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Freitag, 01. März 2019

Drei Monate hatten sie hier Ausnahmezustand. 97 Tage, die keiner von ihnen so zuvor erlebt hatte – und so schnell auch nicht wiedererleben möchte. Angst und grosse Unsicherheit auf der einen Seite. Hoffnung und Freude auf der anderen. Da waren die vielen Tausend Besucher, die Tag wie Nacht in ihren Dauer-Gottesdienst strömten.

Da waren die fast Tausend Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich hier ablösten, einer nach dem anderen. Wenn man es so sehen möchte, war es ein wohl ein Rekord: der längste Gottesdienst, der jemals auf der Welt in einer Kirche gehalten wurde. All das ist jetzt vorbei, und das kleine protestantische Gemeindezentrum Bethel Chapel in Den Haag ist das, was es vorher war: ruhig und nachbarschaftlich.

Doch um Rekorde war es ihnen, war es Axel Wicke, dem Pfarrer hier, nie gegangen. Es war eine christliche Familie aus Armenien, denen sie hier Unterschlupf gewährt hatten. «Wir haben endlich wieder gespürt, was Kirche für eine Kraft sein kann. Dass wir nicht nur in Worten, sondern auch in Taten für etwas stehen», sagt Axel Wicke heute.

Rückblick: Es ist ein kalter, windiger Januarmorgen. Zehn Minuten intensiver Regen. Zehn Minuten Sonnenschein. So geht es in einem fort. Eine Stunde führt der Fussweg vom lauten Zentrum weg, immer weiter an den Rand von Den Haag, bis man in einer schmalen, ruhigen Seitenstrasse mit niedrigen Backsteinhäusern angelangt ist. Hier steht das Gemeindezentrum, eine Art Doppelhaus mit Kirchenraum daran.

Klingeln, dann wird ein Spaltbreit geöffnet, eine ältere Frau schaut zwischen den massivhölzernen Kirchentüren hervor. Sie fragt, was man möchte, und erst, wenn sie zustimmt, darf man eintreten. Hilly Merx-Dompeling heisst sie, hat weiss durchsetztes Haar, ist 67 Jahre alt, und an diesem Montag hat sie die erste Wachschicht des Tages. Was das heisst? Kaffee machen. Besucher rein- und wieder rauslassen. Unangekündigte Journalisten abweisen. Eventuelle Störer erkennen, obwohl es die in der ganzen Zeit noch überhaupt gar nicht gab. Orientierungslosen Pastoren, die zum ersten Mal da sind, erklären, wo was ist und wie hier alles funktioniert. Und Fragen beantworten.

«Am häufigsten wollen die Menschen wissen, wie lange wir mit unserem Gottesdienst noch durchhalten», sagt Merx-Dompeling. «Doch diese Frage packe ich gleich wieder beiseite. Wir wissen es nicht. Wir schaffen das hier von Tag zu Tag. Und auch wenn es nicht gut aussieht, haben wir Hoffnung.» Hoffnung, dieses Wort zieht sich hier durch alle Gespräche. Es ist eine unbestimmte Hoffnung auf eine Lösung für Familie Tamrazyan. Vater, Mutter, drei Kinder, die Älteste 21, der Jüngste 15 Jahre alt.

Merx-Dompeling berichtet, dass die Familie jeden Tag aus ihrem Unterschlupf im ersten Stock die Holztreppe herunterkommt. Immer scheinen sie gute Laune zu haben. Erkundigen sich, wie es Helfern geht und was draussen alles passiert ist. Die Familie wiederum berichtet, was sie im Gottesdienst gehört hat, was sie daran beeindruckt oder bewegt hat. Ja, die Familie strahlt auf den ersten Blick noch am meisten Hoffnung aus, sagt Merx-Dompeling. Sie selbst mache sich grosse Sorgen, dass sich die niederländische Regierung am Ende doch nicht erweichen lasse.

In Holland gibt es ein Gesetz, nach dem die Polizei das Gelände einer Kirche während der Dauer eines Gottesdienstes nicht betreten darf. Wie lange so ein Gottesdienst dauern darf, davon steht dort nichts. Für die Familie bedeutet es, dass sie Kirche und Grundstück nicht verlassen kann, Tage, Wochen, Monate schon, und dass sie permanent auf Hilfe angewiesen ist. All das lässt sich für sie ertragen, sagt Merx-Dompeling. Das schlimmste sei für sie aber die Ungewissheit, nicht zu wissen, wie es ausgehen wird.

Merx-Dompeling hat Vorboten der drohenden Gefahr schon erlebt. Das war gleich ein paar Tage, nachdem alles losgegangen war. Da stand auf einmal die Polizei vor der Tür, klingelte, wollte hinein. Merx-Dompeling öffnete einen Spaltbreit, sagte Nein, die Polizisten müssten draussen warten, und schloss die Tür wieder. In diesem Moment sei sie sehr aufgeregt gewesen, erzählt sie.

Zum Glück war einer der Koordinatoren da, den holte sie und der erklärte den Polizisten den Zusammenhang von Gottesdienst und Zutrittsverbot. Seitdem sind sie nicht noch einmal aufgetaucht. Ob sie beobachtet werden? Ob jemand von der Ausländerbehörde in Zivil vorbeikommt, um zu kontrollieren, dass hier auch wirklich Gottesdienst stattfindet? Sie wissen es nicht. Wahrscheinlich sei es aber, sagt Merx-Dompeling.

Kirche als Bollwerk

An diesem Morgen hängt an jedem Haken an der Garderobe schon eine Jacke, im Gemeinschaftsraum sitzen und reden einige Leute, und aus dem Kirchenraum dringen Gesänge durch die Türen. Bethel ist ja keine Kirche mehr, sondern ein protestantischer Nachbarschaftstreff, mit einer Orgel, einem Klavier, aber auch einem Töggelikasten, Tischtennis und viel Platz, um sich zu treffen, zu essen, zu spielen und Yogakurse zu besuchen. Nur an jedem zweiten Sonntag gab es noch einen Gottesdienst, und jeden Montagabend rief Axel Wicke zu seinen Taizé-Gebeten mit ­Meditation.

Bis zu jenem Anruf Ende Oktober vergangenen Jahres, mit dem alles begann, der alles veränderte. Es war 23 Uhr, als das Handy klingelte. Eigentlich hatte Axel Wicke Ferien, ausnahmsweise war er aber zuhause geblieben. Wicke ist 46 Jahre alt, ein Deutscher, den es nach Den Haag und in die protestantische Kirche verschlagen hatte. «Die Kirche hier ist calvinistisch geprägt, zurückhaltender, autoritätshöriger», sagt er. In vielen Gemeinden gelte das Motto: In dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Man mische sich nicht in politische oder gesellschaftliche Angelegenheiten ein. Normalerweise. Doch dieses Mal ist es anders.

Wicke ging ran. Der Anruf kam von einem Bekannten in einer kleinen protestantischen Gemeinschaft in einem Küstenstädtchen. Dort lebte die armenische Familie, dort hatte sie bereits einen Monat lang Unterschlupf gefunden, doch sie rechneten jeden Moment damit, dass die Polizei die Familie abholen komme. Die Gemeinde könne es nicht länger bewältigen, ihnen gingen die Kräfte aus, ob Wicke mit seinem Gemeindezentrum und der leeren, ehemaligen Sigristenwohnung im ersten Stock nicht übernehmen könnte?

Die protestantische Kirche in den Niederlanden sei calvinistisch geprägt, zurück­haltend und eher autoritätshörig, sagt Pfarrer Wicke. Man mische sich nicht in politische oder gesellschaftliche Angelegenheiten ein. Normalerweise.

Es war eine Bitte um Hilfe und Unterstützung. Für die Familie ging es um alles oder nichts. Würden sie zurückgeschickt, wäre zumindest das Leben des Vaters in Gefahr, der in Armenien laut eigenen Angaben in der politischen Opposition tätig war, dort mit dem Tode bedroht und körperlich angegangen, gefoltert wurde. Genaueres soll nicht genannt werden, damit Familienmitglieder, die noch in dem Land leben, nicht selber zur Zielscheibe werden.

Wicke sagte dem Bekannten zu. Er bat aber gleichzeitig die Kirchenoberen der Stadt um Beistand. Nur zusammen könnten sie diese gewaltige Aufgabe stemmen, das wusste er.

Die Kirchen­oberen der Stadt wägten ab. Würde diese Aktion mit ihren christlichen Grundwerten übereinstimmen? Würden sie mit der Familie einen Erfolg erringen können, der nicht nur der Familie helfe, sondern allen rund 700 Kindern, die von der Abschiebung bedroht sind, aber schon mehr als fünf Jahre in den Niederlanden leben? Dann beteten sie. Dann stimmten sie in allen Fragen mit Ja. Auch die soziale Kirchenorganisation Stek sprang bei und versprach, zwei Koordinatoren abzustellen. Am nächsten Tag war die Familie da, der Rund-um-die-Uhr-Gottesdienst ­begann. Er würde 2307 Stunden anhalten.

Natürlich wirft der Fall auch Fragen auf: Darf man das? Einen Gottesdienst benutzen, um ein Gesetz auszuhebeln? Steht es der Kirche zu, auf diese Weise einen Staat mit all seinen Inter­essen zu behindern? Und wo verläuft die Grenze zwischen ­Religion und Aktivismus?

Die Menschen im Gemeindezentrum Bethel scheinen ihre Antwort gefunden zu haben. Natürlich gab es auch kritische Stimmen, sagt Axel Wicke. So wollten Pfarrer nicht mitmachen, weil sie dagegen sind, dass der Gottesdienst zur Plattform einer politischen Aktion wird. Oder Gemeindemitglieder, die sagten, dass sowieso schon so viele Flüchtlinge da seien. «Doch insgesamt waren die Einwände sehr gering», sagt Wicke.

Das ist nicht selbstverständlich in einem Land, in dem Rechtspopulisten wie Geert Wilders die Debatten prägen, ein Teil der Bevölkerung lautstark gegen die Aufnahme und den Verbleib von Flüchtlingen agitiert und Teile der Regierung dies auch durchsetzen. Doch die protestantische Kirche hat ihre Seite gewählt. Seit Jahren spricht sie sich für ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht für Familien aus, deren Kinder in den Niederlanden geboren wurden oder schon jahrelang hier lebten und die ­dennoch zurück sollen.

Am Ende werden über Tausend Pfarrerinnen und Pfarrer aus dem ganzen Land da gewesen sein. Einige kamen einmalig, andere übernahmen regelmässige Schichten. Einige hielten ihren Gottesdienst nur für eine Stunde, andere eine ganze Nacht. Wenn der eine aufhörte, übergab er dem nächsten eine brennende Kerze. Und immer mussten mindestens zwei Besucher da sein. Das war wichtig, damit es als Gottesdienst zählte.

Manche der Pfarrer brachten die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinde mit. Dazu kamen Besucher von nah und fern. Auf einem Google-Docs-Dokument konnte jeder Pfarrer seine Schicht eintragen, drei Wochen im voraus stand jede Schicht fest. Sie hatten eine Whatsapp-Gruppe mit Notfall-Pfarrern und Notfall-Besuchern eingerichtet, falls einer ausfiele oder die Stuhlreihen sich leerten.

An diesem Montagmorgen steht eine Frau am Rednerpult, die Besucher sitzen in den Reihen vor ihr, es wird gesungen, Klavier gespielt, es wird gepredigt, aus der Bibel vorgelesen. Manchmal passieren hier neue Formen von Gottesdienst: aktiver, dialogischer. Besucher berichten von dem, was sie berührt, was das Wort Gottes mit ihnen macht. Manchmal ist es aber auch klassisch, wie eh und je.

Hayarpi Tamrazyan mit ihrem Bruder Seyran und ihrer Schwester Warduhi (rechts) in der Bethelkirche in Den Haag

Normaler Gottesdienst, und doch so viel mehr

Eine regelmässige Besucherin ist Corien de Kloe, 68 Jahre alt. Sie sei ein Nachtmensch, sagt sie. Mindestens einmal in der Woche setzt sie sich spätabends auf ihr Velo, radelt die sieben Kilometer und macht mit, bis ein, bis zwei, bis drei Uhr morgens, je nachdem, wie viele da sind. «Wir wachen und wir beten, damit die Familie in Frieden schlafen kann und in Sicherheit ist», sagt sie. Und dann ist da noch die Pfarrerin Julia van Rijn aus der Umgebung von Den Haag.

Immer wieder steht sie vorne und predigt. «Eigentlich ist es ja wie ein normaler Gottesdienst, und gleichzeitig ist es so viel mehr. Worte wie Gastfreundschaft und Nächstenliebe haben auf einmal eine tiefere Bedeutung, wenn ich sie hier ausspreche. Weil sie hier real sind, weil dort die Familie sitzt, um die es geht.» Und dann ist da ja auch noch die Familie, selber sehr gläubig, die fast täglich an einem oder mehreren Gottesdiensten teilnimmt.

Am Ende waren über Tausend Pfarrerinnen und Pfarrer aus dem ganzen Land da. Einige hielten ihren Gottesdienst nur für eine Stunde, andere eine ganze Nacht.

Es ist eine Situation voller Widersprüche. Da ist die Familie, die einerseits die Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit braucht, gleichzeitig aber auch vor ihr geschützt werden soll. Ein Interview mit ihr ist nicht möglich, weil sie von Presseanfragen aus aller Welt überrannt wird. Auf den Fotos, die gemacht wurden, sind nur die Kinder, aber nicht die Eltern zu sehen, damit ihre Gesichter nicht zu bekannt werden. Falls sie doch nach Armenien zurückmüssen. So die Sorge.

Und dann kommt die älteste Tochter, Hayarpi, 21, doch noch die Treppe herunter. Klein ist sie, langes dunkles Haar hat sie, ein rundes, freundliches Gesicht. Fast schüchtern wirkt sie, als sie erzählt, dass sie auch Deutsch spricht. Das habe sie in der niederländischen Schule gelernt, so wie alle anderen niederländischen Kinder auch. Hayarpi schreibt Gedichte, manchmal steht sie während der Gottesdienste auf und rezitiert sie.

Oder veröffentlicht sie auf ihrem Blog. Gerade ist sie ein bisschen aufgeregt, weil gleich die Dekanin ihrer Universität kommt, um ihr eines ihrer Examen in Ökonometrie abzunehmen. Sie kann ja nicht an die Uni, weil sie nicht hinaus darf. Es sind viele Menschen, die hier versuchen, ihr Möglichstes möglich zu machen. In der Ecke steht ein Gabentisch mit einer Liste, was benötigt wird. Gerade liegen hier Essen und Kerzen. Damit sie ihr freiwilliges Gefängnis auch verkraftet, wird die Familie psychologisch betreut.

Im kleinen geht es um diese Familie in der Kirche. Damit es gut ausgeht, verhandeln die Kirchenoberen hinter den Kulissen mit Politikern aus den beiden christlichen Parteien, die an der Mitte-Rechts-Regierung in den Niederlanden beteiligt sind. Im grossen geht es darum, dass der «Kinderpardon» endlich richtig umgesetzt wird. Der Kinderpardon ist eine Regel aus dem Jahr 2013, wonach sich Kinder um ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für sich und ihre Eltern bewerben dürfen, die bereits fünf Jahre und länger im Land leben.

Eine Bedingung ist, dass sie keinen Konflikt mit der Polizei hatten und dass sie sich kooperativ gegenüber den Behörden verhalten haben. 94 Prozent aller Anträge seit Bestehen des Pardons wurden abgelehnt, weil selbst der Widerspruch gegen einen negativen Asylbescheid vor Gericht als unkooperativ ausgelegt wird.

Die Familie Tamrazyan kam Anfang 2010 als politische Verfolgte in die Niederlande. Zweimal bestätigten Gerichte ihr Recht auf Asyl. Zweimal gingen die Behörden in Berufung. Beim dritten Prozess urteilte der Richter, dass die Familie abgeschoben werden kann, aber nicht muss. Da dieses ganze Prozedere mehr als fünf Jahre gedauert hatte, bewarb sie sich für den Kinderpardon. Die Behörden lehnten den Antrag aber ab, weil sie der Familie wegen der Gerichtsprozesse unkooperatives Verhalten vorwarfen.

Doch je länger der Dauergottesdienst dauerte, desto schlechter sah es aus, trotz den Verhandlungen, trotz dem Druck der Kirche und den vielen Presseberichten. Der zuständige Staatssekretär hatte nach Weihnachten noch einmal ausdrücklich gesagt, dass es keine Nachverhandlung zum Thema Kinderpardon geben würde. Die beiden kleineren Regierungsparteien sprachen sich zwar für eine Neuverhandlung des Koopera­tionspassus aus, doch die beiden grösseren, die christliche CDA und die liberale VVD, lehnten das kategorisch ab.

Dann kam Bewegung rein. Denn plötzlich entbrannte in der CDA eine Diskussion darüber, was es für sie eigentlich bedeutet, christlich zu sein. Und am 26. Januar titelten die Zeitungen, dass nun auch die CDA neu über den Kinderpardon verhandeln möchte. Damit stand es drei gegen eins. Doch die VVD, die Angst davor hat, noch mehr Stimmen nach rechts zu verlieren, sprach von einer Regierungskrise, warnte vor einem Koalitionsbruch. Kurzfristig wurde eine Parlamentsdebatte angesetzt. Alles steuerte auf einen Showdown zu.

Schlafen und Träumen

«Diese Tage waren ein Auf und Ab der Gefühle», erinnert sich Axel Wicke. Erst eine Woche zuvor war eine andere Familie mit drei Kindern nach Armenien abgeschoben worden. Am 30. Januar traten die Politiker dann vor die Fernsehkameras: Alle 700 Kinderpardon-Fälle werden noch einmal neu bewertet, auch der der Familie Tamrazyan. Der umstrittene Kooperationspassus soll dabei gestrichen werden. Ihr künftiges Bleiberecht gilt damit als sicher.

Anschliessend soll der Kinderpardon aber komplett abgeschafft werden. Ausserdem nehmen die Niederlande von nun an nur noch 500 statt der zugesicherten 750 Kriegsflüchtlinge über das UNCHR-Kontingent auf. Es war ein Kompromiss.

Beim Abschlussgottesdienst liest Hayarpi noch einmal ein Gedicht vor. Diesmal ist es ein Dankesgedicht: «Wieder sicheres Schlafen. Wieder sicheres Träumen. Dieses wunderbare Kirchen­asyl hat unsere Zukunft gerettet. Beten und singen hat den Himmel erreicht. Wir sind dankbar mit Herz und Seele, dass du warst und da bist. Für unsere Familie.» Zehn Tages später zogen sie aus, verliessen ihren Unterschlupf, der sie für 97 Tage vor der Abschiebung geschützt hatte. Jetzt leben sie in einem Flüchtlingsheim in den Südniederlanden. Von dort aus kann Hayarpi wieder an die Uni gehen und der jüngste Sohn zurück an seine Schule.

Und für Axel Wicke? «Die Ruhe ist etwas unwirklich», sagt er. «Vielen Gemeindemitgliedern fehlt es, dass sie jederzeit zu einem Gottesdienst kommen konnten.» Doch die Erfahrung, dass Kirche mehr sein kann, dass Kirche ausnahmsweise mal vorneweg läuft und Veränderung anstösst, die bleibe.

Karl Grünberg ist freier Journalist in Berlin.

Nach niederländischem Recht darf die Polizei sich keinen Zutritt zu einer Kirche verschaffen, solange dort ein Gottesdienst gefeiert wird. Eine ähnliche Regelung ist in der Schweiz nicht bekannt. Wie in anderen europäischen Ländern ist das Kirchenasyl in der Schweiz bis heute als moralische Tradition verankert, geniesst jedoch keinen rechtlich anerkannten Status. Die Kirche hat keine Sonder­rechte und kann den Behörden den Zutritt in die sakralen Räume grundsätzlich nicht verbieten.

Die Unterbringung eines abgewiesenen Asylbewerbers in einem kirchlichen Gebäude kann gar strafrechtliche Konsequenzen haben. Das bekam der Ex-Präsident des Westschweizer Teils der Schweizerischen Evangelischen Allianz, Norbert Valley, 2018 zu spüren. Er händigte einem abgewiesenen Mann aus Togo den Schlüssel zur Kirche von Le Locle aus. Dort konnte dieser nächtigen und sich verpflegen. Valley wurde von der Staatsanwaltschaft des Kantons Neuenburg wegen vorübergehender und punktueller Unterbringung eines abgewiesenen Asylbewerbers verurteilt und musste eine Busse von 1000 Franken zahlen.

Trotzdem setzen sich Schweizer Pfarrer und Kirch­gemeinden mit der Gewährung von Kirchenasyl immer wieder gegen die drohende Ausschaffung von Asyl­suchenden ein. So sollte im Sommer 2016 eine Familie mit vier Kindern aus Tschetschenien, die seit viereinhalb Jahren in Kilchberg im Kanton Zürich lebte, die Schweiz verlassen. Ihr Asylgesuch war zuvor abgelehnt worden. Gegen die drohende Ausschaffung formierte sich kirchlicher Widerstand. Die Pfarrerin Sibylle Forrer nahm die Familie kurzerhand in ihrem Pfarrhaus auf, Solidaritätsbekundungen der Kirchgemeinde und vieler Menschen im Dorf folgten. Die Behörden blieben aber bei ihrem Entscheid: Die Familie musste die Schweiz verlassen.

Im Februar desselben Jahres besetzten Aktivisten mit vier abgewiesenen Asylsuchenden in Basel die reformierte Matthäuskirche. Die Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Stadt kritisierte das Vorgehen der Kirchgemeinde, die mit den Besetzern kooperierte. Sie verzichtete auf eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch, griff aber auch nicht ein, als im März das Migrationsamt in Begleitung der Polizei die Asylbewerber kontrollierte und sie festnahm.

Anders ging der Fall einer eritreischen Mutter mit ihrem Sohn in Bern aus. Die beiden sollten im Herbst 2016 nach Sizilien ausgeschafft werden, wo sie nach ihrer Flucht nach Europa zuerst registriert worden waren. Die reformierten Kirche Belp-Belpberg-Toffen gewährte der Kleinfamilie Kirchenasyl und machte den Fall publik. Die Behörden verzichteten daraufhin vorerst, die Familie auszuschaffen.

Wenig später wurde das Asylverfahren von Mutter und Sohn in der Schweiz wieder aufgenommen. Zwar gab das Staatssekretariat für Migration damals aus Datenschutz­gründen keine Erklärung für die Wieder­aufnahme ab. Hilfsorganisationen vermuteten jedoch, dass das gewährte Kirchenasyl die Ausschaffung verhindert hat, da die Frist für die Rückweisung gemäss Dublin-Abkommen abgelaufen war.

In Kirchenkreisen ist das sogenannte Kirchenasyl in der Schweiz durchaus umstritten. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund publizierte deshalb 2016 eine Broschüre zum Thema, die das Kirchenasyl aus theologischer, ethischer und rechtlicher Sicht beleuchtet. So müssen vier Bedingungen erfüllt sein, damit ein Kirchenasyl gewährt werden kann: Notlage der Aufgenommenen, Transparenz, Zustimmung der Kirchgemeinde und Begründung aus dem «christlich-kirchlichen Selbstverständnis». Auch Pierre Bühler, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich, mischte sich mit einem Manifest 2016 in die Debatte um das Kirchenasyl ein. Bühler plädierte für den symbolischen und religiösen Wert von Kirchen als «Zufluchts- und Schutzorte».

Auch wenn das Kirchenasyl heute nur noch symbolisch ist: In der kirchlichen Tradition ist es tief verankert. Dass Verfolgte in Kirchen Hilfe finden, gründet in einer jahrtausendealten Tradition. Schon die Ägypter und Römer kannten das Tempel­asyl. In der christlichen Kirche wurde daraus das Kirchenasyl. Das ungeschriebene Recht verfestigte sich im Lauf der

Jahrhunderte und fand seit dem frühen Christentum auch optisch Niederschlag an den Kirchentüren in Form eines Löwenkopfs, dessen Nase von einem Metallring durchbohrt wird. Sobald ein Flüchtling im Kirchhof diesen Ring zu fassen bekam, war er vor seinen Verfolgern geschützt. In der reformierten Tradition wurde auch das Pfarrhaus zum Schutzraum. Bis lange ins 20. Jahrhundert hielt sich unter Schweizer Pfarrern das Gewohnheits­recht beziehungsweise die Pflicht, Schutzsuchende für eine Nacht aufzunehmen. Andreas Bättig