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Autorin: Karin A. Wenger
Bilder: Philipp Breu
Freitag, 26. Mai 2023

Das Auto der Community-Police biegt in einem Aussenquartier von Mossul ab auf eine Kiesstrasse mit tiefen braunen Pfützen. Am Rand häuft sich Abfall, und zwischen den Ziegelsteingebäuden hängen schiefe Stromkabel. Es ist eine der ärmsten Gegenden der irakischen Grossstadt; hier leben viele Familien, von denen ein Angehöriger mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Verbindung gebracht wird. Vor einem weissen Tor mit Rostflecken bremst das Auto.

Hana Jassim und ihr Kollege steigen aus. Sie sind an diesem Tag Mitte Februar hier, um Ismail zu treffen. Ein Junge, ungefähr zehn Jahre alt, der in Wirklichkeit anders heisst. Seine Familie war so arm, dass sein Vater für den IS als Elektriker zu arbeiten begann – so zumindest erzählt es Ismails Mutter. Ihr Mann wurde während des Krieges von einer Rakete getötet, sie selbst, Mitte dreissig, heiratete später einen Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie. Nun lebt sie mit ihm in Erbil, etwa eineinhalb Stunden Autofahrt von Mossul entfernt. Doch der neue Ehemann akzeptiert Ismail und seine Schwestern nicht und die Grossmutter beschimpft ihre eigenen Enkel als IS-Kinder. «Der Fall ist kompliziert», sagt Hana Jassim.

Hana Jassim glaubt an die Kraft und den Nutzen von Versöhnung.

An solche Situationen haben sich die 51jährige und ihre Kollegen längst gewöhnt. Sie gehören zum Team der Community-Police, die in Mossul aus rund zwanzig Personen besteht. Klassische Polizisten sind sie nicht, sie tragen weder eine Waffe noch verteilen sie Bussen. Ihre Aufgabe: mit Fürsorge und Verständnis mehr Gerechtigkeit schaffen. Sie wollen, dass sich Extremisten nie wieder in Mossul ausbreiten können. Dafür müssen sie die sozialen Probleme lösen – und davon gibt es einige.

Nach dem Einmarsch der amerikanischen Soldaten im Irak 2003 und dem Sturz des Diktators Saddam Hussein wurde Mossul zu einer Bastion des Widerstands gegen die US-Besatzer. Die Geräuschkulisse der Stadt war jahrelang geprägt von Attentaten der al-Kaida und anderer Aufständischer. Extremistische Gruppen kontrollierten die Stadt schon Jahre vor dem IS ähnlich wie eine Mafia. Einmal lag auf Jassims Weg zu ihrer damaligen Arbeit eine Leiche am Boden. Der abgeschnittene Kopf war mitten auf dem Bauch platziert. Tagelang traute sich niemand, die Leiche wegzuräumen.

Über zehn Jahre später, im Sommer 2014, stand Mossul weltweit in den Schlagzeilen. Der IS eroberte die Stadt, und ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi rief sein Kalifat in der Nuri-Moschee mitten in der Altstadt aus. Auf dem Höhepunkt seiner Macht kontrollierte der IS einen Drittel des Iraks. Mossul war mit Abstand die grösste Stadt, die der IS beherrschte: Etwa eine Million Menschen lebten damals unter den Terroristen. Diese verhielten sich mit der Zeit zunehmend brutaler. Wer sich ihren Regeln widersetzte, wurde bestraft; manchmal erhängten oder köpften sie Abtrünnige auf öffentlichen Plätzen, zum Beispiel Menschen, die versuchten, aus der Stadt zu fliehen.

Das Dach der grossen Nuri-Moschee, in der Abu Bakr al-Baghdadi 2014 sein Kalifat ausrief.

Mitte Oktober 2016 startete das irakische Militär die Gegenoffensive, die neun Monate dauern sollte. Als es im Sommer 2017 schliesslich den Sieg über den IS in Mossul erklärte, gab es besonders in der Altstadt sehr viel Tod und nur wenig Leben. Die IS-Kämpfer lagen entweder unter den Trümmern oder sie wurden in Gefängnisse gesperrt. Manche konnten fliehen, vermutlich in die Türkei oder nach Syrien. Die Männer, die noch in Mossul lebten, mussten Sicherheitschecks durchlaufen. Es war der Versuch der Sicherheitsbehörden, sämtliche Terroristen aus der Stadt zu entfernen. Doch eine Ideologie lässt sich nicht einfach wegbomben.

Die Greuel der Dschihadisten und der Krieg gegen sie hinterliessen in Mossul eine zerrüttete Gesellschaft, viele Beschuldigungen und wenig Vertrauen. Es ist der ideale Nährboden für neuen Extremismus. Die Armut in der Stadt ist hoch, die Arbeitslosigkeit ebenfalls und Menschen tragen Traumata mit sich, über die fast alle schweigen. Den meisten wäre es am liebsten, die Witwen, Waisen und anderen Angehörigen von IS-Mitgliedern würden nicht existieren. Viele von ihnen leben ausgegrenzt in provisorischen Siedlungen oder in Lagern mit wenig Platz.

Manchmal sagen die Menschen zu Hana Jassim, sie solle den Angehörigen von IS-Mitgliedern nicht helfen. «Viele wollen keine Vergebung», sagt sie und verwirft die Hände. «Ich kann gut verstehen, wieso Leute die IS-Familien hassen. Ich tue meine Arbeit nicht, weil ich diese Menschen besonders mag. Aber wir müssen sie integrieren, wenn wir unsere Kinder in Zukunft schützen wollen.»

Fälle lösen bis Mitternacht

Versöhnung ist für Jassim Extremismusprävention. Der Arbeit widmet sie einen grossen Teil ihres Alltags. Ihre Telefonnummer verteilt sie immer, zum Beispiel wenn sie Vorträge an Universitäten hält. Und oft würden Personen, denen sie geholfen hat, ihre Nummer weitergeben, sagt sie. So klingelt ihr Handy ständig, manchmal auch nur kurz. Für Jassim ist das ein Zeichen, dass die Person am anderen Ende kein Telefonguthaben hat, deshalb ruft sie direkt zurück.

Ihr Handy klingle auch abends, sagt sie, doch wenn sie nach Hause komme, sei ihr wichtig, zuerst Zeit mit ihrem Kleinsten, dem 9jährigen Sohn, zu verbringen und ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Danach nimmt Jassim wieder Anrufe entgegen. Manchmal löst sie Fälle bis um Mitternacht. Oft reicht es, zuzuhören und Ratschläge zu geben. Doch bei einem Fall wie dem von Ismail braucht es mehr.

Diskutieren, beraten, drohen – viel mehr bleibt den Mitgliedern der Community-Police nicht. Hier verhandelt Jassmin den Fall des etwa zehnjährigen Ismael (rechts).

Hana Jassim und ihr Kollege haben das Auto vor dem weissen Tor im Aussenquartier von Mossul geparkt und im Häuschen dahinter in einem kahlen Raum Platz genommen. Zwischen ihnen sitzt Ismail. «Wieso bist du hierher geflüchtet?» fragt Jassim. «Er hat mich geschlagen», sagt der Zehnjährige leise.

Er – das ist der Onkel väterlicherseits, der Ismail und die Schwestern bei sich in Mossul aufnahm, weil sie nicht mit zum Stiefvater konnten. Allerdings will der Onkel, dass Ismail arbeitet, statt in die Schule zu gehen. Er habe ihn auf Leitern hochklettern lassen, um Stromleitungen zu reparieren, erzählt der Zehnjährige. Von dort oben sei er runtergefallen und habe sich am Kopf verletzt. Schon zweimal haute Ismail deswegen zu einem Onkel mütterlicherseits ab. Das Problem: Ismail kann dort nicht bleiben, da die Stammesgesetze, die im Irak in manchen Regionen wichtig sind, die Obhut der Kinder der Familie des Vaters zuteilen.

Sein Onkel, zu dem er geflohen ist und in dessen Haus das Gespräch stattfindet, sagt: «Er muss zurück zu den Brüdern des Vaters, so will es das Stammesgesetz. Falls sie ihren Anspruch auf Obhut zurückziehen würden, könnte ich ihn adoptieren.»

«Ich kenne die Stammesführer, sie helfen mir manchmal bei meinen Fällen», antwortet Jassim. «Einmal war ich zwei Tage eingesperrt ohne Essen», sagt Ismail.

Seine Mutter, die beim Gespräch dabei ist, beginnt zu weinen. Sie ist hergereist, um bei ihrem Sohn zu sein. Ihre Töchter, die der Bruder des Vaters ebenfalls zu sich nahm, hat sie mehrere Jahre nicht mehr gesehen. «Ich kann dich heute zu ihnen fahren», sagt Hana Jassim. Doch die Mutter schüttelt den Kopf. Sie fürchtet sich vor ihren Verwandten. Das letzte Mal, als sie zu deren Haus gefahren sei, habe ihre Schwägerin sie geschlagen.

In Mossul arbeiten diverse Organisationen daran, den sozialen Kitt wieder herzustellen. Die sunnitische Religionsbehörde Waqf formuliert für alle Moscheen die Freitagspredigt vor, um zu kontrollieren, was die Imame sagen. Im Radio und am Fernsehen ordnet sie extreme Ideologien ein, zudem organi-siert sie Konferenzen mit Vertretern von anderen Religionen, damit sie sich annähern.

Die Unesco führt Kurse für Lehrer durch mit dem Ziel, Gewalt und Extremismus zu verhindern. An einer Grundschule in einem Aussenquartier von Mossul erklärt die 53jährige Lehre-rin Maha Aba Hussein, wie sie durch die Workshops gelernt hätten, die Schüler zurück ins Leben zu holen. Früher hätten sie in den chronisch überfüllten Klassen — manchmal sitzen bis zu 60 Schüler in einem Raum — nur herkömmlichen Fron-talunterricht gegeben. «Wir fühlten, dass die Kinder hoff-nungslos waren», sagt sie. «Das hat sich geändert, seit wir mit ihnen kreativ arbeiten.» Sie lassen sie in Gruppen basteln, sie singen gemeinsam, schreiben Gedichte und üben Kalligra-phie. Das Bastelmaterial bezahlen die Lehrer teilweise selbst, denn die staatlichen Schulen sind unterfinanziert.

Wenn die Lehrer hören, wie ein Kind einem anderen sagt, sein Vater sei beim IS gewesen, würden sie nun einschreiten, sagt Maha Aba Hussein. «Wir erklären ihnen, dass sie Freunde sind und dass die Kinder keine Schuld tragen.» Ansonsten versuchen sie zu verhindern, dass die Schüler über die Zeit der IS-Herrschaft reden — was die Strategie von fast allen Men-schen in Mossul ist. Sie möchten vergessen. Eine geschichtliche Aufarbeitung findet kaum statt.

Das vermutlich bisher einzige Projekt initiierte die Organisation Mosul Eye. Das Team führt 50 Interviews durch, die es auf Video aufnimmt. Menschen aus Mossul und der Region erzählen teilweise mehrere Stunden lang, wie sie die Zeit vor, während und nach dem IS erlebten. Das Videomaterial wird an der Universität Mossul sowie in der George-Washington-Universität in den USA aufbewahrt und für Forschende zur Verfügung gestellt. Ziel des Projekts ist, dass das Geschehene nicht vergessen geht und eine Grundlage schafft zur Aufarbeitung.

Für Jassim ist klar, dass Ismail wieder zur Schule gehen muss. Jedes Jahr zum Schulbeginn fragen Eltern bei der Community-Police um Hilfe an, weil ihre Kinder von den Schulleitern abgewiesen werden. Oft begründen diese den Entscheid mit fehlenden Dokumenten, doch Jassim ist überzeugt, dass sie schlicht keine Kinder von IS-Angehörigen bei sich aufnehmen wollen. Die Community-Police besucht seit Jahren Schulen in Mossul, um über das Problem zu sprechen.

Im Häuschen von Ismails Onkel ruft Hana Jassim schliesslich den Bruder des Vaters an, den der Junge nicht mag. «Ismail will hier bleiben», sagt sie. Der Onkel antwortet am Telefon: «Ich kann ihn vom Stammesgesetz freigeben, aber meine Brüder werden das nicht. Sie wollen die Obhut behalten.»

Jassim wählt die Nummer eines anderen Onkels. «Wenn du das Kind zu dir nimmst und ihm irgendetwas zustösst, wirst du vor der Stammesgemeinschaft dafür verantwortlich gemacht», sagt sie laut. Was sie damit meint: Wir merken, falls du den Jungen schlägst oder er sich beim Arbeiten verletzt – doch sie spricht das nicht direkt aus. Dennoch sind ihre Worte deutlich: «Wir akzeptieren das nicht!» Später sagt Jassim, manche Besuche seien richtig heftig, sie habe sich auch schon zwischen Streitende werfen müssen. Sie wirkt unerschrocken und sagt über sich selbst, sie lasse sich von niemandem einschüchtern.

Gefahr gebannt?

Unerschrockenheit, Verhandlungsgeschick und Bestimmtheit sind die stärksten Waffen von Jassim und ihren Kollegen. Denn Sanktionsmöglichkeiten hat die Community-Police kaum, ihr Ansatz ist, Lösungen ohne Bestrafung zu finden.

Die Teams sind im ganzen Land stationiert. Sie unterstehen dem irakischen Innenministerium; ausgebildet und teilweise finanziert werden sie von der Internationalen Organisation für Migration. Die Iraker sollen erfahren, dass Uniformierte den 43 Millionen Bürgern dienen und auf ihrer Seite stehen. Denn einer der Gründe, wieso manche Iraker den IS am Anfang willkommen hiessen, war ihr tiefes Misstrauen gegenüber den staatlichen Sicherheitskräften.

Bereits unter Diktator Saddam Hussein dienten Polizei und Armee dem Regime und nicht der Öffentlichkeit. Als nach der US-Invasion die Gewalt in Mossul eskalierte, schickte die irakische Regierung Truppen in die Stadt, die gegen Extremisten und Aufständische vorgehen sollten. Es waren vor allem schiitische Soldaten, welche die mehrheitlich sunnitischen Einwohner in Mossul behandelten, als wären sie alle Extremisten. Sie demütigten, schlugen und verhafteten sie. Angesichts der Willkür erhofften sich manche zu Beginn von den Gesetzen des IS, so barbarisch sie auch waren, eine gewisse Stabilität.

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Heute ist eines der grössten Probleme die Rückkehr der Menschen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden. Es sind über eine Million. Unter dem generellen zwischenmenschlichen Misstrauen leiden viele – eine Folge von jahrelangen Konflikten und Gesetzeslosigkeit, Diktatur, notorischer Korruption sowie Differenzen zwischen den verschiedenen religiösen und ethischen Gruppen im Irak.

So gilt etwa eine Frau, die in eine andere Stadt geflüchtet ist und deren Mann danach starb, in ihrer Heimat per se als verdächtig, eine IS-Witwe zu sein – auch wenn ihr Mann ebenso gut ein Zivilist gewesen sein kann. Für Menschen, die tatsächlich familiäre Verbindungen zum IS haben, ist es noch schwieriger, wieder in ihre alten Häuser zu ziehen. Die Nachbarn verachten sie, und oft stellen sich die Stämme, die in gewissen Landesteilen eine mächtige soziale Struktur bilden, gegen die Rückkehr.

Ein Teil der Familien lebt mit ihren Kindern bis heute in Zeltlagern oder provisorischen Bauten in Syrien und dem Irak. Experten wiederholen seit Jahren, dass diese Orte Brutstätten für neuen Extremismus und Kriminalität sind. Die irakische Regierung begann vor zwei Jahren, die Lager für die intern Vertriebenen abzubauen. Dies teilweise so überstürzt, dass die Uno die Schliessungen kritisierte.

Wer ist Täter, wer Opfer?

Jassim kennt die Probleme der IS-Angehörigen. Sie weiss aber auch, dass Täter und Opfer im Irak manchmal schwierig auseinanderzuhalten sind. Und nicht immer erzählen ihr die Menschen die Wahrheit. Einmal habe sie einer Frau geholfen und später herausgefunden, dass diese Kontakt pflegte zu ihrem Mann in der Türkei – er war ein Mitglied des IS. Trotzdem ist sie überzeugt: «Wir sind alle Menschen, und wir können uns ändern.»

Hana Jassim verhandelt in Mossul oft mit den Mukhtar, den Quartiervorstehern, die alle Bewohner ihres Viertels kennen. Will Jassim eine vertriebene Familie zurückholen, spricht sie das mit dem Mukhtar ab und gibt ihm die Telefonnummer der Rückkehrer. Er befragt diese regelmässig und meldet Verdächtiges den staatlichen Sicherheitsbehörden, bei denen er angestellt ist.

Das Mukhtar-System ist eines der Mittel der irakischen Behörden im Kampf gegen den Terrorismus. Staatliche Gerichte haben zudem schon Tausende Dschihadisten verurteilt. Das irakische Gesetz zur Terrorismusbekämpfung sieht die Todesstrafe für Personen vor, die für den IS kämpften, Attentate planten, diese finanzierten oder unterstützten. Andere Mitglieder von Terrororganisationen müssen bis zu 25 Jahre ins Gefängnis. Anfang Jahr verurteilte ein Gericht in Bagdad 14 Männer zum Tode, die für ein Massaker des IS verantwortlich gemacht wurden.

Der Fluss Tigris teilt Mossul in zwei Hälften. Hier zu sehen sind die Stadtteile, die bei der Vertreibung des IS am härtesten umkämpft waren.

Die Urteile geben den Opfern laut Umfragen teilweise ein Gefühl von Gerechtigkeit. Doch Menschenrechtsgruppen kritisieren die Verfahren, die im Schnelldurchlauf geführt würden und auf Geständnissen basierten, die zum Teil unter Folter entstanden seien. Anwälte, die Angeklagte verteidigen, werden bedroht. 2019 deckte Human Rights Watch auf, dass manche Gefängnisse im Irak so stark überfüllt sind, dass die Insassen keinen Platz finden, um sich hinzulegen. Ähnlich wie die Lager bergen auch diese Orte das Risiko, dass sich Menschen radikalisieren.

Darüber, wie gross die Gefahr ist, dass die Terroristen zurückkommen, gibt es unterschiedliche Ansichten. Ein irakischer General sagte im März dieses Jahres, dass etwa noch 500 aktive Kämpfer im Land seien, sie lebten vor allem in den Bergen und Wüstengebieten. Der IS im Irak ziehe kaum neue Rekruten mehr an. Ein gut informierter irakischer Experte, der anonym bleiben will, sagt hingegen, dass die Gefahr bestehen bleibe.

Vor wenigen Monaten hätten die Sicherheitskräfte in einem Quartier im Süden Mossuls IS-Mitglieder getötet, die sich erst vor kurzem der Terrormiliz angeschlossen hätten. Während des Ramadan im vergangenen Jahr sei zudem eine Autobombe in Mossul entschärft worden, die von neuen IS-Mitgliedern gebaut worden sei. Die Öffentlichkeit werde darüber nicht informiert, um dem IS keine Plattform zu geben, sagt der Experte.

Kinder im Gefängnis

Wie geht Versöhnung in so einem Umfeld, in dem vieles unklar bleibt? In dem Angst und Misstrauen noch immer gross sind? Hana Jassim erklärt: «Wir helfen allen, den Angehörigen von IS-Mitgliedern, den Opfern des IS und anderen Menschen mit Problemen.» Die Community-Police organisiert Begegnungen zwischen IS-Angehörigen und Opfern. Im vergangenen Jahr zum Beispiel liessen sie Waisenkinder zusammen Fussball spielen. Zuerst hätten sich die Kinder von Opfern mit jenen von Tätern gestritten, dann aber hätten sie rasch gemeinsam Bälle gekickt.

Regelmässig berät Jassim auch Witwen von IS-Kämpfern. Deren Probleme gleichen sich oft: Ehezertifikate und Totenscheine der Männer fehlen, vielfach gibt es keine Geburtsurkunden für die Kinder, womit diese für den irakischen Staat schlicht nicht existieren. Bevor Jassim zu Ismail fuhr, sprach sie in ihrem Büro mit einer solchen IS-Witwe. Diese sagte zu ihr: «Du bist die erste Person der Sicherheitskräfte, mit der ich rede. Der IS hat uns immer vor euch gewarnt, aber du machst mir keine Angst.» Jassim antwortete sanft: «Habibti, meine Liebe, ich bin für dich da.»

Manchmal besucht Jassim zudem Kinder und Jugendliche in Gefängnissen, die wegen Verbindungen zum IS oder zu anderen Verbrechen eingesperrt sind. Im Irak gilt das Strafgesetz ab neun Jahren. Einmal habe ein Junge gefragt, ob sie ihn herausholen könne. Nach dem Gespräch habe sie draussen vor dem Gefängnis geweint, weil sie nichts für ihn tun konnte, erzählt Jassim.

Wenn sie über ihre Arbeit spricht, entsteht der Eindruck, sie rede über ihr liebstes Hobby. Immer wieder schweift sie vom Thema ab, um von ihren Fällen zu erzählen. Von Mädchen, die sie vor einer Zwangsheirat retten konnte, und von Kindern, die dank ihr nun zur Schule können. «Ich fühle mich selbst lebenswert, wenn ich anderen helfe», sagt sie. «Und ich hasse Ungerechtigkeit.»

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Hana Jassim konnte das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, noch nie leiden. Sie erinnert sich, dass sie schon als Mädchen das Essen verweigerte, wenn die Stimme ihres Vaters zu laut geworden war. Sie wuchs in einer Familie auf, die Wert auf die Ausbildung der Kinder legte. Zwei ihrer Brüder doktorierten, sie selbst begann ein Studium, um Lehrerin zu werden. Doch nach zwei Jahren musste sie abbrechen – weil ihr Mann, ein Cousin von ihr, es so wollte.

«Die grösste Ungerechtigkeit, die ich in meinem Leben erfahren habe», sagt sie, «war, dass ich ihn heiraten musste.» Bis heute sind arrangierte Ehen üblich im Irak, vor allem in ländlichen Gegenden. Jassim war bei der Hochzeit 17, er zehn Jahre älter. Sie blieb mit ihrem Mann verheiratet, gebar acht Kinder. Jassim, die sonst viel erzählt, mag nicht darüber reden. «Er ist nun gut zu mir», sagt sie und lächelt.

Im kargen Häuschen von Ismails Onkel ist das Gespräch zu einem vorläufigen Ende gekommen. Als Hana Jassim und ihr Kollege zurück zum Auto gehen, winkt der Junge neben dem Eingangstor zum Abschied. «Heute habe ich ihn zum erstenmal lächeln gesehen. Wahrscheinlich, weil seine Mutter zurzeit bei ihm ist», sagt Jassim. Sie hofft, dass die Brüder des Vaters vom Anspruch auf die Obhut zurücktreten werden, damit der Junge bei seinem anderen Onkel leben und in die Schule gehen kann.

Nie hoffnungslos

Jassim und ihr Kollege ruckeln langsam den Weg entlang Richtung Hauptstrasse und von dort aus weiter in die Stadt. Der Fluss Tigris teilt Mossul in zwei Hälften. Auf der westlichen Seite liegen immer noch viele Gebäude in Trümmern, die Fassaden sind mit Schusslöchern übersäht. Auf der Ostseite, die während der Offensive gegen den IS früher befreit wurde, prägen schicke Restaurants, Einkaufsläden und Leuchtreklamen das Stadtbild.

«Ich habe schon so viele Geschichten wie die von Ismail gehört», sagt Jassim. Bei ihrer Arbeit blickt sie in tiefste Abgründe. Festhalten will sie sich aber an den Hunderten von Fällen, in denen sie helfen konnte. Es sind winzige Stücke Gerechtigkeit, die sie den riesigen Problemen entgegensetzt, vor denen der Irak steht. Verschiedene politische Gruppen streiten sich um Macht, Öl und Gott. An Versöhnung sind sie nicht interessiert, da sie von der Spaltung der Gesellschaft profitieren. Dagegen wird die Arbeit der Community-Police vergleichsweise wenig bewirken. Doch Jassim sagt: «Ich bin nie hoffnungslos. Nur traurig, wenn ich einen Fall nicht lösen kann.» Auf dem Rückweg zum Posten klingelt ihr Telefon dreimal.

Mitarbeit vor Ort: Alaa Mohammed und Ali al-Baroodi.