
Geschichten ohne Ereignisse, Protagonisten ohne Motive, Parabeln ohne Pointen: Mit diesem gewagten Rezept landete der 29-jährige Primarlehrer Peter Bichsel (1935–2025) einen Erfolg bei der Kritik und der Leserschaft. Das war 1964. Sein Bändchen «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» wurde zum Klassiker.
Und obwohl Bichsel später auch einen Roman und unzählige Kolumnen schrieb, bleibt der «Milchmann» das bekannteste und bedeutsamste Werk des Solothurner Schriftstellers, der Mitte März, wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag, verstarb.
Nicht nur seine reduzierte Sprache ist über die 60 Jahre gut gealtert. Auch Bichsels widerspenstiger Erzählstil wirkt in Zeiten geschmeidigen Storytellings wohltuend. Die Geschichte «Musikdosen» etwa erzählt von einem Geheimnis, das ein Mann vor der Welt inklusive seiner Gattin hütet. Er sammelt Musikdosen. «Vielleicht hätte er ihr davon erzählen sollen, aber sie hätte ihn zu schnell verstanden und sie hätte gesagt, sie wisse, dass er Musik gern habe.»
Wie viele von Bichsels Geschichten lebt auch diese davon, dass das Entscheidende im Konjunktiv steht. Oft sind es die nicht gegangenen Wege, die verpassten Begegnungen, denen die Protagonisten nachsinnen.
Bichsels Erzähler reflektieren in scheinbar naiver Weise das Erzählen, beispielsweise im Stück «Der Tierfreund». «Es ist mir unangenehm, dass ich eine Geschichte und ausgerechnet diese schreiben muss, dass ich mich gezwungen fühle.» Hier wird ausdrücklich angesprochen, was andernorts implizit Thema ist. Eine andere Geschichte erzählt von den Blicken, die eine junge Dame in einem Café taxieren, und vom Geschwätz, inspiriert von ihrer Person.
«Schöne Frauen sollten nicht warten müssen, dachte man. Sie ist jung, dachte man auch. Ein bisschen verdorben, wünschte man.» Wer mit dem dutzendfach wiederholten «man» gemeint ist, verrät der Titel der Geschichte: «Die Männer».
Peter Bichsel hatte seit einigen Jahren nicht mehr geschrieben. Wenn bei Suhrkamp nun eine erweiterte Neuausgabe der «Milchmann»-Geschichten mit zusätzlichen Texten und Varianten erscheint, ist das dennoch keine Verlegenheitstat. Die Auswahl an Variantentexten zeigt, wie viel Arbeit hinter Bichsels beiläufiger, zuweilen fast achtlos wirkender Erzählweise steckt. «Musikdosen» durchlief sogar eine ganze Serie von Versionen.
Den publizierten Text hatte Bichsel gestrafft und erklärende Bemerkungen gestrichen. So wurden die Leerstellen in der Charakterzeichnung und die Kluft zwischen den Protagonisten grösser. Doch wie die Herausgeber Andreas Mauz und Beat Mazenauer in ihrem Nachwort aufzeigen, sind die Varianten nicht bloss als Vorstufen zu lesen, sondern als eigenständige Versionen, als andere Möglichkeiten, dieselbe Geschichte zu erzählen. So zeigt die Variantensammlung, wie Bichsel seine Poetik des selbstreflexiven Erzählens eingekreist hatte.
Auch die Auswahl an weiteren «Milchmann»-Geschichten aus dem Archiv zeigt, wie streng der Autor bei der Auswahl war. Es wurde fast ebenso viel Material weggelassen wie aufgenommen. Die Mehrzahl der nun neu edierten Geschichten ist tatsächlich zu rau, zu pointenorientiert oder zu konstruiert, um sich in die schwebende Poetik der ursprünglichen Auswahl einzufügen.
Denn was die besten der «Milchmann»-Geschichten auszeichnet, ist die Beiläufigkeit, mit der sie die Leserinnen und Leser an den Menschen heranlassen, der sein Leben in seinen Vorstellungen und zugleich im profanen Alltag leben muss.
So etwa die «neue» Geschichte «Der Lehrling». Der Lehrling einer Eisenwarenhandlung ist überzeugt, dass er eines Tages von zwei Männern ausgeraubt wird. Er spielt die Situation ständig durch und bereitet sich minutiös vor, doch ohne den Chef einzuweihen. «Eigentlich will man ja etwas ganz anderes werden. Eigentlich will niemand Eisenwarenhändler werden.»
Was ihm gefällt, das sind die Regale, die Kasse, aber vor allem die Erwartung des Überfalls. Eines schönen Tages allerdings, ehe man es sich versieht, «wird man ein Eisenwarenhändler und vergisst nach und nach die beiden Männer».
Peter Bichsel: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen. Geschichten». Erweiterte Neuausgabe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025; 176 Seiten; 32 Franken.