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Autorin: Melanie Keim
Freitag, 09. August 2024

Gott behüte diese Alp», steht auf einem rostigen Kreuz, das in der vom vielen Regen zerfurchten Weide steckt. Die verwitterte Holzhütte daneben ist mit «Sauböhl» angeschrieben. Noch sind wir also nicht da. Doch kurz darauf, inmitten von grasenden Kühen, wird klar, welche der fünf Alphütten in der Weidefläche hinter dem Sämtisersee die Alp Streckwees sein muss. Vor einem mit Blumen geschmückten Vorgarten geht ein Mann leicht gebückt, mit dem humpelnden und gleichzeitig kraftvollen Gang der Bergler auf eine Hütte zu, die in den Hang gebaut ist.

Das muss Andreas Inauen sein: 78 Jahre alt, vier Jahre älter als seine Frau Mina. Zusammen schauen die beiden zu 35 Tieren – Kühen, Kälbern und Rindern. Sie gehören dem ältesten Sohn, der ihren Betrieb im Dorf Appenzell übernommen hat. Ob es ihr letzter Sommer im Alpstein sein wird? Vielleicht. Doch noch arbeitet das eingespielte Team weiter. Als wir ankommen, bücken sich die beiden vor der Hütte gerade über einen Plastikbottich mit grauen Klumpen. Sie mischt Silizium und Steinmehl unters Salz, zerreibt mit raschen Bewegungen die Klumpen.

Als alles verteilt ist, hält er einen abgewetzten Plastiksack hin, in den sie das Salz hineinleert. Dann macht er, der nicht mehr so gelenkig ist, sich auf, um das Salz auf den Weiden für die Kühe auszustreuen. Sie, barfuss, flink und kräftig, holt im Haus Holundersirup für die Gäste und sagt: «Setzt euch doch hin. Es kostet gleich viel.»

Tiere, Pflanzen und der Mensch – alle sind gleich

Bei Mina und Andreas Inauen ist die Arbeit traditionell verteilt. Sie ist für das Haus zuständig, er für das Vieh, sie hilft ihm dabei als Zusenn, wie sie ihre Rolle beschreibt. Wenn am Abend die Tiere versorgt sind und der Schatten den Berg hinuntergewandert ist, setzt er sich auf die Bank vor der kleinen Hütte und hört ihr zu, wie sie ihr «B’hüets Gott ond erhalts Gott» singt, den Holztrichter auf die eindrücklichen Berge gerichtet.

Wir sind nach Appenzell Innerrhoden gereist, um diese Frau kennenzulernen, die als eine von wenigen Frauen in der Schweiz den Alpsegen ausruft. Die gesungene Fürbitte, dieser intime Moment am Ende des Tages, ist nur ein kleines Puzzlestück, das sich in ein mächtiges Bild einfügt: Da, mitten im Alpstein, steht eine Frau, die eins ist mit der Natur und ihrer Umgebung. Eine Frau, die unabhängig und verwurzelt ist, stark und bestimmt. Die sagt: «Ein Käfer hat die gleiche Daseinsberechtigung wie ich. Tiere und Pflanzen sind gleich wie du.» Und die kurz darauf eine Fliege im Schnaps ertränkt und fragt: «Willst du auch einen Schluck?»

Das ist Mina, sie öffnet ihre Alphüttentüre weit und weiss, wie sie ihre Gäste unterhalten kann.

Nach dem Mittag sitzen wir auf der kleinen Terrasse vor dem Haus, die Inauen in ein kleines Paradies verwandelt hat. Die Holzplattform ist von skulpturenähnlichen Steinen und knorrig verwachsenen Ästen gesäumt, dazwischen stehen üppig bepflanzte Blumentöpfe. Die Blumen zieht die Bäuerin auf dem Hof im Dorf Appenzell, die Steine und Äste hat sie über die Jahre hinweg auf ihren Streifzügen in den steilen Hängen des Alpsteins gesammelt.

Dieses Jahr sei sie noch nicht weit gekommen. Gerade einmal vier Tage ohne Regen hätten sie in den sieben Wochen seit dem Alpaufzug gehabt, sagt Inauen und streckt die Füsse in die Sonne. Weil das Gras nass und zertreten war, habe das Vieh auch nicht mehr gut gefressen. Und drinnen, in der Hütte sei es oft nasendüster gewesen.

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Doch jetzt ist der Sommer endlich da, und mit ihm sind es auch die Wanderer. Die meisten kommen nicht hier, sondern bei der gegenüberliegenden Alp vorbei. Am Sämtisersee sei es nicht so schlimm wie am Seealpsee, sagt Inauen. Sie hat keine besondere Freude daran, dass das Alpsteingebiet seit einigen Jahren überrannt wird. Dass sie im Winter, wenn sie einmal pro Woche mit den Schneeschuhen nach oben kommt und in der Hütte eine Suppe oder einen Tee kocht, nicht mehr für sich ist.

Doch als zwei Wanderinnen auf dem Weg zwischen Hütte und Stall vorbeigehen, ruft sie diesen laut zu, dass der Zaun nicht zwicke, und sagt dann mit einem verschmitzten Lachen und einer ausladenden Handbewegung zum Holzzaun hin: «Hier hat man doch etwas Distanz.» Genauso hat es die fünffache Mutter wohl mit allem gemacht in ihrem Leben: Sie hat sich ihren Platz genommen.

Üppig bepflanzte Blumentöpfe und knorrige Äste: Auf der kleinen Terrasse vor der Hütte sitzen Mina und Andreas beim Zmorge.

Mit zwölf Jahren verbringt Mina Inauen ihren ersten Sommer auf der Alp Streckwees. Die Alp gehört zur Hälfte ihrem Vater, einem Kleinbauern aus Appenzell Dorf. Er nimmt die Tochter über den Sommer aus der Schule, wie es den Bauern damals erlaubt ist. Zweimal verbringt das Mädchen 13 Wochen mit ihrem Vater hier oben, «als Handbub» wie sie sagt. Die Milch wird von Hand gemolken und zentrifugiert, den Schmalz, so nennt sie die Butter, trägt der Vater am Abend zu Fuss ins Tal.

Einmal fragt der Milchkontrolleur, der regelmässig vorbeikommt, wer auf dieser Alp den Alpsegen rufe. Die Fürbitte ist Männersache, doch das interessiert den Kontrolleur nicht. Er nimmt den unbenutzten Holztrichter von der Wand und bringt dem Mädchen bei, wie man den Alpsegen in Appenzell Innerrhoden singt.

Die Worte des Ave-Maria findet Mina im Gebetsbuch des Vaters wieder, die archaisch klingende Melodie muss sie sich einprägen. Denn sie wird sie lange weder hören noch singen – bis sie rund 30 Jahre später, Mitte der 1990er Jahre, mit ihrem Mann und der Familie jeweils am Wochenende von Appenzell Dorf auf die Alp fährt, die nun ein Angestellter bewirtschaftet. Und dort hinsteht und am Abend die gesungene Fürbitte um Schutz in den Trichter ruft.

Ein Appenzeller Alpsegen an der Landi 1939

Inauen kennt die Geschichte des Appenzeller Alpsegens. Sie weiss, dass diese Tradition, die im Alpstein bis auf das 15. Jahrhundert zurück belegt ist, nach dem Zweiten Weltkrieg gezielt gefördert wurde. Im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung wurde an der Landesausstellung in Zürich 1939 ein Appenzeller Alpsegen in die grossen Festspiele integriert; 1948 vereinheitlichte und verschriftlichte ein Kapuzinerbruder den Segen für den Kanton Appenzell Innerrhoden.

Wie gelangte der Holztrichter auf die Alp Streckwees? Solche seien 1848 gestiftet und auf allen Alpen verteilt worden, sagt Inauen. Auf den umliegenden Alpen, auf der Fälenalp, der Furgglenalp oder der Meglisalp werde der Segen ebenfalls gerufen. Doch gehört und gesehen habe sie das selbst nie. «Ich war ja immer hier.»

Seit 2003 bewirtschaftet das Ehepaar die Alp im Sommer. Zehn Jahre lang fährt Inauen zwischendurch nach Appenzell zum Arbeiten. Sie unterrichtet als Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin, bis sie 2013 pensioniert wird. «Hier schätze ich die Einfachheit», sagt sie, als sie ihre Hütte zeigt, in der es keinen Strom gibt, nur kleine Löcher in der Wand, durch die der Wind zieht.

Wie alt die Holzhütte ist, die sie hälftig von ihrem Vater geerbt hat – die andere Hälfte kaufte ihr Sohn einem Verwandten ab – weiss Inauen nicht genau. 300- bis 400jährig schätzt sie und fügt an, dass kürzlich der Denkmalschutz da gewesen sei: Die Hütte mit ihrer ursprünglichen Form soll ins Inventar der denkmalgeschützten Bauten aufgenommen werden.

Aufgeräumte Stimmung: In der Alphütte hat alles und jedes seinen Platz.

In dem kleinen Raum hat gerade das Nötigste Platz: ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, ein Campingherd und ein Ofen, sowie ein grosser Kessel, in dem früher Käse gemacht wurde. Heute wäscht Inauen hier die Milchkessel aus. «Wenn ich etwas Neues reinnehme, muss ich genau überlegen, wo es hinkommt», sagt sie und zieht ein Tuch zur Seite, hinter dem sich Pfannen und Kochbesteck verbergen.

In der fein säuberlich eingerichteten Hütte hat es so Platz für allerlei Schmuck: Hinter dem Bett hängen drei mächtige Kuhglocken mit farbigen Nackenbändern, daneben eine Milchkanne mit Appenzellerbemalung. Da hängt ein gerahmtes Ave-Maria über einem Plüschhund, dort baumelt Tierhaar von der Decke und im Türrahmen stecken lange Federn. Es ist ein Bild der Genügsamkeit und der Fülle. Und man versteht, dass diese Frau am liebsten nicht weiter als eine halbe Stunde von zu Hause weg ist. Hier findet sie viel Schönheit in dem, was sie umgibt.

Inauen zieht unter dem Bett mit der rot-weiss-karierten Decke ein paar «Beinkühe» hervor. Die kleinen Tiergestalten hat sie aus alten Christbäumen geschnitzt. Ihr Mann schlafe oben im kleinen Matratzenlager, sagt sie und fügt hinzu: «Sonst gibt es nur noch mehr Goofen.» Sie dreht sich um und lacht laut mit über diesen Witz, als hätte sie ihn zum erstenmal gemacht.

Fünf Kinder und sechzehn Grosskinder hat das Ehepaar, alle leben heute im Dorf Appenzell. Sie sei kein Grosi, das die Kinder jede Woche hüte, sagt sie und fügt mit einem schelmischen Blick hinzu: «Zum Glück bin ich eben hier.» Doch gleich stellt sie klar: Wenn jemand in der Familie Hilfe brauche, dann stehe sie sofort zur Seite. Wer hat denn als nächstes Geburtstag in der Familie? Sie überlegt kurz und sagt: «Hier lebt man nicht nach dem Kalender oder dem Datum. Hier lebst du den Tag.»

Immer wieder geht bei diesem Besuch das Ernste ins Lustige über. Das Grosse vermischt sich mit dem Kleinen. Das Gespräch über den Tod endet im Lachen, die Maus im Plumpsklo neben der Hütte. Und wenn Inauen sagt, dass man die Natur hier oben viel intensiver erlebe, wenn sie von den Gewittern schwärmt und davon, wie das Rollen nicht mehr aufhört, klingt das anders, als wenn Menschen von ihren Retreats in den Bergen schwärmen. Denn sie sagt: «Das ist mein Zuhause.»

Für sie gibt es nichts Schöneres, als zuzuschauen, wie am Morgen die Sonne über dem Hohen Kasten aufgeht und alles rot leuchtet. Den Sämtisersee, den sie von der Hütte aus knapp sieht, bräuchte sie nicht. Denn schwimmen können sie und ihr Mann ohnehin nicht. Aber die Bergketten und -türme, in die sie eingebettet ist, der Wechsel von Tag und Nacht, das Leben im Rhythmus der Tiere, das alles gibt ihr das Gefühl, dazuzugehören. «Hier oben hast du ein Urvertrauen», sagt sie mit Blick zur Stauberenkanzel, unter der ein beliebter Höhenweg durchführt. «Hier fühle ich mich getragen. Ich weiss, ich bin in Gottes Hand. Hier passiert mir nichts.»

Sie will nicht allen gefallen

Mina Inauen ist eine gute Erzählerin, die weiss, wie sie ihr Publikum unterhalten kann, eine, die ihre Türen weit öffnet. Doch sie will nicht allen gefallen, das merkt man sofort. Im Dorf werde sie wahrscheinlich als etwas speziell oder kurlig angeschaut, sagt sie. Weil sie so lange wie möglich im Jahr barfuss gehe, ausser Haus immer einen Hut trage. Oder mit dem «Kicki», wie sie ihr Kickboard nennt, ins Dorf fahre.

Wie viele Hüte sie zu Hause hat – alte Stücke, die sie im Brockenhaus fand und verschönerte –, kann sie nicht sagen. Sie verschwindet rasch in der Hütte und kommt mit dem Hut aus Kaninchenfilz wieder raus, den sie jeweils trägt, wenn sie zum nahen Gasthaus Plattenbödeli geht.

Am Hutband sind Büschel und Federn befestigt, die sie gefunden hat, ein Zöpfli, das sie aus Kuhhaar geflochten hat und ein Schwanz von einem Wiesel, das die Katze gebracht hat. Einmal habe sie sogar einen toten Luchs gefunden, aber kein Messer dabeigehabt, um die Öhrli abzuschneiden, sagt sie. Da habe ihr nachher einer gesagt, sie hätte die Ohren doch einfach abbeissen können. «Wescht wie schüchelig!» sagt sie und verzieht den Mund. Das geht selbst ihr zu weit, die nicht nur für ihren Alpsegen bekannt ist, sondern auch dafür, dass sie Schmuck aus Menschenhaar herstellt.

200 bis 500 Haare flicht Mina zu einem Schmuckstück.

Im Appenzell ist dieses Handwerk verlorengegangen, doch die Schmuckstücke, die früher zur Tracht getragen wurden und wie ein Schatz gehütet und bewundert werden, gibt es immer noch, sie werden von Generation zu Generation weitervererbt. Inauen denkt: «Wenn man das damals konnte, kann ich das heute auch noch.»

Sie erzählt herum, dass sie jemanden sucht, der dieses Handwerk noch beherrscht, und stösst 1995 auf einen Kurs in Isenthal. Sieben Jahre in Folge treffen sich die Frauen im Urner Dorf, um das alte Handwerk zu erlernen und weiterzuentwickeln – mit dem Aufkommen des Internets gelangen sie auch an Muster aus dem Ausland. Denn die Haarkunst war einst weit verbreitet.

Heute kämen von überall Kundinnen zu ihr für diesen Liebhaberschmuck, sagt Inauen. Für ein Schmuckstück braucht sie je nach Grösse 200 bis 500 Haare, die sie auf einer Jatte – einer speziellen Flechtvorrichtung – einspannt. Sie verarbeitet Haar, das Kundinnen selbst sammeln oder abschneiden, Haar von Verstorbenen oder Verwandten. Auch Geisshaar hat sie schon verwendet. «Das ist wahnsinnig elegant, halt wie eine Geiss», sagt sie und fügt an, dass man im Haar noch die Energie spüre, eine Lebendigkeit. «Das kommt einem sehr nahe.»

Zusenn Mina hat die Kühe in den Stall gelassen, Senn Andreas den Melchstuhl um die Hüfte gebunden, dann rattert der Melkroboter los.

Es ist Nachmittag geworden, und bevor die Tiere in den Stall kommen, macht Inauen alles für den nächsten Morgen bereit. Sie legt Holz in den Ofen, damit sie nach dem Aufstehen gleich das Feuer für das Milchgeschirr machen kann, sie stellt die Mokkamaschine bereit, mischt in einer Tasse Zimt, Ingwer und Honig zu einer dicken Paste für ihren Mann und sagt mit einem Lachen: «Das muss er dann trinken.» Dann gibt sie Haferflocken in eine Schale und etwas, das wie Asche aussieht. «Probier mal», sagt sie und hält die Schale hin. Was nach nassem Stein in der Sonne schmeckt, ist das Steinmehl, das sie den Tieren gibt. Das tue auch ihr gut, glaubt sie.

Dann zieht sie sich um für den Stall und setzt sich zu ihrem Mann, der draussen auf der Bank wartet. Bald ist es 17 Uhr, die Kühe ziehen schon von der Weide zum Stall hin. «Wemer go?» fragt sie. Er lässt einen Laut hören, nichts Klares. «Chom, ez gömer», sagt sie kurz darauf.

Doch die beiden bleiben sitzen, schauen den Kühen zu. Dann bemerkt sie, dass er noch nicht einmal die Stallhose montiert hat, und sagt: «Die Kühe stehen schon an.» Als er die Überhose anhat, zieht sie mit einem Lachen ihre «schöne Kappe» über, ein Werbegeschenk eines Tierfutterherstellers, dann spielt sich eine einstudierte Choreografie für Kuh, Senn und Zusenn ab. Im Stall bindet Andreas den Melchstuhl um die Hüfte, Mina lässt die Kühe ein. «He!» – «Oooordelig» – «Waarten», ruft sie beim Eingang. Dann rattert der Melkroboter los.

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Während er die wenigen Kühe melkt, die noch nicht kurz vor dem Abkalben stehen, kehrt sie den Stall, streut Heu aus und treibt dann die beiden Kälber in den kleinen Stall neben der Hütte. Kaum sind sie drinnen, hievt sie zwei Trinkbehälter mit Milch über die Stallabschrankung und stellt sich dann ruhig an die Hüttenwand.

Wie eine Mutter, die weiss, dass die Kinder Ruhe brauchen beim Trinken, steht sie mucksmäuschenstill da. Nur wenn es Streit um die Milch gibt, wirft sie ein «Saucheib» dazwischen und erklärt: «Ich sage immer, wenn der Betrieb vollautomatisiert ist, rationalisiert man auch die Freude über die viele Milch weg.»

Schliesslich spült sie das Geschirr im Brunnen aus, derweil Andreas mit einer Schubkarre Kuhfladen wegkarrt. Dann ist endlich Feierabend. Zurück vor der Hütte tischt sie Brot, Schmalz, Salami und Käse auf. Sie isst nur einen Apfel. Mehr braucht sie nicht. Bald ist sie ohnehin im Bett, während er noch die Zeitung der letzten zwei Wochen liest.

Ein intimer Moment am Ende des Tages: Mina Inauen ruft den Alpsegen. Schutz und Schirm für die Nacht.

Nun wird es Zeit für den Betruf, dieses Gebet, das gesungen doppelt so wirkungsvoll ist als nur ein gesprochenes. Mit dem Holztrichter in der Hand geht Inauen den schattigen Hang hinauf bis zu einem schwarzen Kreuz mit Goldkranz und grossem Edelstein in der Mitte. Sie hat es selbst entworfen, dahinter zwei junge Ahornbäume gepflanzt. Wenn es nicht regnet, hagelt oder stürmt, steht sie jeden Abend zwischen 19 und 20 Uhr hier. Manchmal wird sie von Touristen gefragt, ob sie den Alpsegen früher ausrufen könne. Doch sie sagt: «Ich mache das nicht zu Propagandazwecken.»

Nun steht sie da auf ihrem Stein, räuspert sich und setzt dann an. Es ist ein Rufen und ein Singen zugleich, fünf archaisch anmutende Töne, in denen etwas Mächtiges steckt, das alles umfasst. Mehrere Minuten lang dauert diese Fürbitte an Gott, Maria und die Heiligen, in der sie um Schutz bittet. Dann, nach dem letzten, langen «Ave, Ave, Ave, Maria» wirft sie ein lautes «Buhu», in den Trichter und lacht. Von der Alp gegenüber kommt ein Juchzer zurück, ein kleiner Junge hat ihn gerufen.

Wie weiter mit dem Alpsegen?

Am nächsten Morgen gibt es keinen rot leuchtenden Himmel, keine mystische Morgenstimmung. Der Himmel ist wolkenfrei, vor 8 Uhr drückt die Sonne schon, wenn Mina und Andreas vor der Hütte frühstücken. Es gibt Müesli, Brot mit selbstgemachtem Vogelbeergelée, Schmalz und Käse. Sie hat bereits im Bett geturnt wie jeden Morgen, und die Kühe sind auch schon gemolken. Jetzt muss sie nur noch erzählen, wie es weitergeht mit dem Alpsegen.

Während sie für die Haarkunst einen Nachfolger gefunden hat, der das Handwerk nicht nur aus Prestigegründen lernen will, sieht sie für den Alpsegen schwarz. «Die anderen, die hier ein und aus gehen, haben keine Zeit, um den Alpsegen zu rufen», sagt sie. Die Bauern, die die anderen vier Alpen bewirtschaften, kommen gewöhnlich am Abend zum Melken auf die Alp und fahren am Morgen wieder zurück auf ihre Betriebe. Auch könne man niemanden zum Alpsegen verknurren, sagt sie und fügt hinzu: «Das muss einem auch etwas sagen.»

Ihr selbst gefällt ein Teil der Fürbitte besonders gut: B’hüets Gott allsame, seis Fründ oder Fend, ond die lieb Muetter Gottes mit ihrem Chend. Weil in diesem Teil alle eingeschlossen sind.