Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
(…)
«Ziehende Landschaft», Hilde Domin
Wenn Claudia Buhlmann von ihrer Heimat spricht, breitet sie ihre Arme aus. Sie schaut nach links, wo die eine Hand nach ihrem Geburtsort im Osten Deutschlands greift. Dann nach rechts, wo die andere über der Schweiz liegt. Und ihr Herz, das ist manchmal dort und manchmal hier.
Hier bedeutet an diesem Nachmittag: Münchenbuchsee. Eine Gemeinde im Kanton Bern mit etwas mehr als 10 000 Einwohnern, Buchsi-Market, Bären, Geburtshaus von Paul Klee – und mittendrin eine Kirche, in der Claudia Buhlmann seit 19 Jahren reformierte Pfarrerin ist. Eine, die auffällt. Die «womöglich für die Kirche zu bunt angezogen» ist, wie sie sagt. Die mal entspannt mit einem berndeutschen «gäng wie gäng» antwortet und mal wütend über «Nazifressen» schimpft. Die im Gottesdienst das Kinderlied «Wänn eine tannigi Hose hät» anstimmt und die Gemeinde dazu auffordert, mit ihr aus der Kirche zu tanzen.
«Wissen Sie», sagt die 59jährige einmal, «ich bin zwar inzwischen ganz schön verschweizert, aber für Schweizer Verhältnisse noch immer eine ziemliche Wucht.»
Claudia Buhlmann öffnet die Tür zum Pfarrhaus, führt ins Sitzungszimmer und wirft einen Schlüsselbund auf den Tisch. Nebst über einem Dutzend Schlüssel hängen ein Stoff-Bernhardiner und ein Schweizer Sackmesser dran. Buhlmann trägt eine blaue Brille und ein rotes Kleid, darunter Leggins mit Blumenmuster. Blumen überall: als Brosche, als Halterung am Handy. Der Tisch ist mit Blaustern und Vergissmeinnicht dekoriert, die sie frisch gepflückt hat. «Ach», sagt sie in einem Ton, als klage sie über eine Krankheit, «ich liebe Blumen über alles.» In ihrem Garten im benachbarten Zollikofen, wo sie in einem Block wohnt, pflanze sie nur Blumen an. Für mehr habe sie keine Zeit. Der Balkon gleiche einem Urwald.

Blüten und Blumen – sie gehören zu Claudia Buhlmann wie ihre Märchenbücher.
Claudia Buhlmann spricht oft über Blumen. Von einem Schneeglöckchen handelte ihre erste Radiopredigt, die sie Anfang Jahr auf SRF hielt. Sie erzählte darin von der Lebenskraft dieser Blume, die dank ihrer wärmenden Zwiebel trotz Schnee und Kälte einen Weg an die Oberfläche findet. Für Claudia Buhlmann ein Zeichen der Hoffnung in frostigen Zeiten.
Mit ihrer Mutter, die in Kleinalsleben wohnt, einem kleinen Dorf in der Nähe von Magdeburg im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt, spreche sie am Telefon oft über die aktuellen Krisen, sagte Buhlmann in der Predigt. Dabei seien die Meinungen nicht immer gleich, es komme manchmal zu heftigen Wortwechseln. Bis ihre Mutter abrupt unterbreche und sie frage: «Was macht eigentlich dein Garten?»
Mittlerweile liebe sie diese Art, das Thema zu wechseln, sagte Buhlmann. Auch wenn sie die mütterliche Konfliktvermeidungstaktik schon oft geärgert habe, bringe sie die Frage auf den Erdboden der Realität zurück und lasse sie lächeln.
Für ihre erste Radiopredigt erhielt die Pfarrerin viel Post. Vermutlich sei die Geschichte mit den Schneeglöckchen und dem Garten vielen «nöch as Herz» gegangen, sagt Buhlmann am Sitzungstisch. «Die einfachen Dinge und bisschen Dreck am Stiefel.» In ihrer nächsten Predigt erzählte sie vom Acker in Kleinalsleben. Das Motto: Wo nicht Mistus, da kein Christus. Wer was vom Himmel haben will, muss sich auch um die Erde kümmern.
«Neue Begegnungen sind wichtig. Geschichte muss atmen, in lebendiger Erzählung. Sonst erstickt das Alte das Jetzt.» Claudia Buhlmann
Wenn Claudia Buhlmann nach Kleinalsleben reist, pflegt sie die Gärten und Familiengräber, hilft ihrer Mutter auf dem Hof, putzt, kocht, füttert die Hühner. Sie fährt hin, sooft es geht. Auch wenn die Zugreise rund zehn Stunden dauert.
Buhlmann hat sich gründlich überlegt, ob sie sich porträtieren lassen will. Ihre Kindheit in der DDR hat sie geprägt. Selbst in Kleinalsleben hatte die Staatssicherheit ihre Spitzel. Auf die Frage, ob das Gespräch mit ihr aufgezeichnet werden darf, zögert sie. Und auch ihre Mutter ist zunächst wenig begeistert, dass ihre Tochter für das Portrait einen Reporter aus der Schweiz auf ihrem Hof beherbergen will.
Schliesslich willigten die beiden ein. Nicht nur, weil sie gerne Geschichten erzählen. Auch, weil Claudia Buhlmann darin eine Möglichkeit sieht, ihre alte Heimat mit der neuen zu verbinden. «Und weil neue Begegnungen wichtig sind», schreibt sie später in einer Whatsapp-Nachricht: «Geschichte muss atmen, in lebendiger Erzählung. Sonst erstickt das Alte das Jetzt.»
«Erzähl das nicht weiter!»
Also los, nach Kleinalsleben. Über Mannheim, Halle, Halberstadt, von dort weiter mit dem Taxi. Busse fahren keine mehr. Ankunft gegen Abend in einem Dorf mit 180 Einwohnern, mitten in der ostdeutschen Pampa: in der «Börde», wie sie hier sagen, wo der Boden schwer ist, der Himmel unendlich weit und die letzten Kneipen und Läden längst dichtgemacht haben. Die Kirche steht zwar noch, doch Gottesdienste finden selten statt. Der Hof der Buhlmanns liegt an derselben Strasse.
Claudia Buhlmann ist ein paar Tage früher angereist. Als das Taxi vorfährt, steht sie schon vor der Haustür. Bevor es eindunkelt, will sie das Anwesen zeigen: ein Vier-Seiten-Hof, wie er für diese Gegend typisch ist. Zur Strasse das Wohnhaus, dahinter die Scheune und seitlich die Ställe, alle vier Gebäudeteile verbunden zu einem Rechteck. «Als Kind war das meine Burg», sagt Buhlmann.
Sie schlüpft in violette Gummistiefel und geht über den Innenhof, in dessen Mitte ein Turm steht. Darin wurden zuunterst Schweine gehalten, in der Mitte Hühner und zuoberst Tauben, die geschlachtet und gegessen wurden.
«Der geschlossene Hof spiegelt für mich das Drinnen und das Draussen wider, das es während der DDR-Zeit gab», sagt Buhlmann. Was drinnen besprochen wurde, sollte nicht nach draussen dringen. «Ich höre noch meine Eltern sagen: Erzähl dies nicht weiter! – Sag das nicht am Telefon! – Schreib es nicht auf!»

Der Vier-Seiten-Hof ist typisch für die Region, in der Buhlmann aufwuchs.
Besucher aus dem Westen empfingen sie dennoch – auch wenn es vom Staat nicht gern gesehen wurde. Sie erzählten, wie sie auf der anderen Seite der Grenze lebten, und brachten Kaffee, Bohrmaschinen oder auch Kleider mit. «Schöner als der DDR-Fummel», sagt Buhlmann. Auch das West-Fernsehen liess sich ihre Familie nicht nehmen: Samstagabends sah sie sich Unterhaltungsshows an, in denen mitunter Schweizer auftraten, der Tessiner Schlagersänger Vico Torriani zum Beispiel oder Paola und Kurt Felix. Montags musste Claudia aufpassen, mit wem sie sich über «Verstehen Sie Spass?» oder «Flipper» unterhielt: «Erzähl das nicht weiter!»
Bespitzelt wurde sie trotzdem. 1991 verlangte sie ihre Stasi-Akte. Viele Jahre später lag ein brauner Umschlag in ihrem Briefkasten. Darin ein Dokument, in dem auf 80 Seiten beschrieben wird, wie sie sich kleidet, mit wem sie sich trifft – schon als Jugendliche. «Klatsch und Tratsch, meine Kirchenzugehörigkeit, viel Privates, ganz schlimm.»
Sie selbst sei zweimal von der Staatssicherheit angefragt worden, ob sie mit ihr zusammenarbeiten wolle. Sie lehnte ab. «Ich wäre ohnehin unbrauchbar gewesen, ich plapperte viel zu viel.» Heute sage sich das leicht, fügt sie an. «Aber damals hatte ich grosse Angst – und Mut. Mein Nein hätte mir oder meiner Familie schaden können. Vielleicht würde man Druck ausüben, irgendein Vergehen erfinden, mich juristisch belangen oder gar einsperren.»
Es dunkelt in Kleinalsleben. Zeit fürs Abendbrot. Auf dem Küchentisch liegen Wurst und Käse aus der Region, dazu Zwiebelschmalz, Schwarzbrot und rote Beete. Die 89jährige Mutter von Claudia Buhlmann kommt in die Küche und setzt sich dazu. Marianne Buhlmann kann unzählige Geschichten erzählen, viele handeln von Heimat und Flucht. «Immer wenn die kalten Januartage kommen», hat sie diesem Magazin einmal in einem Leserbrief geschrieben, «muss ich an unsere Flucht denken. Wie ich am 25. Januar 1945, ich war zehn, mit meiner Mutter abends um 21 Uhr bei minus 20 Grad meine Heimat, die Stadt Lüben in Schlesien, das heutige Lubin in Polen, verlassen musste.»
Sie landete in Kleinalsleben. Und wollte nie mehr weg. Bloss nie wieder die Koffer packen müssen. Die Familie ihres späteren Mannes, in achter Generation ortsansässige Bauern, musste 1960 den Hofbetrieb aufgeben und in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft eintreten. Der Druck, das staatliche Abgabesoll zu erfüllen, war ihr zu gross geworden. Claudia Buhlmanns Vater schulte um und arbeitete dann hauptberuflich als Anbauberater und später als Ökonom. Er starb 2006 an multipler Sklerose. Ihre Mutter begann nach dem Abitur mit einer Ausbildung als Saatzuchtassistentin und züchtete später im Nachbardorf Gerste am Institut für Getreidezüchtung.
Als Marianne Buhlmann am Küchentisch von den alten Zeiten erzählt und beinahe ins Schwärmen kommt, unterbricht sie ihre Tochter. «Es war schon nicht so schön, wie du die Vergangenheit gerade beschreibst», sagt sie. «Weltkrieg – Inflation – Nazis – wieder Krieg – sowjetische Besatzung – wieder alles verlieren – die Angst, umgesiedelt zu werden – Mauerbau – Revolution – Mauerfall – wieder alles anders. Das war anstrengend.»
Manchmal könne sie die Geschichten von Verlust und Flucht nicht mehr hören, sagt Claudia Buhlmann. Sie seien auch eine Last. «Als kleines Mädchen dachte ich oft, vielleicht kommt der Krieg ja hierher.» Sie half im Stall, beim Rübenhacken, beim Einkochen der Früchte. «Ich lernte mit zehn, Tauben zu schlachten. Ich dachte, ich muss das können, für den Fall, dass ich mich allein durchbringen muss.»
Keine Lust auf Kalaschnikow
Am nächsten Morgen schlüpft Claudia Buhlmann wieder in ihre Gummistiefel, zieht eine Regenjacke mit Blumenmuster über und schnappt sich eine Schubkarre. Bevor sie zurück in die Schweiz fährt, will sie im Garten und auf den Familiengräbern düngen. Über dem Grab ihres Vaters kreisen Erdbienen. Sie entfernt Unkraut und mischt Dünger unter die Erde. Sie mag diese Arbeit.
Ursprünglich wollte Claudia Buhlmann in Halle Biologie studieren. Ihr Abi war gut genug, doch in der DDR bestimmte zuletzt die Zulassungsbehörde der Universität, wer was zu studieren hatte. Die Zugehörigkeit zur richtigen Partei war mindestens so wichtig wie die Schulnoten. Claudia Buhlmann sollte Lehrerin werden. Doch es ging nicht lange gut. «Ich hatte keine Lust, Kinder nur zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen», sagt sie dazu.
Zum Abruch des Studiums kam es nach dem Besuch des obligatorischen «Zivilverteidigungslagers» an der Ostsee. «Da mussten wir lernen, mit der Kalaschnikow zu schiessen, mit Gasmaske und Schutzanzug bei Nacht und Nebel über die Insel zu laufen, und solchen Schruns.» Sie weigerte sich, «immer und überall im Gleichschritt zu marschieren». Die universitäre Laufbahn war damit beendet.
Ihr Dorfpfarrer riet ihr schliesslich, Theologie zu studieren. An eine staatliche Universität wollte und konnte Claudia Buhlmann nicht mehr gehen, doch Theologie wurde auch an kirchlichen Hochschulen gelehrt. In der DDR hatte die Kirche wenig zu sagen und wenige Mitglieder. Der Familie mütterlicherseits hatte sie jedoch schon immer eine Heimat gegeben. «Einer muss am Sonntag in die Kirche gehen, um den Segen nach Hause zu holen», hiess es seit Generationen.
In der DDR war die Kirche eine Gegenwelt zum Sozialismus. «Unser Alltag war engmaschig getaktet, man musste funktionieren, in der Familie und im Staat», sagt Claudia Buhlmann. «In der Kirche war das nicht so, da konnte ich so sein, wie ich bin.» Diesen Freiraum habe sie schon als Kind gespürt. «Und diesen grösseren Raum, einen Raum von Glauben, Hoffnung und Liebe, habe ich bis heute nicht aufgehört zu suchen.»
Harte Landung im Kapitalismus
Zurück von den Familiengräbern, kocht Claudia Buhlmann in der Küche des Hofes einen Tee mit frisch gepflückten Gänseblümchen. Sie sagt: «Als ich zehn war, dachte ich, ich werde diesen Ort nie verlassen, ich bleibe hier auf dem Hof, habe zehn Kinder und zehn Ziegen und setze keinen Fuss aus Kleinalsleben raus.» Es kam anders.
Am Katechetischen Oberseminar in Naumburg lernte sie einen jungen Schweizer kennen. Er engagierte sich in der reformierten Kirche und wollte in Bern Theologie studieren. Für eine Konferenz der Cevi war er in die DDR gereist. «Wir sassen beim Mittagessen am gleichen Tisch und haben uns auf den ersten Blick verliebt», sagt Buhlmann. Verehrer habe sie damals mit 21 viele gehabt. «Aber mir war keiner gut genug. Bei Michael war das anders.»
Die Arbeit im Café war stressig. Zudem habe sie die Gäste kaum verstanden. «Ä häui Schaale!» – «Bitte was!?»
Doch Michael musste schon nach drei Tagen wieder zurück. In den folgenden dreieinhalb Jahren sah sich das Paar nur wenige Male und schrieb sich umso mehr Liebesbriefe. Im Sommer 1989 trafen sich die beiden in Ungarn, und sie beschlossen zu heiraten. «Das war schon ein bisschen wild, so ohne Job und Plan.» Aber als dann die Mauer gefallen war, herrschte ein Aufbruchsgeist. «Wir ritten auf einer Welle.»
Mit nur einem Koffer reiste Claudia Buhlmann mit ihrem Mann in die Schweiz. Darin einzig ihre Lieblingskleider und ein Tassenservice der Uroma. Kleinalsleben war weit weg, und der Anfang in der neuen, nach kapitalistischen Regeln funktionierenden Heimat war hart. Sie vermisste Familie und Freunde und hatte wahnsinniges Heimweh. «Es war nicht so, dass mir der geliebte Mensch, auf den ich jahrelang verzichtet hatte, einfach so ein Zuhause geben konnte. Dazu braucht es mehr, doch das wusste ich vorher ja nicht.»
Also versuchte sie, selbst Fuss zu fassen, und begann in Bern im Café Mercur zu kellnern. Die Arbeit war stressig. Zudem habe sie die Gäste kaum verstanden. «Ä häui Schaale!» – «Bitte was!?»
In der Küche in Kleinalsleben räumt Claudia Buhlmann jetzt die Tassen weg und sagt, sie müsse noch etwas zeigen. Sie geht aus dem Raum, steigt die Treppe hoch und öffnet im ersten Stock die Tür zu einem kleinen Zimmer: «Mein grüner Salon!» An den lindgrün gestrichenen Wänden hängen Familienfotos und Portraits von Frida Kahlo und Hermann Hesse. Am Fenster ein kleiner Tisch, dekoriert mit goldbemalten Schneckenhäuschen. Hier schreibt sie manchmal täglich Briefe an ihre Freunde und Bekannten. Ein Sessel lädt zum Lesen ein.
«Die Literatur war und ist meine Welt», sagt Claudia Buhlmann. «In dieser Welt kann ich ein Zuhause finden – selbst wenn ich mich fremd fühle.» Auch die Liebe zu Märchen hat sie sich bis heute bewahrt. In einem ihrer Zimmer in Zollikofen stehen über 400 Märchenbücher im Regal. Vor ein paar Jahren liess sie sich zur Märchenerzählerin ausbilden. In der Studienzeit waren jedoch reale Figuren ihre Helden. «In Dürrenmatt war ich eine Zeitlang so verknallt, ich malte mir tatsächlich aus, wie ich nach Neuchâtel reise und bei ihm klingle, nur um zu sehen, ob es ihn wirklich gibt.» Dürrenmatts Bücher waren jedoch in der DDR nicht einfach zu bekommen. «Nur wenn einen die Buchhändlerin nett fand.»
Claudia Buhlmann hat Unmengen Bücher gelesen, ab und zu zitiert sie aus einem Roman oder Gedicht. Eines ihrer Lieblingsgedichte handelt von Heimat. Es ist die eingangs zitierte «Ziehende Landschaft» von Hilde Domin:
(…)
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unserer Mutter.
In ihrer neuen Heimat hätte sich Claudia Buhlmann gerne für ein Germanistikstudium eingeschrieben. Doch bei ihrer Ankunft 1989 durfte man in der Schweiz nur jene Richtung wählen, die man im Ausland bereits zwei Jahre lang an einer anerkannten Hochschule studiert hatte. Als sie das Theologiestudium fortsetzen wollte, wurde sie schwanger.
Felix kam 1992 zur Welt, drei Jahre später folgte Muriel. Die Kinder hätten ihr Halt gegeben, sagt Buhlmann. Die Ferien verbrachten sie aber immer in Kleinalsleben. Ihr Sohn und ihre Tochter liebten die Tage auf dem Hof und auf dem Acker. «Ich wollte ihnen etwas von meiner Herkunft weitergeben, auch die Sprache.»
So naheliegend es war, dass ihre Kinder irgendwann Schweizerdeutsch sprechen würden, tat es doch weh, als es soweit war. Es schien ihr, als reisse eine Verbindung in ihre alte Heimat. Als ihr Sohn eines Tages «Rössli» statt «Pferd» sagte, brach sie in Tränen aus.

Marianne und Claudia Buhlmann haben sich gründlich überlegt, ob sie ihre Geschichte erzählen wollen. Das Leben in der DDR hat beide geprägt.
Nach zehn Jahren ging die Ehe in die Brüche. «Das war ein Schock», sagt Claudia Buhlmann. «Das Ende einer grossen Liebesgeschichte.» Das Verhältnis zu ihrem Ex-Mann und seiner Familie blieb zwar gut, auch hatte sie inzwischen Freundinnen gewonnen. Doch die Verbindung zu ihrem ersten Zuhause in der Schweiz wurde gekappt.
«Dabei wurde mir klar, dass ich hier noch gar keine eigenen Wurzeln geschlagen hatte.» Der Partner könne einen vielleicht beschützen, die Kinder könnten Halt geben. «Aber das eigene Leben muss man selber führen – und Heimat in sich selber finden.» Zurück nach Kleinalsleben zu gehen kam für sie nicht infrage. Sie wollte den Kindern nicht den Vater nehmen und dem Vater nicht die Kinder.
Noch bevor Claudia Buhlmann in eine eigene Wohnung zog, mietete sie sich ein Gartenbeet. Der Garten, Freundinnen und die Erziehung der Kinder hätten geholfen, mit der neuen Situation klarzukommen. «Die Trennung war gleichzeitig ein Startschuss für ein eigenes Leben», sagt sie. «Vielleicht war ich bis dahin eine Topfpflanze, die gegossen werden wollte. Nun musste ich plötzlich selbst Energie schöpfen.» Sie setzte ihr Theologiestudium fort, übernahm ihre erste Pfarrstelle, wurde Teil einer Gemeinde und lernte neue Menschen kennen. «Dadurch und vor allem durch die Tätigkeit als Pfarrerin begann eine neue, andere Verwurzelung.»
Im Zwischenraum, superentspannt
In Kleinalsleben ist inzwischen die Fotografin angekommen. Claudia Buhlmann zieht wieder ihre Gummistiefel an, schnappt sich einen Korb und spaziert aus dem Dorf, über Feldwege und Wiesen, dann über tiefen, nassen Ackerboden. Störche fliegen über sie hinweg.
Wenn sie in Kleinalsleben Richtung Schweiz losfahre, sagt Claudia Buhlmann, geschehe etwas Interessantes. «Die Enge, die ich hier trotz des weiten Himmels oftmals spüre, die geht weg.» Sicher auch, weil sie sich in der Schweiz freier fühle als in Deutschland. «Weil ich so sein kann, wie ich will, weil ich mitbestimmen kann, weil ich gelernt habe, zu vertrauen.»
«Ja, ich lerne loszulassen, man kann nicht alles festhalten. Das macht die Arme so lahm.» Claudia Buhlmann
Zudem freue sie sich immer darauf, die Aare wieder zu sehen. «Sie ist so unbeschreiblich schön. Und ich liebe den lumpigen Teich bei mir in Zollikofen. Oder den Wald nebenan, der eigentlich gar keiner ist, von dem ich aber weiss, wo der Huflattich wächst …»
Man hört Claudia Buhlmann diese Worte sagen und schaut ihr zu, wie sie nun mit der Fotografin über ihren geliebten Acker in Kleinalsleben stapft, sich später in eine Blumenwiese legt und gar nicht mehr aufstehen will.
Ja, wo gehört sie denn nun hin?
«Wenn ich zwischen Deutschland und der Schweiz zehn Stunden im Zug sitze und mich mit dieser Frage wieder einmal schwertue», sagt Claudia Buhlmann, «dann denke ich, ich könnte ewig hier sein. In diesem Zwischenraum. Superentspannt.»
Die beiden Orte miteinander zu verbinden, das mache sie glücklich. Sei es als Pfarrerin oder seit Anfang Jahr als Radiopredigerin. Oder indem sie in ihrem Garten in Zollikofen eine Pflanze ausgräbt und sie in Kleinalsleben wieder einsetzt. Oder in Berlin Kleider von «Blutsgeschwister» kauft und sie mit in die Schweiz nimmt.
«Ach», sagt sie und lacht, «was ich alles hin und her schleppe!» Aber es werde weniger. Durch das Älterwerden. Oder das Loslassen. Claudia Buhlmann streckt wieder ihre Arme aus. Dann lässt sie sie langsam sinken und sagt: «Ja, ich lerne loszulassen, man kann nicht alles festhalten. Das macht die Arme so lahm.»