Herr Knellwolf, Sie sind vor allem als Autor von Kriminalgeschichten bekannt. Was hat der Theologe mit dem Krimiautor gemein?
In meinem Fall ist das derselbe. Aber wer einmal einen Krimi geschrieben hat, läuft sozusagen mit einem grossen K auf dem Rücken herum. Zu Ihrer Frage: Ich finde in der Kriminalliteratur eine grosse Nähe zur Theologie. Sie handelt von den existenziellen Fragen, und es geht fast immer um ein Kapitalverbrechen und damit um den Tod. Damit wären wir beim christlichen Glauben, wo auch ein Justizskandal, eine Hinrichtung, im Zentrum steht.
Ihr neues Buch widmet sich nun ganz der Theologie. Was ist für Sie in der Theologie zentral?
Für mich existierten jahrelang zwei theologische Zugänge. Einerseits die paulinische Rechtfertigungslehre. Sie besagt, dass der Mensch sich die Gnade Gottes nicht verdienen kann, sondern dass sie ihm geschenkt wird. Andererseits die narrative Theologie, die sich für die biblischen Texte als Erzählungen interessiert. Irgendwann gerieten die beiden in Spannung, und die Rechtfertigungslehre kam mir etwas abhanden.
Warum?
Ich fühlte mich mit dieser Theorie zusehends im Leeren. Zugleich öffnete sich für mich mit dem Evangelisten Markus eine andere theologische Welt, die ich bisher gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. So spricht Markus – im Gegensatz zu Paulus – nicht von Sünde und Rechtfertigung, sondern von Krankheit und Heilung. Bei einer Heilung wie in Markus, Kapitel 2, muss ich nichts vermitteln. Da ist einer krank, will geheilt werden und wird geheilt, basta. Bei Paulus müsste Jesus dem armen Kranken erst einmal sagen: Du bist ein Sünder, und jetzt wirst du von deiner Sünde freigesprochen, und dann können wir sehen, ob sich das überhaupt noch lohnt, dass du geheilt wirst.
Und was heisst das konkret, wenn ich als Pfarrerin an einem Krankenbett bin?
Dass es Brot braucht, und keine theologische Patisserie. Einen Zuspruch, der mein Leben betrifft, und nicht irgendein theologisches Konstrukt von Sünde und Rechtfertigung.
Knellwolf: «Die Kriminalliteratur hat eine grosse Nähe zur Theologie.
Sie handelt von existenziellen Fragen.»
Das ist doch verrückt, einem Kranken beizubringen, er sei seit Adam ein Sünder. Der Herr Müller, der mit Krebs im Bett liegt, will geheilt werden oder zumindest die Zusage bekommen, dass das nicht seine letzte Station ist.
So etwas wie Sünde gibt es also gar nicht?
Das ist eine Frage der Definition. Dass wir Böses tun, ist ja nicht zu bestreiten. Wer nur auf die Geschichte eingeht, ohne theologische Konstrukte, kann Sünde schwer begründen. Denn wenn, wie bei mir in meinen Kriminalromanen meist, der Schuft die Hauptperson ist, identifizieren wir uns mit ihm und suchen Argumente zu seiner Entlastung. Dann kommen wir vielleicht darauf, dass er gar nichts dafür kann, weil ja sein Vater schon ein Schuft war. Und dessen Vater auch. Und schliesslich kommt man zu dem Schluss, dass der eigentliche Verantwortliche Gott ist. Denn wenn er nicht den Garten Eden so fragwürdig eingerichtet hätte, wäre es nie zum Sündenfall gekommen, und das Böse wäre nicht in der Welt. Das war ja absehbar, dass sein Verbot nicht eingehalten werden konnte.
Gott kommt in Ihrem Buch überhaupt nicht so gut weg. Sie sprechen von Gottes Schuld, gar von Gottes Schande. Und dann ist Gott auch noch ein Mann.
Daran werden sich wohl ein paar Leute stören. Es geht aber nicht darum, den Mann durch die Hintertür zu heroisieren, und selbstverständlich hat Gott auch starke weibliche Züge. Es ist einfach eine Erfahrung, dass im Familienverband der Mann häufig die problematische Grösse ist. Auf gesellschaftlicher Ebene ist das auch so: Drei Viertel aller Straftaten werden von Männern begangen.
Und was soll uns das sagen?
Die Metapher von Gott als Mann sagt, dass Gott seinen Weg in die Gesellschaft finden muss, um vom wilden Einzelgänger weg gesellschaftsfähig zu werden. Das habe ich beim Autor und Pfarrer Jeremias Gotthelf gelernt. In seinen Romanen und Novellen gibt es solche Einzelgänger, die erst zivilisiert werden müssen, um wieder Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein. In Uli der Pächter gibt es zum Beispiel den Hagelhans im Blitzloch, das ist eine eindeutige Gottesfigur. Ein Einzelgänger, der zivilisiert werden muss und in dem Moment menschlich wird, in dem er wieder in die Gemeinschaft eingegliedert wird. Das sind meiner Meinung nach Ansätze zu einer Geschichtstheologie, welche die Zivilisierung Gottes zum Ziel hat. Und Gott will sich ja zivilisieren lassen. Er will die Gemeinschaft mit uns Menschen.
Wie stark hat Sie Gotthelf theologisch inspiriert?
Sagen wir es so: Gotthelf war für mich ein theologisches Aha-Erlebnis in der Mitte meiner Pfarrerexistenz, woraus dann sogar eine Dissertation wurde. Ich Z halte Gotthelf für einen schwer unterschätzten Theologen. Zwischen den Theologen Heinrich Bullinger und Karl Barth kann ihm in der schweizerischen reformierten Theologiegeschichte keiner das Wasser reichen.
Zurück zu Gott. Viele werden es als ziemlich respektlos empfinden, wie Sie von ihm schreiben.
Man sollte sich als Theologe nicht von falschem Respekt leiten lassen. Ich rede in meinem Buch ja auch vom Unservater. Dieses Gebet hat eigentlich etwas «Un-Verschämtes». Es hört sich an, als würden Kinder fordernd und dennoch vertraut mit ihrem Vater sprechen.
«Der ideale Pfarrer nach Gotthelfs Vorstellung wäre heute ein fauler Kerl.»
Im Sinne von: Los jetzt, mach schon! Jesus ging mit Gott auch locker um. Das zeigt sich nur schon daran, dass er ihn Abba, also Vater, nannte.
Auch von Kirche und Gemeinde ist in Ihrem Buch eher Ungewohntes zu lesen. Die Forderung nach einer «lebendigen Gemeinde» scheint in Ihnen einen regelrechten Widerwillen hervorzurufen.
Das ist so. Der Begriff kommt ursprünglich aus der pietistischen Ecke (Frömmigkeitsbewegung innerhalb der evangelischen Kirche, die im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm, Anm. d. Red.). Im 19. Jahrhundert wurde dann die «lebendige Gemeinde» zu einem Leitbegriff der Praktischen Theologie. Gotthelf hat mir aber gezeigt, dass die Pfarrer, die er in seinen Texten positiv schilderte, aus heutiger Sicht faule Kerle wären. Sie halten Predigten und Abdankungen, sprich: Sie gehen nur dahin, wohin man sie ruft. Ich habe das Gefühl, Gotthelf sieht da etwas Richtiges. Nämlich dass die Aktivität des Pfarrers der Mündigkeit einer Gemeinde auch im Wege stehen kann.
Also sollen Pfarrer keine Hausbesuche mehr machen?
Das müsste man im Detail klären. In der Psychoanalyse habe ich allerdings gelernt, dass die Motivation für eine Therapie vom Patienten ausgehen muss, sonst ist die Übung für die Katz. Wir als Kirche sollten vielleicht weniger anbieten, dafür vermehrt warten, bis jemand etwas von uns will.
Und wer würde da noch kommen?
Wenn niemand in meinen Laden kommt, heisst das entweder, dass das Angebot schlecht ist, oder aber, dass niemand es kennt, weil ich als Inhaber mein Angebot nicht bekannt mache. Wir müssen davon reden – und zwar alle, nicht nur die sogenannten Amtsträger. Christen sollen lernen, den Mund aufzumachen. Ein Beispiel: Wenn ich in einem säkularen Rahmen Geschichten vorlese, kommt es immer zu einer Diskussion. In kirchlichen Kreisen fast nie. Das liegt daran, dass sich die Kirche viel zu stark um die Amtsträger gruppiert.
Mit Ulrich Knellwolf sprach Marianne Weymann.
Ulrich Knellwolf: Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Stückwerk zu Gott und der Welt. Theologischer Verlag Zürich; 352 Seiten; 33 Franken.