Er vergisst immer mehr. Manchmal geht er aus dem Haus, setzt sich in seinen Transporter, von dem man sich wundert, dass er überhaupt noch fährt, scheppert durch die staubigen Strassen von Rakka in Richtung seiner Werkstatt und merkt irgendwann, dass er sich in der Trümmerlandschaft verloren hat. Vor den Ereignissen, sagt Garabet, seien die Augen besser gewesen und er habe für drei junge Männer arbeiten können. Heute sitzt er, 72 Jahre alt, meist auf einem der Metallhocker auf der matschigen, ölgetränkten Strasse vor der Werkstatt, trinkt Tee und lässt seinen Mitarbeiter Autos zusammenschweissen, welche die Arbeit nicht wert scheinen. Die Ereignisse haben Garabet gebrochen, und es ist, als hätten sie ihm die Worte geraubt, sie zu beschreiben.
Es war ein Tag im Herbst des Jahres 2016. Der orange Anzug, den der Islamische Staat den Todgeweihten vorbehielt, lag wie eine Drohung vor ihm in der Zelle. So viel weiss er noch. Seine Exekution sollte am nächsten Tag stattfinden. Konvertiere – und wir lassen dich frei, hiess es. Aber Garabet wollte standhaft sein, wollte seinen Glauben nicht verleugnen. Also bereitete er sich auf seinen Tod vor.
Nicht weit entfernt hatte sich der Tunesier, der sich Abu al-Fida nannte, bei Garabets Frau Rosa angekündigt. Als sie hörte, dass Abu al-Fida auf dem Weg war, habe sie die Kreuze und Ikonen in ihrer Wohnung versteckt.
Abu al-Fida war Herrscher über die Christen in der Hierarchie des Islamischen Staates in Rakka. Sein Name ist Arabisch für Vater der Erlösung. Es war der Alias, unter dem ihn die Christen in der Stadt kannten. Er gab sich gütig und Rosa die Hoffnung, dass sie ihren Mann lebendig wiedersehen würde. Nur eine Bedingung: Sie solle Garabet dazu bewegen zu konvertieren, dann würde er überleben. Sie könne eine Nachricht auf Band sprechen, die Abu al-Fida ihrem Mann übergeben wolle.
Der Dieselofen in ihrem Wohnzimmer heizt zischend gegen die Kälte an. Die Kreuze und Ikonen hängen wieder. Seit Garabet sich auf seinen Tod vorbereitete, sind zwei Jahre vergangen. Seine und Rosas Wohnung liegt im Erdgeschoss eines Hauses, das mit Einschusslöchern übersät ist. In der ersten Etage klafft ein Loch, wo einst eine Wand war. Aus dem Balkon im zweiten Stock hängt eine verkohlte Wolldecke.
Sie muss dort seit mehr als einem Jahr liegen. Die Wohnung im dritten Stock, in die nach der Befreiung wieder eine Familie einzog, ist notdürftig mit Betonziegeln geflickt. Niemand traut sich in die Wohnungen in der ersten und zweiten Etage hinein, sagt Rosa. Zu gross ist die Angst, dass die Kämpfer des Islamischen Staates sie vor ihrem Abzug vermint haben.
Draussen legt sich der Staub über die Trümmer der Stadt, deren Name die Welt in Furcht versetzt hat. Rakka war für vier Jahre De-facto-Hauptstadt des Islamischen Staates. Die Stadt war dafür berüchtigt, dass in den Strassen schwarzmaskierte Kämpfer patrouillierten, die jeden Regelbruch ihres Moralverständnisses hart bestraften, die auf den Plätzen der Stadt Menschen exekutierten und ihre Köpfe auf Zäunen aufspiessten. Rakka war stadtgewordener Terror.
Das, was man hier als die Ereignisse bezeichnet, begann vor mehr als acht Jahren. Damals, Anfang 2011, lehnten sich die ersten Menschen in Syrien gegen eine Regierung auf, die sie vernachlässigte und unterdrückte. Die Proteste nahmen im Norden des Landes ihren Anfang und erfassten viele der ländlichen Gebiete. Präsident Baschar al-Assad liess sie brutal niederschlagen. Desertierte Offiziere, die nicht gegen die Demonstranten vorgehen wollten, organisierten sich zur Freien Syrischen Armee. Anders als ihr Name es vermuten lässt, war sie mehr als ein loser Zusammenschluss verschiedener bewaffneter Gruppierungen ohne zentrale Hierarchie.
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