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Zeichnungen: Temo Pogosiani
Freitag, 29. Januar 2016

Das Jahr 2013 begann denkbar schlecht. Ich fühlte mich ausgelaugt, hatte mich heillos mit meinem Arbeitgeber zerstritten und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich taumelte kraftlos durch den Frühling und fühlte: Noch ein Windstosses und ich falle. Dann starb meine Mutter. Ich fiel in ein tiefes Loch. «Sie haben eine Depression», teilte mir mein Psychiater mit. Er verschrieb mir farbige Tabletten, die wie kleine Zeppeline aussahen. Bald ging es mir besser. Nach einigen Monaten konnte ich die Medikamente absetzen.

Zurück blieb eine leichte Melancholie, ein leises «Vanitatum Vanitas» – «Alles ist eitel» am Grund meiner Seele. Oft dachte ich über den Tod nach. In diesen Momenten kam es mir vor, als wäre das Beste in meinem Leben vorüber. Ich war bald Mitte vierzig, und natürlich fragte ich mich, ob das nun schon die Midlife-Crisis war. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Bedürfnis, mich beraten zu lassen. Doch von wem? Der Beratungsmarkt glich einem unüberschaubaren Dickicht. Sollte ich eine kirchliche Seelsorge aufsuchen? Oder wäre ich bei einem weltlichen Lebensberater besser aufgehoben? Ich brauchte dringend eine Strategie.

«Trial and error» – «Versuch und Irrtum», meinte ein Freund, dem ich meine Lage geschildert hatte, lakonisch. «Warum beginnst du nicht mit einer kirchlichen Seelsorge und besuchst anschliessend noch einen weltlichen Lebensberater?» Ja, wieso nicht? Das kirchliche Angebot war zweifellos überschaubarer. Und danach würde ich Zeit haben, mich um eine weltliche Beratung zu kümmern. Also begann ich, nach einem Pfarrer zu suchen. Zugegeben, bei dem Gedanken, mich in christliche Seelsorge zu begeben, war mir etwas mulmig zumute. «Zeit, dass dir jemand die Leviten liest», scherzte mein Freund. Aber es kam anders.

Heimito Nollé, Ratsuchender: «Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Bedürfnis, mich beraten zu lassen. Doch von wem?»

Ein Wunder geschehe

Zürich, Seefeldstrasse. Hier hat Pfarrer Res Peter von der Kirchgemeinde Zürich-Neumünster sein Büro. Bei ihm bin ich zur Seelsorge angemeldet. Als ich eintreffe, kommt mir ein quirliger Mann um die fünfzig in Jeans und Hemd entgegen. Pfarrer Peter ist mir auf Anhieb sympathisch. Mit seinem zerzausten Haar macht er den Eindruck eines in die Jahre gekommenen Lausbuben. Sein Büro ist nüchtern eingerichtet, ein grosses blaues Gemälde an der Wand, auf der Ablage eine wuchtige antike Bibel, daneben der Psalm: «Befiehl Gott deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.» Auch ich hoffe jetzt – auf Pfarrer Peter. Wir setzen uns an einen grossen runden Tisch. Es kann losgehen.

«Was erhoffen Sie sich von unserem Gespräch?», fragt mich Peter. Ich suche nach Worten, bin es nicht gewohnt, mein Inneres auszubreiten. Irgendwie bekomme ich meine Geschichte doch zusammen; erzähle von meiner Lebenskrise, den Tabletten, der Angst vor dem Tod. Pfarrer Peter hört aufmerksam zu, erkundigt sich nach Details. «Und nun wollen Sie erfahren, was hinter diesen Ängsten steht?» fragt er. Will ich das? Nein, eigentlich will ich gar nicht so tief in meine Psyche hinabsteigen. «Ich will eher erfahren, wie ich damit umgehen kann», antworte ich. Peter überlegt, fragt dann: «Sind Sie bereit, sich auf ein Gedankenexperiment einzulassen? Es braucht etwas Phantasie dafür.» Ich bin bereit.

«Stellen Sie sich vor, der Tag verläuft wie immer. Abends kommen Sie nach Hause, machen alles so wie immer und gehen dann zu Bett. Irgendwann schlafen Sie ein. Und dann geschieht etwas: ein Wunder. Alle die Probleme, die Sie gerade beschäftigen, sind gelöst. Sie merken das aber nicht, denn Sie schlafen. Woran merken Sie am nächsten Morgen, wenn Sie aufwachen, dass ein Wunder geschehen ist?» Da ist es also schon, das Wunder, denke ich mir. Ich bin ja auch in einer christlichen Seelsorge. Doch wie fühlt man sich, wenn ein Wunder geschieht? Ich versuche zu phantasieren. «Ich fühle mich leichter», antworte ich. «Mein Kopf ist frei, ich bin voller Energie und Tatendrang.» – «Sehr schön», meint Peter, «erzählen Sie weiter.» Ich male mir aus, wie ich entspannt und voller Neugier in den Tag gehe. «Ich spüre eine innere Freude, und ich mache Pläne für die Zukunft», fabuliere ich.

Peter will es genauer wissen: «Was sind das für Pläne? Erzählen Sie mir, wie Sie Ihre Zukunft gestalten. Möglichst plastisch.» Plastisch, das ist das Wort, das Peter an diesem Nachmittag noch öfter aussprechen wird. Es gehe darum, sich eine innere Haltung möglichst lebendig vorzustellen. Je besser das gelinge, umso grösser sei die Chance, diese Haltung dann auch wirklich einzunehmen. Ich grüble. «Vielleicht würde ich ein paar Sachen in meinem Lebenswandel ändern», sage ich schliesslich. «Ja, aber nicht ‹vielleicht›», korrigiert Peter, «Sie sind immer noch im Wunder, es ist Realität.» – «Also, vielleicht würde ich – nein, ich werde mehr Sport treiben», entgegne ich. (Das stimmt nicht. Ich bezweifle, dass ich das tun werde. Es bleibt meine einzige kleine Schwindelei an diesem Nachmittag.)

«Erzählen Sie mir, wie Sie Ihre Zukunft gestalten. Möglichst plastisch.» Res Peter

Die nächsten fünfzehn Minuten versucht Pfarrer Peter, meine eingeschlafene Phantasie zu mobilisieren. Ich merke, dass sich in mir etwas rührt.

Die Zukunft erscheint plötzlich verheissungsvoller, gestaltbarer. «Bleiben wir an dem Bild dran», sagt Peter. «Beschreiben Sie mir das Zukunftsbild, das Sie am Morgen nach dem Erwachen sehen. Sie haben es ja jetzt vor sich.» Ich schildere ihm mein inneres Bild: Es ist eine weite hellgelbe Fläche. Verteilt über die Fläche liegen viele orangefarbene Fäden, die in den Horizont führen. Diese Fäden seien die Möglichkeiten, die sich in der Zukunft bieten, erkläre ich. «Sehr schön», meint Peter. «Und wie fühlt sich das an?» – «Es fühlt sich gut an», antworte ich. «Ich fühle mich ein bisschen wie ein Kind, das Lust hat, an diesen Fäden zu ziehen.» – «Schön, sehr schön», bestärkt mich Peter.

Res Peter, Pfarrer: «Es ist entscheidend zu merken, wann man in negative Gedanken abdriftet.»

Pfarrer Andreas Peter (51) hat eine Ausbildung als Primarlehrer absolviert und studierte dann Theologie an der Universität Zürich. Danach war er mehrere Jahre als Assistent in theologischer Ethik in der Westschweiz tätig. Seit dreizehn Jahren ist Peter Pfarrer, zunächst in Bülach, danach in der Kirchgemeinde Neumünster in Zürich. Andreas Peter hat eine Ausbildung (CAS) als prozessorientierter Seelsorger. Zurzeit schreibt er an seiner Dissertation über Derrida mit dem Titel Gerechtigkeit und unbedingte Gastfreundschaft. Zudem engagiert er sich für das bedingungslose Grundeinkommen. no

Den Tag designen

Ein paar Minuten bleiben wir noch im Wunder. Ich soll mir vorstellen, wie meine neue Haltung auf die Personen wirkt, die mir nahestehen. Dann steigen wir aus dem Experiment aus. Pfarrer Peter lobt mich: «Sie haben richtig gestrahlt, als Sie mir die Geschichte mit den Fäden erzählt haben.» «Schön», denke ich jetzt auch. Und tatsächlich spüre ich eine innere Freude.

Es bleiben uns noch zwanzig Minuten. Nun folgt der schwierige Teil. Meine neue Haltung soll in eine Tagesstruktur integriert werden. «Wo möchten Sie gerne anknüpfen?» fragt mich Peter. Ich erkläre ihm, dass mir das Gefühl der Leichtigkeit und Entspanntheit nach dem Erwachen gut gefallen habe. Und dass ich mir wünschen würde, gelassener in den Tag zu gehen. «Normalerweise beginne ich den Tag mit Kaffee und Zigarette und schalte auch gleich das Handy ein», klage ich. «Gut, dann versuchen wir jetzt, Ihren Morgen so zu gestalten, dass Sie die neue Haltung bewahren», sagt Peter. «Wir designen jetzt Ihren Start in den Tag, okay?» Ich bin einverstanden.

«Beginnen Sie mit der Zeit. Wann stehen Sie auf?»

«Zwischen 6 und 7 Uhr, je nachdem.»

«Gut, aber jetzt wollen wir es ganz konkret. Wir stellen uns vor, wie Sie es morgen machen.»

«Ich stehe um halb sieben auf.»

«Sehr schön. Und was machen Sie dann?»

«Ich würde als erstes in die Küche gehen.»

«Ja, aber sagen Sie jetzt nicht mehr ‹würde›, wir machen jetzt einen konkreten Plan. Wir designen jetzt.»

«Also, ich gehe nach dem Aufwachen in die Küche. Und dann habe ich Lust auf einen Kaffee und eine Zigi.»

«Ja, das ist gut, bleiben Sie realistisch. Und jetzt?»

«Ich stelle Kaffee und Zigi erstmal zurück und mache mir einen Tee.»

«Was für einen Tee? Wir wollen es möglichst plastisch.»

«Einen Grüntee. Dann gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich aufs Sofa und denke an nichts.»

«Schön. Und jetzt haben Sie doch einen unangenehmen Gedanken, was machen Sie dann?»

«Ich versuche, das auszuhalten.»

«Und wie halten Sie das aus?»

Hier bin ich ratlos. Es sei hilfreich, meint Peter, in solchen Situation bewusst in die Gegenwart zurückzukommen. Es sei entscheidend zu merken, wann man in negative Gedanken abdrifte. Einfache Meditations- und Atemübungen könnten diese Fähigkeit stärken. Es könne auch helfen, an etwas Schönes zu denken und sich zum Beispiel die nächsten Ferien auszumalen.

«Gut, dann versuchen wir jetzt, Ihren Morgen so zu gestalten, dass Sie die neue Haltung bewahren. Wir designen jetzt Ihren Start in den Tag.» Res Peter, Pfarrer: «Es ist entscheidend zu merken, wann man in negative Gedanken abdriftet.»

Unsere Zeit neigt sich dem Ende zu. Ich bekomme Hausaufgaben. Morgen soll ich versuchen, die neue Tagesstruktur umzusetzen. Und ich soll mir eine einfache Meditationsübung vornehmen. Zum Schluss fragt mich Peter, ob er ein Gebet sprechen dürfe. Ich willige ein. Peter bittet den Herrn um Lebensfreude für mich. Und er bittet ihn darum, etwas Speed aus meinem Leben zu nehmen. Ich bin gerührt. Wir schliessen unser Gespräch mit dem Vaterunser.

Als ich auf die Strasse trete, fühle ich mich leicht. Es ist ein milder, sonniger Dezembertag. Die Zukunft liegt offen vor mir. Überall sehe ich die Fäden, an denen ich bloss zu zupfen brauche. Das Bild begleitet mich durch den Tag.

Im Beratungsdschungel

Ein paar Tage später sitze ich am PC und google Lebensberatungen. Zum ersten Mal bereue ich es, dass ich mich auf dieses Experiment eingelassen habe und nun auch noch einen weltlichen Lebensberater aufsuchen soll. Es gibt im Netz nichts, was es nicht gibt: astrologische, spirituelle, mediale, ayurvedische, schamanische, ganzheitliche und telefonische Lebensberatungen. Die Seiten sind bunt und weltanschaulich. Bald schon bin ich völlig orientierungslos und überfordert. Nach zwei geschlagenen Stunden bin ich drauf und dran, den Bettel hinzuschmeissen. Aber dann stosse ich auf eine besondere Seite.

Als ich sie öffne, blitzt mir ein Sheriffstern mit der Inschrift «Break the rules», «Brich die Regeln» entgegen. Im Hintergrund sind Cowboymotive zu sehen, und melancholische Saxophonklänge beschwören die Atmosphäre eines alten Italowesterns herauf. Mit metallischem Klicken reihen sich auf der linken Seite Gewehrpatronen zu den einzelnen Menu punkten auf. Ich fahre mit der Maus darüber und höre das Durchladen einer Flinte. Dann ertönt ein «Woosh» wie vom Blitz einer alten Kamera, und im Bild erscheint ein schwarz gekleideter Magier mit Zauberstab und schwarzem Hut. Es ist Chris von Rohr, der Schweizer Altrocker der Band Krokus.

Chris von Rohr macht Lebensberatungen? Ich habe Vorbehalte. Dennoch klicke ich auf den Menupunkt «Coaching». Richtig professionell klingt das nicht, was ich da zu lesen bekomme. Ich finde keine Verweise auf eine wissenschaftliche Methode und suche vergeblich nach Ausbildungen und Diplomen. Dafür heisst es: «Unbrauchbare, praxisferne sogenannte Experten, Psychologen und Akademiker wollen uns sagen, was Sache im Leben ist.» Und: «Meistens ist es nur Schrott, der für dich nicht passt.» Ich bin hin- und hergerissen. Doch dann stosse ich auf eine Formulierung, die mir ausgesprochen gut gefällt: «Also, keine falschen Hemmungen, melde dich – ich werde dir auf den Zahn fühlen und die Wurzel-OP vollbringen.» Ist das nicht genau die Direktheit, die ich gesucht habe? Ich lege meine Hemmungen ab und schreibe eine E-Mail. Kurz darauf bekomme ich Antwort von Chantal, von Rohrs Sekretärin. Sie kommt sympathisch rüber und ist unkompliziert. Zwei Wochen später habe ich einen Termin in der Villa des Altrockers.

Chris von Rohr, Life-Coach: «Fakt isch, d’Höll exischtiert nume uf Ärde.»

Altrocker Chris von Rohr (64) hat in seinem Leben einiges erreicht: Er war Rockmusiker, Musikproduzent, Autor, Kolumnist und Radio- und Fernsehmoderator. Nach Auflösung der «erfolgreichsten Schweizer Rockband aller Zeiten» (Chris von Rohr) Krokus 1989 brachte von Rohr als Produzent die Hardrock-Band Gotthard auf Erfolgskurs. Daneben schrieb er mehrere Bestseller und moderierte am Radio unter anderem die Sendung «Volles Rohr». Als Juror der Castingshow «Musicstar» erlangte von Rohr mit dem Slogan «Meh Dräck» Kultstatus. Heute ist er als Kolumnist der Schweizer Illustrierten tätig. Daneben bietet er Life-Coachings bei sich zuhause an. no

Termin zur Wurzel-OP

Solothurn, Loretostrasse. Es nieselt. Ich warte unter dem Dach des alten Franziskanerklosters, wenige Schritte von der Villa von Rohrs entfernt. Kurz vor halb vier gehe ich los. Ich bin nervös, immerhin soll mir gleich ein Zahn gezogen werden. Ich öffne das Gartentor, und noch bevor ich an der Haustür bin, tritt Chris von Rohr heraus. Wir duzen uns gleich. Der Rocker ist leger angezogen, trägt eine schwarze Trainerhose, ein ausgewaschenes T-Shirt und ein Stirnband mit Totenkopfmotiv. An der Garderobe muss ich die Schuhe ausziehen, dann führt mich Chris in die Stube. Es ist heimelig warm, die Wohnung ist farbenfroh eingerichtet, gemütlich. Wir setzen uns an einen langen Holztisch, auf dem liebevoll arrangiert die gesammelten Werke von Chris liegen: Sternenstaub, Götterfunken, Bananenflanke. Chris zündet drei Adventskerzen an, ein Krug mit Zitronellentee steht bereit. Eine stimmige Atmosphäre, ich fühle mich wohl.

«Unbrauchbare, praxisferne sogenannte Experten, Psychologen und Akademiker wollen uns sagen, was Sache im Leben ist.» Chris von Rohr

Wenn es mir recht sei, würden wir gleich das Finanzielle regeln, meint Chris. Ich zücke mein Portemonnaie, reiche ihm dreihundert Franken. «Cash vor Ort», so hiess es in Chantals E-Mail. Ich erinnere mich daran, dass Chris in einem Interview davon sprach, die Preise an seine Kunden anzupassen. Davon ist jetzt nicht die Rede. Es ist mir egal, mein Zahn schmerzt.

Danach kommt Chris gleich zur Sache: «Weisch», sagt er mir, er sei nicht hier, um zu plaudern und Händchen zu halten. Er habe meine Unterlagen durchgelesen und jetzt müsse ich mir das einmal vorstellen: Er sei 65, und ich erst 45. Das sei doch nicht einmal die Pubertät des Alters. Da stimme bei mir doch etwas Grundsätzliches nicht.

Das sitzt. Ein Blick in meine Seele, und die Karies ist entdeckt. Jetzt muss ein Röntgenbild erstellt werden. Chris fragt nach meiner Vergangenheit, will wissen, wie ich aufgewachsen bin, was für ein Verhältnis ich zu meinen Eltern gehabt habe.

«Was du bruchsch, isch e Schocktherapie!» Chris von Rohr, Life-Coach: «Fakt isch, d’Höll exischtiert nume uf Ärde.»

Er will «checken», wie alles angefangen hat. Ich erzähle. Chris hört zu, stellt Zwischenfragen. Dann nimmt er einen Schluck Tee, lehnt sich zurück, überlegt.

«Okay, verstohsch», holt Chris dann in seinem Solothurner Dialekt aus, er schreibe gerade an einer Kolumne über «Spiritualität im Alltag», und dabei sei er auch mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert. Und bei ihm sei essenziell gewesen, dass er genau das gemacht habe, was ihm Spass gemacht habe. Das müsse ich mir auch einmal überlegen. Ich müsse eine Beschäftigung finden, die für mich einfach das Geilste sei, was es gibt. Ich sei in meinem Kopf gefangen, mit täglich 40 000 Gedanken, und ich müsse unbedingt etwas finden, das mich wieder mit meinem Inneren verbinde. Denn diese Verbindung hätte ich verloren, so laute seine Diagnose.

Der faule Zahn ist lokalisiert. Ich möchte etwas einwenden, merke aber, dass Chris jetzt in Fahrt kommt.

«Weisch», fährt Chris fort, das einzig Positive sei, dass ich einen Hund habe. Und das sei typisch, denn ein Hund sei gut für die Seele. Aber jetzt müsse ich meine zweite Lebenshälfte anders gestalten. Das Stichwort scheint Chris an meine Gedanken an den Tod zu erinnern. Er wolle mir etwas zeigen, meint er, verschwindet ins Wohnzimmer und kommt mit einer orangen Schnur zurück, in der sich ein Knoten befindet. Das sei eine Lebensschnur, erklärt Chris, und der Knoten sei der Punkt, an dem man sich gerade befinde. Ich merke, Chris möchte mir die Angst vor dem Tod nehmen. «Weisch», fährt er fort, der Tod sei unser ständiger Begleiter, aber es gebe «good news», denn der Tod sei auch die Erlösung. Die ganzen der Religionen seien «bullshit», doppelt Chris nach, Fakt sei, die Hölle existiere nur auf Erden.

Der Altrocker läuft zur Hochform auf, wird leidenschaftlich. Ich merke, wir berühren seine Kernkompetenz, die Gegenwartsdiagnostik.

«Du muesch din huere Verstand zruggbinde, will das isch eifach
Scheisse.» Chris von Rohr

Es sei nun mal so, dass wir ungefragt in die Welt gesetzt würden, und der Mensch habe hier ein verdammtes «Ghetto» angerichtet. Ich könne ja selber sehen, was alles abgehe, es sei «crazy».

Wir lebten in einer kranken Gesellschaft, wettert Chris, und obwohl der Mensch technologisch so fortgeschritten sei, sei er im Grunde immer noch ein «verdammter Höhlenbewohner mit Flatscreen». Chris zitiert sich, denn «Höhlenbewohner mit Flatscreen» lautete eine Kolumne, die er für die Schweizer Illustrierte verfasst hatte.

Aber das ist nicht der Gedanke, den ich im Moment habe. Im Moment überlege ich mir, was das noch mit mir zu tun hat. Doch Chris lässt sich nicht bremsen. Er redet von Hunger, Armut, Klimawandel und sinniert über Anthropologisches: Entweder sei der Mensch eine Fehlkonstruktion, oder Schule und Eltern hätten versagt, donnert Chris. Auf jeden Fall habe man nicht kapiert, was abgeht, und schon gar nicht im «Disneyland Switzerland». Die Kraftwörter häufen sich merklich. Ich nicke nur, denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass eine Bemerkung von mir jetzt als Störung empfunden würde. Überraschenderweise erwischt Chris dann doch wieder die Kurve, bemerkt selbst, dass er immer noch mit der Lebensschnur in seiner Hand spielt. «Äbe», und ich stünde jetzt da und da auf meinem Lebensweg und müsse mir einfach sagen «Ey friends», ich geniesse jetzt einfach das Leben mit allem, was es zu bieten hat. «Aber», Chris’ Stimme wird mahnend, das gehe nur, wenn ich die Verbindung zu meinem Innern wieder finde: «Du muesch din huere Verstand zruggbinde, will das isch eifach Scheisse», ich könne mein Glück nur in mir, nicht im Aussen finden. In diesem Moment summt Chris’ Handy, eine SMS, er entschuldigt sich. Ich nehme einen Schluck vom Tee, er schmeckt köstlich.

Nach Indien?

Etwas später meint Chris, er habe jetzt ein Bild von mir. Ich schlucke und ahne, dass wir uns dem operativen Eingriff nähern. Chris faltet die Hände, beugt sich über den Tisch vor. «Verstohsch», sagt er, was ich brauche, sei eine Schocktherapie. Ich müsse eine radikale Selbstheilung einleiten. Wahrscheinlich erblasse ich in diesem Moment, denn Chris schiebt nach: «Andersch goht das nid!» Ob ich mir vorstellen könne, mich ein halbes Jahr nach Indien zu verabschieden? Ich fühle mich überrollt. «Weisch», erklärt Chris, als er mich das erste Mal gesehen habe, habe er sich gleich gedacht: Den musst du nach Indien schicken, aber subito! Zur Selbstfindung nach Indien? Ich werde mit dem Gedanken nicht richtig warm und wende ein, dass ich grade eine neue Stelle angenommen hätte.

«Das isch jetzt eifach chli bitter für dich, Amigo.» Chris von Rohr

Aber Chris macht mir Mut: Ich sei nicht zu alt, ich könne auch erst noch ein oder zwei Jahre «chrampfe». Ich bin erleichtert, aber das sage ich nicht.

Für die Zwischenzeit empfiehlt mir Chris Yoga und Ballspiele, um das spielerische Element in mein Leben zu bringen. Unser Gespräch beginnt zu mäandern. Wir reden über das Schreiben, über Beziehungen, die Ernährung («mir frässe zviel») und das Rauchen (den «enemy number one»). Ich erfahre, welche Faktoren den Menschen im wesentlichen bestimmen (die Gene, das Umfeld und die Sternkonstellation) und kenne endlich die wahren Gründe für Osteoporose. Am Ende entdeckt Chris noch eine Schwachstelle. Was denn eigentlich falsch gelaufen sei, dass meine Partnerin und ich keine Kinder hätten. Ich antworte ihm, das sei eine bewusste Entscheidung gewesen. Chris schüttelt den Kopf. Es gebe nichts, was für die Seele so gut sei wie ein Kind, meint er. Ein Kind sei eine Art gesteigerter Hund. Niemals hätte er ohne seine Tochter Songs wie «Heaven» schreiben können. «Das isch jetzt eifach chli bitter für dich, Amigo», und ich spüre, wie Chris mich aufrichtig bedauert. Egal, die Zeit ist um, Chris schenkt mir noch sein Kolumnenbuch Sternenstaub, dann verabschieden wir uns. Als ich die Loretostrasse entlang zum Bahnhof gehe, lese ich die Widmung: «For H., some food for heart and soul, Chris».

Was bleibt

Ein paar Wochen später. Zeit für eine Bilanz. Zunächst: Ich bin immer noch in der Schweiz. Ich glaube nicht, dass Indien eine Option für mich ist. Aber wer weiss schon, was die Zukunft bringt. Ich besuche auch keinen Yogakurs. Dafür bin ich wohl einfach nicht der Typ.

Hat sich mein Alltag verändert? Auf den ersten Blick ist nicht viel anders geworden. Aber wie Pfarrer Peter mich lehrte: Es sind die kleinen Schritte, die einen weiterbringen. Veränderungen sind Prozesse, die langsam vor sich gehen. Eine Lebensberatung krempelt kein Leben um. Aber sie kann etwas anstossen. So trinke ich morgens meinen Grüntee und übe mich in Gelassenheit.

Bei Res Peter schätzte ich die Beharrlichkeit und den Realitätssinn. Er machte mir klar, dass Veränderungen mein eigenes Zutun erforderten. Dass ich aber auch Geduld haben und auf meine eigene Kraft vertrauen darf. Chris dagegen war der Mann der grossen Taten, der Visionär. Von ihm lernte ich, dass es manchmal auch nötig ist, Brücken abzubrechen und das Unmögliche zu versuchen. Entgegen allen Konventionen.

Mit einem positiven Nebeneffekt der Lebensberatungen habe ich allerdings nicht gerechnet: wie schön es ist, über mein Leben wieder selber zu bestimmen.

Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.
Der Illustrator Temo Pogosiani lebt in Berlin.