Sie haben über mehrere Jahre gemeinsam an einem Buch über Katharina von Zimmern gearbeitet. Was fasziniert Sie so an dieser Figur?
Irene Gysel Katharina von Zimmern muss eine starke Persönlichkeit gewesen sein. Sie hat sich in späten Jahren nochmals komplett gewandelt – von der Äbtissin zur Ehefrau. Damit verbunden war eine Entscheidung von grosser Tragweite, die sie wahrscheinlich ziemlich alleine treffen musste.
Sie sprechen die Übergabe des Fraumünsters an die Stadt an.
Gysel Genau. Ich habe mich immer gefragt, wie sie dazu kam, diese ehrwürdige Abtei, die Zürich dermassen prägte, zu übergeben. Das war ein radikaler Akt.
Jeanne Pestalozzi Je länger wir uns mit ihr beschäftigten, desto bewusster wurde uns, wie sehr Katharina von der Geschichtsschreibung vernachlässigt worden ist. Manche Historiker bezweifelten sogar, dass sie lesen und schreiben konnte. Dabei stammte sie aus einer hochgebildeten, humanistisch geprägten Familie. Solche Vorurteile zu widerlegen hat uns angespornt.
Wer Ihr Buch liest, spürt eine grosse Sympathie für Katharina von Zimmern heraus.
Pestalozzi Irene und ich befassen uns seit Jahren mit ihr. Im Grunde war sie ihrer Zeit durch ihre emanzipierte Art voraus. So gesehen ist sie fast schon ein Vorbild.
Christine Christ-von Wedel Es gibt viele gute Studien zu Zwingli und Bullinger, auch zur Reformation auf dem Land oder zu den Täufern in Zürich. Aber wie wirkte die Reformation auf Frauen, und wie haben sie daran mitgewirkt? Das ist immer noch schlecht erforscht.
Marlis Stähli Für mich lag der Reiz darin, ein Frauenleben mit drei anderen Frauen zu erforschen. Als ich die ersten Quellen sichtete, hat es mir den Ärmel reingenommen, und ich wollte mehr über Katharina erfahren.

Was waren denn Katharinas Beweggründe, die Fraumünsterabtei zugunsten der Reformation aufzugeben?
Gysel Von diesem Schritt sind nur die von ihr unterzeichnete Verzichtserklärung und die offizielle Übergabeurkunde erhalten. Darin heisst es, dass sie es um des Friedens willen getan habe. Das ist die offizielle Erklärung – doch das sagt natürlich nur wenig über die wahren Gründe.
Und die wären?
Gysel Ich sehe drei Möglichkeiten: Entweder wurde sie dazu gezwungen, oder sie hat es aus Überzeugung getan, weil sie die Ideen Zwinglis teilte und so den Weg für die Aufhebung der Klöster ebnen wollte. Die dritte Möglichkeit ist, dass sie es aus Liebe getan hat.
Aus Liebe?
Pestalozzi Nun, sie hat unglaublich schnell nach der Übergabe des Fraumünsters geheiratet – den Söldnerführer Eberhard von Reischach. Weil er Männer für den Kriegsdienst angeworben hatte, war er in Zürich in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Ausserdem war er von niedererem Stand als sie – eigentlich also alles andere als ein perfekter Heiratskandidat!
Wie sollen die beiden sich denn kennengelernt haben?
Christ-von Wedel Wir können davon ausgehen, dass sie sich schon länger kannten. Katharinas Brüder und ihr Vater verkehrten am Hof von Ulrich von Württemberg, in dessen Dienst von Reischach stand. Hinzu kommt, dass er mit dem Rechtskonsulenten und dem Ammann des Fraumünsters befreundet war. Es gab zahlreiche Möglichkeiten für die beiden, sich kennenzulernen.
Gysel Ein weiteres Indiz für eine Liebesheirat ist folgendes: Nachdem von Reischach gestorben war, ist Katharina 17 Jahre lange Witwe geblieben. Das ist sehr ungewöhnlich für diese Zeit. Zumal sie bei der Übergabe der Abtei eine hohe Rente für sich hatte aushandeln können. Sie wäre eine sehr gute Partie gewesen.
Das klingt — mit Verlaub — ein wenig nach Spekulation. Haben Sie Belege für Ihre Theorie?
Stähli Dazu müssen wir etwas ausholen. Bereits Ende der neunziger Jahre tauchte ein Sammelband mit Druckschriften aus der Reformationszeit auf, und zwei dieser Schriften waren Katharina von Zimmern gewidmet. Man konnte also annehmen, dass das Buch einst ihr gehört hat.
Gysel Als ich und meine damalige Mitautorin Barbara Helbling 1999 am ersten Buch über Katharina arbeiteten, wären wir bereit gewesen, diesen Sammelband bei Sotheby’s zu ersteigern. Uns wurde gesagt, dass er rund 25000 Franken kosten würde, und wir hatten für diesen Betrag bereits Zusagen. Der Preis ging dann aber hoch bis auf 200000. Ersteigert hat es am Ende ein privater Käufer, ein Zwingliliebhaber, den wir nicht namentlich erwähnen dürfen.
Stähli Allerdings hat er uns erlaubt, das Buch einzusehen. Er hat es uns per Post geschickt – noch nicht einmal eingeschrieben.
Gysel Eine unglaubliche Geschichte!
Stähli Jedenfalls konnten wir dadurch das Buch untersuchen. Und das Spannende ist nun, dass sich darin ein Besitzeintrag von einem Sebastian Uriel Appenzeller findet: Katharinas Sammelband muss spätestens 1555 in seinen Besitz übergegangen sein. Wer dieser Appenzeller war, wussten wir damals noch nicht, also sind wir dem nachgegangen.
Was haben Sie herausgefunden?
Christ-von Wedel Irene hat in einem Archiv eine Urkunde gefunden, die seine Mutter, eine Regula Schwarz, als eine Verwandte von Katharina bezeichnet. Wie genau sie verwandt sind, ist jedoch nirgends schriftlich festgehalten. Der Vater wiederum war ein gewisser Sebastian Appenzeller, der in der Reformationsgeschichte immer wieder auftaucht, und zwar als Spion der Reformierten etwa bei den Zusammenkünften der Stände.
«Wenn es so etwas wie ein Geschworenenurteil darüber geben würde, ob Regula Schwarz Katharinas uneheliche Tochter war, dann würde das Urteil in diese Richtung kippen, davon bin ich überzeugt.»
Jeanne Pestalozzi
Die spannende Frage ist also: Wer war Regula Schwarz?
Christ-von Wedel Wir vermuten, dass sie die uneheliche Tochter von Katharina von Zimmern und Eberhard von Reischach war. Untermauert wird das durch zahlreiche Indizien, die wir im Buch präzise aufschlüsseln. Sie beruhen auf bereits bekannten und neuen Quellen, die uns bei der Recherche auffielen. Am stärksten ins Gewicht fällt dabei ein kleines Erbe Katharinas an die Tochter Regulas – also ihre mutmassliche Enkelin. Ebenfalls dafür sprechen die Grabplatten von Regulas Sohn Sebastian Uriel, die in Wappenbeischriften die Namen der Vorfahren von Zimmern und von Reischach aufführen.
Ihre Theorie ist, dass sich Katharina von Zimmern und Eberhard von Reischach schon früh begegnet sind, sich verliebt haben, ein Kind zeugten, das während Katharinas Zeit als Äbtissin zur Welt kam, und dass die beiden, als das Fraumünster übergeben war, geheiratet haben.
Christ-von Wedel So dramatisch das klingt – tatsächlich wurde das unter Historikern schon zuvor vermutet. Nach der Auswertung der weiteren Quellen würde ich sagen, wir können uns dessen zu neunzig Prozent sicher sein.
Pestalozzi Wenn es so etwas wie ein Geschworenenurteil darüber geben würde, ob Regula Schwarz Katharinas uneheliche Tochter war, dann würde das Urteil in diese Richtung kippen, davon bin ich überzeugt.
Wäre eine schwangere Äbtissin nicht aufgefallen?
Christ-von Wedel Ich halte es für durchaus möglich, dass Katharina die Schwangerschaft verbergen konnte. Zum einen liess die damalige Kleidermode dies zu: Frauen trugen weite Gewänder, die oft kurz unter der Brust zusammengebunden waren – darunter konnte man eine Schwangerschaft gut verstecken. Zum anderen gab es für Äbtissinnen keine Anwesenheitspflicht. Katharina konnte die Abtei gut für einige Monate verlassen.
Wenn Katharina wirklich die Mutter von Regula war — wo wuchs das Mädchen dann auf?
Christ-von Wedel Es ist anzunehmen, dass es als uneheliches Kind in eine Pflegefamilie gegeben wurde. Übrigens gab es im Spätmittelalter relativ viele Bastardkinder, auch von Geistlichen und Nonnen – es war gar nicht so ein grosses Tabu, wie man das heute vielleicht denkt. Eine etwas waghalsige und keineswegs nachzuweisende These zur Kindheit von Regula wäre: Am Neumarkt, in unmittelbarer Nachbarschaft von Eberhard von Reischach wuchs ein Mädchen mit diesem Vornamen auf – wer weiss, vielleicht war es die Tochter von Katharina?
Christine Christ-von Wedel wurde 1948 in Reinbek bei Hamburg geboren und studierte in Basel Geschichte, Philosophie und Kirchengeschichte. Sie promovierte über «Das Nichtwissen bei Erasmus von Rotterdam» und machte die Themen Reformation und Humanismus zu ihrem Forschungsschwerpunkt. Für ihre Arbeiten in diesem Bereich sowie für ihre Erforschung der Geschichte der Basler Mission wurde sie 2015 mit dem Wissenschaftspreis der Stadt Basel geehrt. Von 2012 bis 2014 war sie zudem Präsidentin des Vorstands von Mission 21, der Nachfolgeorganisation der Basler Mission, und ist seither ihre Ehrenpräsidentin.
Irene Gysel, Jahrgang 1949, ist Pfarrfrau und Religionslehrerin; sie war als Sprecherin des Worts zum Sonntag sowie Redaktorin und Moderatorin der Sendung Sternstunde Religion beim Schweizer Fernsehen tätig. Während vier Amtsdauern war sie zudem Kirchenrätin der reformierten Zürcher Landeskirche. Als Präsidentin der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich hat Gysel vor drei Jahren das St. Anna Forum ins Leben gerufen mit dem Ziel, die Debatte über gesellschaftlich relevante theologische Fragen zu fördern. 1999 brachte sie mit Barbara Helbling die Monografie Katharina von Zimmern — Zürichs letzte Äbtissin heraus.
Jeanne Pestalozzi wurde 1952 in La Chaux-de-Fonds geboren und studierte in Zürich Romanistik und Altphilologie. Von 1995 bis 2011 war sie Mitglied des Zürcher Kirchenrats. In dieser Funktion präsidierte sie die Kommission «Dekade der Solidarität der Kirchen mit den Frauen», die das von Irene Gysel und Barbara Helbling verfasste Buch zu Katharina von Zimmern in Auftrag gab. Seit 2000 ist sie zudem Präsidentin des Vereins Katharina von Zimmern, der 2004 den Erinnerungsort zwischen Fraumünster und Stadthaus realisierte. Weiter ist Jeanne Pestalozzi seit 2011 Stiftungsratspräsidentin von Brot für alle.
Marlis Stähli, Jahrgang 1947, ist Germanistin und Handschriftenkonservatorin mit den Spezialgebieten Schrift- und Buchgeschichte. Auf diesem Gebiet verfasste sie zahlreiche Publikationen, so etwa zur Bibliothek des Zürcher Fraumünsters sowie zum Sammelband mit Reformationsschriften und einer Widmung Zwinglis an Katharina von Zimmern.
Hier wird das Problem offenbar, dass es zu Katharina von Zimmern kaum eindeutige Quellen gibt. Vieles bleibt im Dunkeln.
Christ-von Wedel Das war für mich als Historikerin tatsächlich eine ganz besondere Situation. Wenn ich über bekannte Reformatoren oder Humanisten forsche, dann muss ich befürchten, dass Kollegen mir vorwerfen, ein bestimmtes Detail in irgendeinem der Tausenden von erhaltenen Briefen und Schriften nicht berücksichtigt zu haben. Bei Katharina war mit wenigen Quellen auszukommen.
Gibt es einen Unterschied zwischen historischer Forschung über Männer und solcher über Frauen?
Christ-von Wedel Es kommt darauf an, über welche Frauen man schreibt. Zu Kaiserin Maria Theresia etwa gibt es genug Quellen. Aber in der Regel gilt: Frauen sind schlecht erforscht und haben wenig selbstverfasste Schriftstücke hinterlassen. Dennoch lässt sich zu ihnen viel erschliessen. Direkt oder indirekt tauchen sie in von Männern geschriebenen und von Männern handelnden Quellen auf. In den letzten Jahrzehnten ist hier viel geschehen, nicht nur Frauen, auch andere bisher unbeachtete Gruppen und Minderheiten werden neu erforscht. Bei Katharina bin ich den Weg gegangen, die bisher bekannten und neu gefundenen Quellen zu analysieren und ihren belegbaren biografischen Daten durch gesicherte historische Hintergründe Leben einzuhauchen.
Pestalozzi Unsere Arbeit glich einem Puzzle. Wir fügten viele einzelne Details und Nebeninformationen zu einem Bild zusammen, das immer mehr Konturen annahm.
Frauengeschichte ist also Detektivarbeit?
Christ-von Wedel Ja, da muss man sorgfältig in die Tiefe gehen, muss die Quellen in ihren zeitlichen Kontext stellen, sie vergleichen mit anderen Quellen und sich so der Figur annähern. Freilich bleibt es bei einer Annäherung. Wenn wir hier jetzt frisch von der Leber erzählen: Im Buch schreibe ich nur, was wir eindeutig belegen können. Alles andere ist als Frage oder These formuliert. So können wir auch nicht mit Sicherheit belegen, wie Katharina von Zimmern zur Reformation stand.
Sie und Zwingli scheinen sich gekannt zu haben.
Christ-von Wedel Sie haben sich nicht nur gekannt, sie haben auch miteinander die Hochzeit der schon erwähnten Regula Schwarz mit Sebastian Appenzeller arrangiert. Ausserdem hat Zwingli bis Ende 1524 im Fraumünster regelmässig gepredigt. Er gehörte aber nicht zum engsten Kreis um die Äbtissin. Es gäbe andere, die ihr näher stünden, schrieb Zwingli beispielsweise an den St. Galler Reformator Joachim Vadian. Mit Sicherheit hat Katharina die von Zwingli propagierte Klosterpolitik des Rates unterstützt und stand hinter seinen Bündnisplänen mit Ulrich von Württemberg.
Also hatte sie vielleicht doch eher politische als private Gründe für die Übergabe des Fraumünsters?
Christ-von Wedel Es sprechen zumindest gewichtige politische Gründe dafür. Ich gehe davon aus, dass sie glaubte, damit den Frieden in der Stadt zu fördern. So wie es auch in der Verzichtserklärung steht. Die folgenden Ereignisse zeigen allerdings: Sie unterstützte mit der Übergabe kaum den Frieden in der Stadt, aber die Kloster- und Bündnispolitik des Rates. Und: sie ebnete sich den Weg zur Heirat. Wie meist bei Entscheidungen dürften verschiedene Beweggründe mitgespielt haben. Ob das Friedensmotiv oder Liebe im Vordergrund stand, bleibt ihr Geheimnis.
Inwiefern hätte die Übergabe denn förderlich für den Frieden sein können?
Christ-von Wedel Handwerkerzünfte in der Stadt und Untertanen auf dem Land forderten die Abschaffung der Klöster. Es war bereits zu schweren, gewaltsamen Übergriffen gekommen, bewaffnete Bauern sammelten sich bedrohlich. Aber auch die Obrigkeiten wünschten eine Übernahme der klösterlichen Rechtstitel und Güter. Kurz nach der Übergabe des Fraumünsters kam es dann dazu. Umnutzungen im Sinne der städtischen Politik hatte es zwar auch davor schon gegeben, aber dass ein Kloster oder Stift ganz ohne Bedingungen einfach der Stadt einverleibt wurde, das war etwas Neues. Ein ungeheurer Rechtsbruch – ermöglicht durch Katharina von Zimmern. Aus meiner Sicht hat sie da eine Vorreiterrolle eingenommen und konnte durchaus hoffen, die Stadt damit zu befrieden. Sie war auch Vorbild für Nonnen, die mit einem Klosteraustritt gezögert haben.
Stähli Wobei damit auch vieles verloren gegangen ist. Mit der Aufhebung der Klöster verschwand eine Möglichkeit für Frauen, Bildung zu erlangen.
«In den Klöstern herrschte ein hohes Bildungsniveau; die Lektüre von lateinischen Texten war auch in Frauenstiften gang und gäbe. Dem setzte die Reformation ein Ende.»
Christine Christ-von Wedel
War die Reformation also ein Rückschritt für die Frauen?
Christ-von Wedel Was die Bildung angeht: ja. In den Klöstern herrschte ein hohes Bildungsniveau; die Lektüre von lateinischen Texten war auch in Frauenstiften gang und gäbe. Dem setzte die Reformation ein Ende. Die theologisch-humanistische Hochschule beispielsweise, die Zwingli in Zürich gründete, war Männern vorbehalten. Mädchenschulen wurden nicht gefördert. Hinzu kommt, dass Klöster Frauen, die nicht heiraten wollten oder konnten, eine geachtete Alternative geboten hatten.
Gysel Wir dürfen das Kloster aber auch nicht überhöhen. Es gab ja ganz viele Frauen, die sich nicht freiwillig für ein solches Leben entschieden haben, sondern die von ihren Familien dort hineingesteckt wurden, mit elf, zwölf oder dreizehn Jahren. Das galt übrigens auch für Katharina von Zimmern. Echte Freiheit für Frauen gab es also weder vor, während noch nach der Reformation.
Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Reformation die bürgerliche Moral und ihre familiären Werte mitgeprägt hat. Für Frauen war fortan nur noch die Rolle der Mutter und Hausfrau vorgesehen — und damit eine Abhängigkeit vom Mann.
Christ-von Wedel Nicht nur im Protestantismus, auch in katholischen Gebieten wurden in der frühen Neuzeit die rechtlichen und gesellschaftlichen Grenzen der Frauen enger gezogen. Selbständigkeit von Frauen, schon im Mittelalter verpönt, war nun kaum mehr möglich. Das ist ein gesamteuropäischer Mentalitätswandel, dessen Ursachen noch viel zu wenig erforscht sind. Aber es stimmt, im Protestantismus war er besonders ausgeprägt.
Können Sie das erklären?
Christ-von Wedel Nun, Reformierte wie Lutheraner hatten anfangs einen schweren Stand. Sie wurden als Häretiker gebrandmarkt und mussten darum umso mehr beweisen, dass sie – und nicht die anderen – die richtigen, guten, ehrbaren Christen seien. Nach dem Motto: In unserer Gesellschaft herrscht Sittsamkeit, wir leben noch wirklich evangelisch! Doch diese Sitten, die sie dann vertraten, waren eher bürgerlich als evangelisch. Dazu gehörte unter anderem eine strengere Ehegesetzgebung, aber auch, dass die Frauen hochgeschlossene Kleider anziehen mussten und keinen Schmuck tragen durften. Der Druck, der auf den Reformierten als einer bedrohten Minderheit lastete, hat den Druck auf die Frauen also noch verstärkt.
Machen Sie es sich da nicht zu einfach? Die Frauenfeindlichkeit war Programm der Reformation. Zwingli und Luther stellen Frauen als geschwätzig, dumm und hinterhältig dar.
Pestalozzi Ich möchte nicht mit der Brille von heute auf die Reformation schauen und die damaligen Ereignisse mit unserem Verständnis von Feminismus oder Gleichstellung bewerten. Denn natürlich war die Reformation keine feministische Bewegung im heutigen Sinn. Hinzu kommt, dass die Reformation nicht als einzelnes Phänomen betrachtet werden darf. Sie fand ja in einem bestimmten Kulturraum statt, und das Frauenbild der Reformatoren war das gleiche wie das der gesamten Gesellschaft in diesem Kulturraum.
Christ-von Wedel Und dieses Frauenbild wiederum war geprägt von ganz alten Vorstellungen. Dass Frauen beispielsweise keine Messen lesen durften, hing mit der archaischen Überzeugung zusammen, dass die Frau «unrein» sei. Dazu kam die damals anerkannte «wissenschaftliche» und noch auf Aristoteles zurückgehende Tradition, die Frauen als Mängelwesen definierte. Heute vertritt allerdings kein Wissenschaftler mehr die aristotelische Sicht. Darum scheint es geradezu grotesk, dass die katholische Kirche bis heute daran festhält, den Frauen das Sakramentspenden zu verweigern – vor allem angesichts des Priestermangels.
Pestalozzi Ehrlicherweise müssen wir hier aber daran erinnern, dass die Reformierten erst vor hundert Jahren die Frauenordination eingeführt haben. Und selbst als es die ersten ordinierten Frauen gab, durften diese nicht offiziell angestellt werden, was sich erst mit dem neuen Kirchengesetz von 1963 änderte. Das lag aber nicht an der Kirche allein: Die Zürcher Kirchgemeinde Neumünster zog mit der Forderung, ihre erste ordinierte Pfarrerin regulär anstellen zu können, bis vors Bundesgericht – und scheiterte. Ich möchte damit sagen: Wir können Entwicklungen innerhalb der Kirche nicht isoliert betrachten, sondern müssen sie in einen Kontext stellen. Das gilt für das Heute genauso wie für die Reformation.
Christ-von Wedel Da gebe ich dir recht. Aber immerhin gab es auch damals schon Beispiele Andersdenkender, so etwa Erasmus. Von ihm gibt es einen Brief, in dem er gesteht, dass er bezüglich der Dummheit der Frauen falschlag. Er setzte sich von da an für Frauenbildung ein. Deswegen mag ich ihn so sehr – er ist einer der wenigen Menschen, die ihre Meinung auch mal revidieren können.
Pestalozzi Mich interessiert, welche Spielräume die einzelnen Menschen in ihrer Zeit und Kultur hatten. Katharina wusste ihre Möglichkeiten zu nutzen. Das zeugt von Mut.
Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Pestalozzi Als sie das Fraumünster an die Stadt übergab, hat sie für sich eine sehr hohe Rente ausgehandelt. Ausserdem hat sie es geschafft, dass sie unbevogtet handeln konnte, also ohne einen Vormund. Dafür musste sie hinstehen und sagen: Ich will das!
Gysel So hat sie auch das Bürgerrecht in Zürich bekommen.
Katharina hat sich für ein Leben als Bürgersfrau entschieden. Hat sie damit nicht auch auf Macht und Einfluss verzichtet?
Stähli Naja, ihr Mann ist ja Diplomat gewesen. Ich denke, dass sie beim Verlassen der Abtei durchaus ihre Optionen abgewogen hat und sich von der Heirat etwas versprach.
Gysel Sie hat mit ihrem Mann später in Schaffhausen gelebt, in einem grossen Haus an bester Lage, wo sich mit Sicherheit bedeutende Persönlichkeiten getroffen haben. Vielleicht konnte sie in diesem Rahmen sogar mehr bewirken als vorher in der Abtei, wo sie relativ abgeschnitten war.
Christ-von Wedel Auch musste sie damit rechnen, dass die Stadt ihre Macht als Äbtissin über kurz oder lang völlig eingeschränkt hätte.
«Wenn das Archiv morgens um neun aufging, war ich da, und dann war’s auch schon abends um fünf. Das war wahnsinnig. Ein bisschen süchtig nach Archiven bin ich schon geworden.»
Irene Gysel
Frauen bleiben auch theologisch Randfiguren der Reformation. Die katholische Tradition kennt immerhin Maria und viele weibliche Heilige.
Christ-von Wedel Ich glaube tatsächlich, dass mit der Reformation eine bestimmte Art von Frömmigkeit und spezifisch weiblicher Theologie verloren gegangen ist. Die katholische Tradition hat den Körper – auch den weiblichen Körper – mehr in den Glauben miteinbezogen. Die Frauen wurden etwa mit Vesperbildern eingeladen, emotional mit Maria mitzuleiden, als Frau und Mutter den Tod Jesu zu beweinen. Katharina hat noch 1522 ein solches Andachtsbild in Auftrag gegeben. Auch verbindet katholische Frömmigkeit Himmel und Erde viel enger.
Wie manifestiert sich das?
Christ-von Wedel In der katholischen Messe werden bis heute Heilige als Fürbittende im Himmel angerufen, und obwohl sie teilweise vor Hunderten, ja vor Tausenden Jahren gelebt haben, sind sie im Hier und Jetzt präsent; ihre körperlichen Überreste werden in Reliquienschreinen zur Schau gestellt. Das hat etwas Emotionales und Unmittelbares. Der Himmel ist quasi körperlich verbunden mit uns, mit den Irdischen und mit den Christen aller Zeiten. Das fehlt den Protestanten.
Gysel Das Ende der Heiligenverehrung hat aber auch damit zu tun, dass es den Heiligenfiguren in den Klöstern oft besser ging als den «irdischen Menschen», die zum Teil kaum genug zu essen bekamen. Vom Sturm auf das Ittinger Kloster weiss man zum Beispiel, dass die Leute zuerst in die Küche eingebrochen sind, um ihren Hunger zu stillen, und sich danach Kerzen und Kleider der Heiligen geschnappt haben. Sie waren erzürnt darüber, dass sie diesen Figuren Kerzen spenden mussten, während sie selber zuhause im Dunkeln hockten. Das ist ja auch absurd.
Christ-von Wedel Diese Frage haben wir in unserem Gespräch bisher ausgeklammert: Die Reformation ist natürlich nicht zu verstehen ohne die sozialen Forderungen, die damit verbunden waren. Allerdings haben die Reformatoren selbst diese dann aus strategischen Gründen wieder unterbunden – Stichwort Bauernkriege. Auch während und nach der Reformation blieben die Armen also noch immer arm. Ein echter sozialer Durchbruch fand nicht statt.
Pestalozzi Ein bisschen was hat sich schon verändert. Nach dem verlorenen Kappelerkrieg hat die Landschaft etwas mehr Rechte erhalten, sie musste beispielsweise bei wichtigen Entscheiden von der Stadt konsultiert werden.
Müssen wir uns Ihre Arbeit an diesem Buch so vorstellen wie diese Diskussion — ein ständiges Austarieren der Ansichten von vier Expertinnen?
Christ-von Wedel Natürlich waren wir oft verschiedener Meinung. Das ist ja der Vorteil eines Teams – dass verschiedene Ansichten aufeinanderstossen. Wir haben viel diskutiert und uns immer wieder gefunden. Wir hatten zudem eine klare Arbeitsteilung: Marlis hatte als Schriftkundige die Verantwortung für die Editionen im Anhang. Das Buch zu konzipieren und zu schreiben lag in meiner Zuständigkeit, und Irene und Jeanne hatten schon zuvor und haben weiter unglaublich viel zu Katharina recherchiert.
Pestalozzi Jeden Fötzel, den wir gefunden haben, konnten wir Marlis schicken, und zwei, drei Tage später hatten wir den transkribierten Text. Solche alten Originaldokumente zu lesen ist ja nicht gerade einfach, da braucht man jemanden, der das übersetzt. Marlis war unglaublich. Genauso wie Christine, die immer genau wusste, wohin die Geschichte geht und wie die neue Information einzuordnen ist. Irene wiederum hat leidenschaftlich in den Archiven gegraben. 1200 Fotos von Dokumenten und Schriftstücken hat sie uns geschickt!
Christ-von Wedel Ja, sie war eine grossartige Assistentin! Ich konnte sie auf eine bestimmte Archivspur schicken, wenn ich diese für vielversprechend hielt, und sie ist ihr dann umgehend gefolgt.
Frau Gysel, in Ihrem Vorwort schreiben Sie, Sie seien süchtig geworden nach Archiven.
Gysel Ja, total. Wenn das Archiv morgens um neun aufging, war ich da, und dann war’s auch schon abends um fünf. Das war wahnsinnig.
Pestalozzi Das Buch war sogar schon fast im Druck, als Irene nochmals in ein Archiv gegangen ist, um eine bestimmte Formulierung zu verifizieren. Sie konnte nicht mehr aufhören.
«Als wir uns die ersten Gedanken zum Buch machten, dachten wir an einen Roman. Diese Idee trieb uns an, überhaupt nach neuen Quellen zu suchen.»
Jeanne Pestalozzi
Stähli Die letzten Änderungen hat sie noch von einer Chinareise aus geschickt, nachts um zwölf.
Warum ist aus dem Buch eigentlich kein Roman geworden? Die Geschichte hätte das Potenzial dazu.
Pestalozzi Gute Frage. Als wir uns die ersten Gedanken zu einem möglichen Buch machten, dachten wir tatsächlich an einen Roman. Diese Idee trieb uns an, überhaupt nach neuen Quellen zu suchen.
Christ-von Wedel Wir entschieden uns dann aber dagegen, weil wir neue Quellen fanden und neue Zusammenhänge erschliessen konnten. Wenn ich einen Roman geschrieben hätte, wäre das für die Forschung verloren gewesen. Eine fiktive Geschichte, selbst mit Fussnoten zu dem, was tatsächlich bewiesen werden kann, wird in der wissenschaftlichen Welt nicht ernst genommen.
Sie haben Katharina von Zimmern als mutige, clevere und durchaus auch politische Frau beschrieben. Wenn Sie sie in die heutige Zeit übertragen müssten — wer wäre sie?
Pestalozzi Eine spannende Frage. Vielleicht eine Bundesrätin oder eine Forscherin?
Gysel Nein, ich finde, es müsste schon eine Politikerin sein, nicht?
Pestalozzi Ah, jetzt weiss ich es: Diese britische Richterin, die entschieden hat, dass Premierminister Boris Johnson nicht einfach das Parlament in die Ferien schicken darf. Baroness Brenda Hale. Ja, das wäre eine gute Katharina!
Christine Christ-von Wedel: «Die Äbtissin, der Söldnerführer und ihre Töchter. Katharina von Zimmern im politischen Spannungsfeld der Reformationszeit.» Unter Mitarbeit von Irene Gysel, Jeanne Pestalozzi und Marlis Stähli. TVZ, Zürich 2019; 360 Seiten; 34 Franken.