Touristen sind in Lauterbrunnen leicht auszumachen. Sie schauen unentwegt nach oben: zu den schneebedeckten Gipfeln des Gross- und Mittaghorns weit hinten im Tal, vor allem aber zur Felswand, die direkt neben dem Dorf emporragt. Der Blick wandert hinauf über Gestein in Grau und Beige und bleibt hängen über der Fluh, wo zwischen Tannen ein Wasserstrahl herausschiesst. Auf dem langen Weg nach unten verwandelt er sich in einen weichen Schleier, bis er schliesslich zerstäubt.
Schon Johann Wolfgang von Goethe war überwältigt von diesem Anblick. Als er auf seiner Schweizreise 1779 Lauterbrunnen besuchte, sah er den Staubbachfall und schrieb:
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.
Zu Goethes Zeiten begnügten sich die Menschen damit, die Berge zu betrachten. Man fürchtete sich vor ihnen. Bis der Alpinismus aufkam, sollten noch ein paar Jahrzehnte vergehen. Mittlerweile ist die Region ein grosser Spielplatz für Wanderer, Bergsteiger, Biker und Gleitschirmflieger. Für Schlagzeilen sorgen aber vor allem die Basejumper. Mit den bis 720 Meter hohen Felswänden und den fünfzehn leicht zugänglichen Absprungstellen ist Lauterbrunnen für die Extremsportler ein Paradies – und manchmal auch Endstation.
Freudenschreie über dem Friedhof
Direkt unterhalb des Staubbachfalls liegt der Friedhof von Lauterbrunnen. Touristen schlendern in Outdoorklamotten und mit Selfiesticks in der Hand zwischen den Grabfeldern hindurch und fotografieren die Postkartenansicht. Mittendrin steht ein Mann in Hemd und schwarzer Hose. Der reformierte Pfarrer Markus Tschanz erklärt einem Besucher, wo das Jungfraumassiv zu sehen ist. Auf dem Friedhof ist er mehr Fremdenführer denn Seelsorger. Bald muss er los und seinen kleinen Sohn abholen. Das Baby ist bei der Mutter, die im Dorfzentrum eine Arztpraxis führt.
Wie die meisten im 800 Einwohner zählenden Dorf ist auch Pfarrer Markus Tschanz schon Zeuge geworden, wie ein Basejumper gerettet oder geborgen werden musste. Mit Opfern hatte er allerdings nie zu tun. «Die meisten Basejumper kommen von ausserhalb», sagt Tschanz. Stirbt einer, wird er in der Regel in seiner Heimat begraben. Für Angehörige und Freunde wurde jedoch am Rande des Friedhofs eine Gedenkstätte mit zwei grossen Steinen errichtet. Der eine ist verunglückten Basejumpern gewidmet, der andere den übrigen Bergsportlern, die hier ihr Leben liessen.

Der reformierte Pfarrer Markus Tschanz an der Gedenkstätte auf dem Friedhof von Lauterbrunnen. Im Hintergrund der Staubbachfall.
Die Idee hatten Einwohner, die sich daran störten, dass man an unzähligen Stellen im Tal mit dem Tod konfrontiert wurde: An Weg- und Strassenrändern erinnerten Kerzen, Kränze und Helme an verunglückte Basejumper. Mit der zentralen Gedenkstätte sollte sich die Situation verbessern. Vor zwei Jahren wurde sie eingeweiht.
«Früher sind sie sogar hier gesprungen, direkt über dem Friedhof», sagt Tschanz und zeigt zum Staubbachfall. Nicht nur einmal sei eine Trauergemeinde durch einen Freudenschrei gestört worden – von einem Basejumper im freien Fall.
Als die Kritik gegenüber den dorfnahen Sprüngen immer lauter wurde, hat die Base-Szene selbst dafür gesorgt, dass nur noch an bestimmten Stellen weiter hinten im Tal gesprungen wird. Im Dorf sind die Sportler dennoch präsent. An ihren auffälligen Fallschirmrucksäcken, den sogenannten Containern, erkennt man sie leicht.
Basejumpen ist wie Fallschirmspringen. Nur wird statt aus einem Flugzeug von festen Objekten wie Gebäuden (Buildings), Antennen (Antennas), Brücken (Spans) oder Felskanten (Earth) — kurz BASE — gesprungen. Für die wenigen Sekunden im freien Fall kommen Sportler aus der ganzen Welt nach Lauterbrunnen. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist Basejumpen in der Schweiz legal. Die überhängenden, bis 720 Meter hohen Felswände in Lauterbrunnen sind ideal für den Sport und die meisten der fünfzehn offiziellen Absprungstellen leicht zugänglich. Den Ausstieg «High Ultimate» erreicht man mit der Schilthornbahn innert weniger als 30 Minuten. Das reicht für mehrere Sprünge am Tag. hz
Als Tschanz 2013 in die Gemeinde kam, gab es im selben Jahr fünf tote Basejumper zu beklagen. Lauterbrunnen wurde als «Tal des Todes» bekannt. Mit diesem Ruf hätten viele Einwohner Mühe, sagt der Pfarrer. Inzwischen ist die Zahl der Todesfälle etwas gesunken. Schweizweit waren es im vergangenen Jahr acht, davon drei in Lauterbrunnen. Der letzte ereignete sich Anfang 2023.
Tschanz schaut auf die Uhr und macht sich auf zur Arztpraxis. Unterwegs erklärt er, dass er dem Basejumpen nicht viel abgewinnen könne. «Es kommt mir schon egoistisch vor, dieses Risiko einzugehen. Klar, der Mensch will frei sein – aber er hat auch ein Umfeld, eine Familie. Und die leidet am Ende.»
Die Theorie kennt verschiedene Gründe, wieso sich Menschen freiwillig solchen Gefahren aussetzen. Die Wagnis-Theorie etwa besagt, dass sich Risikosportler bewusst einer existenziellen Sinnprüfung unterziehen, um sich ihres Lebens zu vergewissern. Oft werden auch Glücksgefühle und das intensive Erleben mit allen Sinnen genannt. «Man könnte lange darüber philosophieren», sagt Tschanz. «Manche Basejumper sind vielleicht auf der Suche nach einer Transzendenzerfahrung.»

Das Horner Pub ist Dreh- und Angelpunkt der Basejump-Szene.
Wenn man einen der Sportler nach seiner Motivation fragen will, geht man am besten ins Horner Pub. Die Beiz liegt mitten im Dorf und gleicht einem Chalet. Vor der Fassade aus dunklem Holz stehen rote Sitzbänke, auf denen eine Gruppe US-Amerikaner Platz genommen hat. Einer geht rein, um am Tresen Bier und Snacks zu bestellen. Über dem Ausschank hängen Hunderte Passfotos. Die Schwarzweiss-Portraits aus dem Fotoautomaten zeigen fröhliche Gesichter und Grimassen von Basejumpern, die für ihre vielen Bergfahrten ein Abo gekauft hatten und die überzähligen Fotos im Pub aufklebten.
Das kleine Lokal ist Dreh- und Angelpunkt der Szene. Basejumper informieren sich hier über die Absprungstellen und Vorschriften, packen in einem Raum hinter dem Haus ihre Fallschirme zusammen oder übernachten in einem der Zimmer. Abends berät man sich bei einem Bier, ob man sich von «High Ultimate», «La Mousse», «Yellow Ocean» oder einem anderen sogenannten Exit-Point in die Tiefe stürzen will. Die Einheimischen hören zu, trinken und lachen mit. Doch nur wenige schliessen mit Basejumpern enge Freundschaften. Der nächste Sprung könnte sie abrupt beenden.

Charlotte Larsen führt das Horner Pub seit sieben Jahren und kennt viele Basejumper – auch solche, die gestorben sind.
Der Tod ist im Pub allgegenwärtig. Eine Fotowand erinnert an verstorbene Basejumper. Einer der ersten war Xaver Bongard. Er machte die Sportart Anfang der 1990er Jahre in Lauterbrunnen bekannt. Damals gab es weder Absprungstellen mit Rampen noch speziell für den Sport entwickelte Anzüge und Schirme. Als Bongard 1994 nach einem Sprung beim Staubbachfall tödlich verunglückte, hatte er einen Haupt- und einen Reserveschirm dabei. Der erste öffnete sich nicht, beim zweiten verhedderten sich die Leinen.
Charlotte Larsen führt das Pub seit sieben Jahren als Pächterin und kennt viele solcher Geschichten. Die gebürtige Dänin, die als Au-pair nach Lauterbrunnen gekommen ist, sagt auf Berndeutsch: «Früher waren es vor allem Einzelgänger und Aussteiger, die sprangen. Heute gehören auch Manager zur Szene.»
Larsen, die alle nur Charlie nennen, kennt einige Basejumper. Auch solche, die gestorben sind und deren Mütter und Väter eines Tages ins Pub kamen und von ihr wissen wollten, wie Sohn oder Tochter die letzten Stunden des Lebens verbracht hätten.
Basejumper haben einen starken Zusammenhalt. Stirbt einer, wird auch mal im Pub gefeiert. Einheimische hätten damit anfangs Mühe gehabt, sagt Charlie. Inzwischen hätten sie sich daran gewöhnt. «Die vielen Tagestouristen nerven sie mehr. Zudem wissen sie: Berge und Natur sind gefährlich – das war hier schon immer so.» Erst kürzlich ertrank ein 26jähriger Ire in der Lütschine, dem Fluss, der manchmal gemächlich, manchmal wild durchs Tal fliesst.
«Es tönt hart, aber man nimmt die Todesnachrichten von Basejumpern nur noch wahr.» Charlotte «Charlie» Larsen, Pub-Pächterin
«Es tönt hart», sagt Charlie und macht eine Pause: «Aber man nimmt die Todesnachrichten von Basejumpern nur noch wahr. Es ist kein Schock mehr, denn man weiss, es kann jedem von ihnen passieren, auch den erfahrenen.» Charlie ist selber ein einziges Mal gesprungen. «Ich wusste, wenn ich jetzt nicht aufhöre, dann schaffe ich es gar nicht mehr. Bis es vielleicht irgendwann zu spät ist.»
Basejumpen löse Glücksgefühle aus. «So nahe am Tod merkt man, dass man lebt. Es macht süchtig, man will wieder und wieder springen.» Doch als Mutter habe sie sich nicht diesem Risiko aussetzen wollen.
Sie selbst hat miterlebt, wie ein Basejumper zu Tode gestürzt ist. Frau und Kind des Opfers hätten zugesehen. «Wenn man mit einem Basejumper verheiratet ist, weiss man, dass so etwas passieren kann», sagt Charlie und hebt plötzlich die Stimme: «Mit dem Basejumper habe ich kein Mitleid, er wählt das, ihm ist es scheissegal. Mitleid habe ich mit seiner Familie.»
Wie Meditation
An einem der Tische im Pub sitzt ein junger Mann, sportliche Statur und kurzer Bart. Er nippt an einer Cola. Marcel Geser wird heute, sofern der Wind nicht zu stark ist, von der Absprungstelle «High Ultimate» springen.
Geser ist Präsident der Swiss Base Association und hat viel dazu beigetragen, dass es ruhiger geworden ist um die Community in Lauterbrunnen. Er sucht den Kontakt mit den Bewohnern und weist ausländische Basejumper direkt und über soziale Medien auf die Regeln hin: Wer springt, muss sich anmelden, einen Notfallkontakt hinterlegen und eine Landekarte zum Preis von 40 Franken kaufen. Mit dem Erlös werden die Absprungstellen unterhalten und Bauern entschädigt, deren Wiesen bei den Landungen zertreten werden. Es gibt Sperrzeiten und die Basejumper werden aufgefordert, einige Minuten vor ihrem Sprung die ansässige Basis von Air-Glaciers anzurufen. Um Kollisionen mit Helikoptern zu vermeiden, erteilt diese die Freigabe für die Sprünge. Die paar schwarzen Schafe, welche die Regeln ignorieren, kann auch Geser nicht verhindern.

Basejumper Marcel Geser sagt, er sei kein Adrenalinjunkie. (Bild: Riccardo Ricci)
Dem Ostschweizer, der inzwischen in der Region lebt, wurde das Fliegen in die Wiege gelegt. Sein Vater war Pilot, sein Bruder ist es ebenso. Geser spricht mit sanfter, tiefer Stimme: «Schon als Bub hatte ich immer wieder diesen einen Traum, dass ich eine Treppe hinunterspringe und plötzlich abhebe und fliege.»
Geser studierte Geschichte und Islamwissenschaften in Basel. Dort machte er es sich im Sommer zum Hobby, von den Brücken in den Rhein zu springen. Irgendwann meldete ihn sein Bruder zu einem Gleitschirmkurs an. «Das wunderschöne Gefühl vom ersten Flug werde ich nie vergessen», sagt Geser: «Ab da war ich angefixt.»
Die Leidenschaft liess ihn nicht mehr los. Nicht während seines Auslandeinsatzes als Menschenrechtsbeobachter in Palästina, nicht in seinem späteren Bürojob beim Nachrichtendienst in Bern. In den Pausen schaute er Videos von Gleitschirmflügen und stiess eines Tages auf den Clip eines Basejumpers. «Ich dachte: Wow, das möchte ich machen.»

Marcel Geser hat bereits 1200 Sprünge absolviert. Einmal hatte er riesiges Glück. (Bild: Robin Clohessy)
Er kündigte seinen Job, begann als Gleitschirm-Tandempilot zu arbeiten und tastete sich mit einem Freund ans Basejumpen heran. An die Premiere erinnert sich Geser gut. «Man springt vom Felsen ab, und das Gehirn hat einen totalen Overload. Alles läuft wie in Zeitlupe ab. Du nimmst Geschwindigkeit auf, beginnst zu fliegen – und BAM! – der Schirm geht auf und du spürst eine unglaubliche Euphorie.»
Er sei kein Adrenalinjunkie, sagt Geser und nimmt einen Schluck Cola. Beim Springen sei er einfach komplett im Jetzt. «Manchmal lachen die Leute, wenn ich ihnen sage, dass Basejumpen für mich wie Meditation ist. Aber so ist es.» Diese innere Ruhe spüre er bei der Vorbereitung, auf dem Weg zur Absprungstelle und noch Tage nach dem Sprung. Basejumpen habe ihn gelehrt, Emotionen einzuordnen. Konflikte versuche er immer gleich zu lösen. Bei einem Unfall soll alles geklärt sein.
Kleine Teufelshörner
Bis heute hat Geser 1200 Sprünge absolviert, wie er selber sagt. Einmal hatte er riesiges Glück. Er schätzte seinen Flug falsch ein, zog den Schirm zu spät und blieb in einem Baum hängen. «Es klingt lächerlich, aber das erste, das ich fühlte, war Scham. Es war mir peinlich, dieses Risiko eingegangen zu sein.» Noch am selben Tag liess er seinen Schirm bei einem Engländer flicken. «Er gab mir einen wichtigen Tipp: Im Moment, wo du abspringst, wachsen dir kleine Teufelshörner. Du fühlst dich unsterblich und unbesiegbar.» Das Wichtigste beim Basejumpen sei, das eigene Ego zu kontrollieren. Schon am nächsten Tag sprang er wieder.
Geser will los Richtung Absprungstelle. Vor der Tür des Pubs schaut er zum Staubbachfall, der von fast überall im Dorf zu sehen ist. Goethe beschrieb ihn einst so:
Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.
Geser steigt in seinen weissen VW-Bus. Im Wagen liegen Gleitschirmmaterial und ein Basejump-Container. Auf der Fahrt blickt er zur steil aufragenden Fluh, die sich durchs ganze Tal bis zur Schilthornbahn zieht. Wolken hängen in den Bäumen, die sich mit ihren Wurzeln an Felsvorsprüngen festkrallen. Kein perfektes Wetter, doch Geser lächelt und nickt.

Gedenkstein unterhalb der Absprungstelle «High Ultimate».
Er hält auf dem Parkplatz der Schilthornbahn, unweit von einem Stein, der wie ein Altar mit Fotos, Schildern, Engelsfiguren, Sporthelmen und Sonnenbrillen beladen ist. Die Objekte erzählen von Menschen, die ihren Traum vom Fliegen lebten und ihn schliesslich mit dem Tod bezahlten.
Gleich darunter fliesst die Lütschine, darüber ragt die über 700 Meter hohe Felswand. Geser zeigt nach oben: «Neben dem Spalt sieht man die Absprungrampe von ‹High Ultimate›.» In etwa 30 Minuten werde er dort sein und springen – sofern Wind und Wetter es zuliessen. Geser schwingt seinen Container über die Schulter und macht sich auf den Weg.
«Mein Grossvater hat schon gesagt: Dieses Tal ist nicht für jeden.» Christian Stähli, Basisleiter Air-Glaciers
Kurz vor seinem Sprung wird Geser Air-Glaciers anrufen und um Freigabe bitten. Die Heliflugbetreiberin ist seit langem in Lauterbrunnen beheimatet und erfasst seit 2019 die Anrufe für die Freigabe der Sprünge. In Lauterbrunnen sind es zwischen 15 000 und
20 000 im Jahr. An Spitzentagen klingelt das Telefon bis zu 140 Mal.
Basisleiter Christian Stähli ist im benachbarten Wengen aufgewachsen. Er kennt die Eigenheiten der Region mit ihren hohen Bergen und steilen Felswänden. «Mein Grossvater hat schon gesagt: Dieses Tal ist nicht für jeden», sagt Stähli, der selbst Gleitschirmflieger und Bergsteiger ist. «Als Kind wächst man hier mit dem Bergsport auf. Allen ist bewusst, dass dabei Unfälle passieren können.» Wegen Basejumpern rückt sein Team mehrmals im Jahr aus. «Manche können wir verletzt von einem Felsvorsprung retten.» Diese Aktionen mit der Seilwinde oder Longline seien anspruchsvoll.
Die Basejumper würden Farbe ins Dorf bringen, sagt Stähli. Ihnen ihre Leidenschaft zu verbieten würde nichts bringen. Dann würde vermutlich heimlich gesprungen und so das Risiko für einen Unfall mit einem Helikopter steigen. Stähli sagt: «Der Sport hat sich weiterentwickelt und ist professionalisiert worden.» Air-Glaciers setzt auf Aufklärung statt Verbote. Die Firma hat im März mit der 32jährigen Bernerin Jenna Gygi eine Profi-Basejumperin als Botschafterin des Sports verpflichtet.

Ein Basejumper im freien Fall (Bildmitte). Von der Absprungstelle «High Ultimate» gesprungen, zieht er nach 20 Sekunden den Schirm.
Marcel Geser ist inzwischen bei der Absprungstelle angekommen. Auf der Rampe stehend ist er von unten nur als winziger Punkt auszumachen. Auf einmal verschwindet er hinter einer Nebelschwade – und taucht plötzlich aus dieser heraus. Er fällt der dunklen Felswand entlang. Fünf Sekunden. Zehn Sekunden. Zwanzig Sekunden. Dann zieht er den Schirm. Der Wind knallt in den Stoff – BAM! – und schon hängt Geser unter dem Schirm. Er segelt über das Tal, dreht ein paar Kurven und setzt weich auf der Wiese neben dem Parkplatz auf.
Kaum gelandet, rollt er seinen Schirm zusammen und ruft: «Es war wunderschön!» Dann senkt er seine Stimme und beginnt ruhig zu schildern: «Oben hat es geschneit, ich spürte den Wind, und plötzlich sah ich diese Bergdohle. Sie flog an mir vorbei, zog ihre Flügel ein und stach in die Tiefe. Im Fallen spürte ich Schnee, dann leichten Regen im Gesicht, einfach herrlich.»
Die Kritiker sind verstummt
Gesers Sprung weiter hinten im Tal hat in Lauterbrunnen niemand mitbekommen. Reisecars fahren durchs Dorf, im Besucherzentrum stehen die Touristen Schlange. Tourismusdirektor Thomas Durrer, der mit seinen langen blonden Locken aussieht wie ein Surfer, hat nur wenig Zeit. Durrer ist in Lauterbrunnen aufgewachsen, als Sohn des früheren Dorfarztes Bruno Durrer. Dieser hatte in seiner Karriere über 2000 Bergrettungen geleistet. 2016 starb er – bei einem Tauchgang.
Obschon Bruno Durrer auch einige Basejumper tot bergen musste, hat er den Sport stets unterstützt. Sein Sohn tut dies ebenfalls, selbst wenn die Schlagzeilen vom «Tal des Todes» dem Image der Tourismusdestination mehr schaden als nützen. «Basejumper sind aufgestellte, naturverbundene Typen», sagt er in seinem Büro. «Sie gefährden niemanden ausser sich selbst und leben ihr Leben in vollen Zügen. Andere werden achtzig und haben es nie genossen.»
Auch ihn reize der Traum vom Fliegen, aber Basejumpen sei ihm zu riskant, sagt Durrer, der Vater von sechsjährigen Zwillingen und einem vierjährigen Jungen ist. Sollten seine Kinder dereinst springen wollen, würde er sie nicht daran hindern. Durrer ist klar gegen ein Verbot des Sports. «Solange man die Eigernordwand ungesichert und ohne Seil besteigen darf, kann man Basejumpern nicht verbieten, von einem Felsen zu springen.» Sicher sei es tragisch, wenn man dabei zusehen müsse, wie ein Basejumper abstürze. «Aber ich kann auch auf der Autobahn an einen schweren Unfall mit Todesopfern geraten.»
Wie Durrer denken viele im Dorf. Die kritischen Stimmen sind inzwischen verstummt. Ein Bauer, der vor zehn Jahren einen Unfall mit eigenen Augen miterlebt und danach vor Fernsehkameras ein Verbot der Sportart gefordert hatte, will sich heute nicht mehr äussern. Nach seinem Interview hätten ihm die Basejumper den Anteil aus den Einnahmen der Landegelder, die sie auf freiwilliger Basis entrichten, gestrichen.

Idyllisch und gefährlich: Im Lauterbrunnental kennen die Menschen die Eigenheiten der Berge.
Ein anderer Dorfbewohner will nur anonym Auskunft geben. Am Telefon sagt er, dass es durchaus Kritiker gebe, diese aber in der Minderheit seien und sich nicht mehr trauten, negativ über das Basejumpen zu reden. Viele in Lauterbrunnen leben vom Tourismus. Gewerbetreiber, die sich über die Gäste beschwerten, müssten damit rechnen, Aufträge zu verlieren oder von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen zu werden.
«Tourismus ist wichtig für die Region», sagt der Mann. «Aber zu welchem Preis?» Er schwärmt von der schönen und einzigartigen Landschaft, einem Geschenk Gottes, das von den Basejumpern zum Spielzeug degradiert werde.
Wieder in den Schlagzeilen
Ein paar Wochen nach Marcel Gesers Fall durch den Nebel zeigt sich Lauterbrunnen von seiner schönsten Seite. Die Sonne scheint, erst am späteren Nachmittag ist Regen angesagt. Touristengruppen drängen unter den Staubbachfall. Wind sprüht das Wasser über sie hinweg. An einer Infotafel lesen sie Goethes Gedicht:
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!
Weiter hinten im Tal, vor dem Eingang zur Schilthornbahn, herrscht ebenfalls Hochbetrieb. Die Frau im Imbissstand hat viel zu tun. Ob heute schon Basejumper heruntergekommen seien? «Weiss nicht», sagt sie knapp und dreht sich um.
Ein Kanadier mit schwarzem Container bestellt ein Sandwich. Er sei heute fünf Mal gesprungen, sagt er und grinst. Man werde sicher noch weitere Basejumper sehen. Nur wenige Minuten später ist vor der Felswand ein winziges Pünktchen im Sturzflug auszumachen. Ein Schirm öffnet sich – BAM! – und das Pünktchen segelt langsam nach unten.
Auf der Wiese gelandet, packt der Basejumper den Schirm zusammen und stapft zum Parkplatz, wo seine Freundin und ein Bullterrier auf ihn warten. Sie übergibt ihm einen neuen Container. Er umarmt den Hund und verabschiedet sich. Bevor das Wetter umschlägt und es dunkel wird, will er noch einmal hoch. In einer halben Stunde sei er bei der Absprungstelle, sagt er.
Wenig später beginnt es heftig zu regnen. Der Parkplatz leert sich. Von dem Mann ist nichts zu sehen.
Die Touristen verlassen das Tal. Im Dorf schliessen die Geschäfte, auf dem Friedhof wird es ruhig, im Horner Pub wird gefeiert. Der Staubbach fällt.
Vier Tage später ist Lauterbrunnen wieder in den Schlagzeilen. Eine junge Kanadierin stürzte in den Tod. Sie starb beim Überqueren einer Hängebrücke.
Nach Abschluss dieser Recherche starb am 12. Juni ein weiterer Basejumper. Der Franzose verunglückte bei einem Sprung vom Exit-Point «High Ultimate». Laut der Base-Community ist es seit Beginn der Erfassung im Jahr 1994 der 111. Todesfall eines Basejumpers in der Schweiz und der 64. in Lauterbrunnen.