politischen Landschaft, weg von organisierter Gier, institutionalisiertem Hass und routinierter Gleichgültigkeit gegenüber Ungerechtigkeit. Dabei benutzt der Möchtegernpräsident weiterhin ungeniert seine religiös gefärbte Sprache. Auch wenn dieses Vokabular in den USA vorab von Erzkonservativen benutzt wird. Auch wenn sich mittlerweile rund ein Drittel der US-Bevölkerung als religionslos bezeichnet.
Im ersten Interview nach Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur beschrieb Cornel West dem linken Journalisten, presbyterianischen Pfarrer und freundschaftlichen Weggefährten Chris Hedges den aktuellen Zustand der USA so: «Ihr spiritueller Zerfall und ihre unmoralische Dekadenz sind so tiefgreifend, dass wir mit so Grundlegendem beginnen müssen wie einem spirituellen Erwachen und einer moralischen Abrechnung.»
Mit seiner Kandidatur wolle er das Unmögliche versuchen und das faktische Duopol der beiden Grossparteien brechen. West prophezeite sogar, er werde mit seinem Linkspopulismus Trump-Stimmen, oft Stimmen von gesellschaftlich Benachteiligten, zurückgewinnen.
«Das Beste hervorbringen»
Doch auch die realpolitische Chancenlosigkeit des Unterfangens spricht Cornel West in seiner Ankündigung gleich selber an. «Habe ich das Zeug dazu?» fragt der Präsidentschaftsanwärter gegen Ende seines Wahlwerbevideos. «Wir werden sehen. Doch einige von uns werden mit wehenden Fahnen untergehen – mit einem Lächeln und mit Stil – und dabei das Beste in euch und in mir selbst hervorbringen.»
Persönliche und politische Rückschläge, Niederlagen, Fehlentscheide und Neubeginne sind ihm nichts Fremdes. Er hat vier Scheidungen hinter sich und ist aktuell zum fünften Mal verheiratet. Er hat Anfang der 2000er Jahre eine Krebserkrankung und -behandlung durchgemacht. Er stiess sich immer wieder an den akademischen Arbeitsbedingungen und Benimmregeln und verliess die angesehene Harvard University gleich zweimal im Streit.
Als Mitglied der Kleinpartei Democratic Socialists of America hat der einflussreiche Intellektuelle seit Jahrzehnten fortschrittliche Politikerinnen und Politiker unterstützt, oft ohne unmittelbar sichtbaren Erfolg. Besonders schmerzte ihn die Niederlage von «Bruder Bernie», dem demokratischen Sozialisten Sanders aus Vermont, der sowohl 2016 wie 2020 in den demokratischen Vorwahlen (Primaries) ausschied.
Nach der gewonnenen Wahl beschimpfte Cornel West Präsident Obama bitter enttäuscht und ebenso feurig als «neoliberale Wallstreet-Marionette», als «Kriegsverbrecher». Cornel West
Zuvor, 2008, war Cornel West Feuer und Flamme für den schwarzen Kandidaten «Bruder Obama» gewesen und hatte sich an Dutzenden von Wahlveranstaltungen für ihn eingesetzt. Nach der gewonnenen Wahl beschimpfte er Präsident Obama bitter enttäuscht und ebenso feurig als «neoliberale Wallstreet-Marionette», als «Kriegsverbrecher». Cornel West behauptete sogar, dass Obama, dessen Vater aus Kenya und dessen Mutter aus dem US-Bundesstaat Kansas kommt, aufgrund seiner gemischten Herkunft «Angst vor dem freien schwarzen Mann» habe.
Nun bewirbt sich Cornel West selber für das höchste politische Amt der USA. Ungeachtet aller praktischer Hürden, angefangen bei den Zulassungsbedingungen für Präsidentschaftskandidaten, präsentiert er sich als Alternative zu «Neofaschisten wie Bruder Trump und neoliberale Milchbubis wie Bruder Biden».
Kommt es wie erwartet zur Wahlniederlage oder allenfalls zu einem vorzeitigen Rückzug der Kandidatur, wird Professor West vermutlich auf sein Lieblingszitat zurückgreifen. Es findet sich im eher düsteren Spätwerk «Worstward Ho/Aufs Schlimmste zu» von Samuel Beckett und lautet: «Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.» Hauptsache, die Performance, der stilvolle Auftritt, stimmt.
Viele Linke ärgern sich
Im politischen Umfeld wird das mutmassliche Scheitern des Präsidentschaftskandidaten West nicht so philosophisch abgeklärt gesehen. Im rechtskonservativen Lager freut man sich natürlich über jede Kandidatur, die dem demokratischen Spitzenreiter Joe Biden Stimmen kosten könnte. Auf der Linken gibt es bisher jedoch nur sehr vereinzelt Zustimmung. Die meisten ärgern sich über Cornel Wests narzisstisches Liebäugeln mit der politischen Macht. Sie fürchten dasselbe, was die Rechte freut: dass linksalternative Drittkandidaturen wie die von Cornel West die Wiederwahlchancen von Präsident Biden schwächen.
Wie werden sich die schwarzen Wählerinnen und Wähler entscheiden, die bisher grossmehrheitlich für die demokratischen Kandidaten stimmten? Manche Kommentatorinnen erinnern Cornel West bei dieser Gelegenheit an seine Unterstützung des grünen Sprengkandidaten Ralph Nader bei der Präsidentenwahl 2000. Eine Wahl, die der demokratische Kandidat Al Gore schliesslich per Gerichtsentschied knapp verlor.
Die schärfste Kritik an Cornel Wests Präsidentschaftsambitionen kommt nicht zuletzt von den Leuten, die mit seinen Grundwerten ganz und gar einverstanden sind. Sein Egotrip habe einen hohen politischen Preis, sagen sie. Er solle mit diesem Wahnwitz aufhören, bevor er genau der Sache – Antirassismus und soziale Gerechtigkeit – schade, die ihm doch so wichtig sei.
Im Gegensatz zu Cornel West hat sich zum Beispiel «Bruder Bernie» bereits im Frühjahr entschieden, 2024 nicht wieder zu kandidieren. Das liegt nicht an der mangelnden Radikalität des altgedienten demokratischen Sozialisten. Sein politisches Credo kann es diesbezüglich jederzeit mit den Ideen der jungen People’s Party aufnehmen.
Doch Senator Sanders will die Wiederwahl des «Milchbubis» Joe Biden unterstützen, dem er gute Gewinnchancen zutraut. Denn: «Das letzte, was Amerika braucht, ist ein Donald Trump oder ein anderer rechtsextremer Demagoge, der die US-Demokratie untergräbt, den Frauen das Selbstbestimmungsrecht wegnimmt und sich weigert, Krisen wie die Waffengewalt, den Rassismus, Sexismus und Schwulenhass anzugehen.»
«Als Mensch, als schwarzer Mann im amerikanischen Imperium, ringe ich ständig mit Verzweiflung.» Cornel West
Zumindest hat Präsidentschaftskandidat West mit seinem Vorpreschen eine alte – und wichtige – politische Diskussion in den USA neu angeregt: Müssen die Stimmenden den faktischen Zwang des Zweiparteiensystems hinnehmen und alle vier Jahre ungeachtet der Qualität des jeweiligen Kandidaten «das kleinere Übel» wählen? Oder sollten sie vielmehr für die Person stimmen, die am radikalsten das eigene Gedankengut vertritt? Und damit gleichzeitig Drittparteien unterstützen, die für eine gesündere Demokratie langfristig sehr wichtig wären?
Von Cornel West ist zu dieser taktischen Frage kaum eine abschliessende Antwort zu erwarten. In einem Interview mit dem Magazin «New Yorker» sagte er im März 2022: «Mein Sinn für Beruf und Berufung bleibt konstant, ganz gleich wo und wie ich unterwegs bin. Das kann in Harvard sein, im Union Theological Seminary, im Weissen Haus, in einem Crack-Haus oder im Haus meiner Mutter.»
Im selben «New-Yorker»-Gespräch wurde Cornel übrigens auch gefragt, ob die Präsidentschaftskandidatur ein guter öffentlicher Ort sei für seine politische Philosophie. Er liess sich nicht festlegen: «Als Mensch, als schwarzer Mann im amerikanischen Imperium, ringe ich ständig mit Verzweiflung. Und so muss ich wie ein Bluesman, wie eine Jazzwoman flexibel sein, wandelbar und improvisierend. Ich muss alle möglichen Quellen und Ressourcen nutzen, wenn ich Gutes bewirken will.»