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Illustration: Mauro Mazzara
Freitag, 17. Mai 2024

Habe nur ich ständig dieses Gefühl, nicht zu genügen? Ich sollte besser arbeiten, müsste meinen drei Kindern mehr mitgeben für ihren Weg, sollte sinnvollere Hobbys pflegen, müsste öfter für Angehörige da sein und mehr in Freundschaften investieren. Ich müsste dafür sorgen, dass immer ausgewogenes Essen im Kühlschrank ist und die Fruchtfliegen in der Küche nicht überhand nehmen. Mein Alltag fühlt sich an wie das Abarbeiten einer nie enden wollenden To-do-Liste.

Seit einigen Jahren kommt das Gefühl hinzu, immer und überall woke sein zu müssen. Diese Erwartung teile ich mit meinem urbanen, akademischen Umfeld: Rassismus und Diskriminierung sind zu verurteilen, so viel ist klar.

An sich bin ich prädestiniert, mich für diese Themen zu engagieren. Ich bin privilegiert, gesund und verdiene genügend Geld. Andere haben existenziellere Sorgen: Schulden, Krankheit, Lebenskrise. Und doch verhalte ich mich nicht wie ein Vorzeige-Woke: Ich kenne weder die Pronomen, die ich möglicherweise verwenden sollte, noch weiss ich über die korrekte Anwendung des Gendersterns Bescheid.

Auch würde ich mir ohne zu zögern einen Winnetou-Film anschauen (wenn ich für so etwas Zeit hätte), meinen Kindern «Jim Knopf» vorlesen (wenn sie das wollten) oder einen Schokokuss von Dubler mit problematischem Namen verdrücken (es sind die besten, leider). Der Grund ist banal: Der Anspruch, moralisch perfekt zu sein, überfordert mich.

Früher führten Konservative einen Kampf gegen «politische Korrektheit» oder «Gutmenschen», nun sind «Cancel Culture» und «Wokeness» an der Reihe.

Woke bedeutet im Deutschen so viel wie «wach» oder «aufgeweckt». Der Begriff kam schon in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts auf und bedeutet ein Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit oder – in meinem Fall – für die eigenen Privilegien. Heute allerdings ist der Begriff durchwegs abwertend gemeint. Das hat damit zu tun, dass Konservative ihn für sich gekapert und politisch instrumentalisiert haben. Früher führten sie einen Kampf gegen «politische Korrektheit» oder «Gutmenschen», nun sind «Cancel Culture» und «Wokeness» an der Reihe.

Dabei tun sie so, als handle es sich bei Woken um lauter Extremisten. Auffällig ist, wie vage sie in solchen Erzählungen stets bleiben. Von wem ist eigentlich die Rede? Die Soziologin Franziska Schutzbach spricht von einer «Verschwörungserzählung», in der «diffuse, nicht weiter definierte, aber als mächtig dargestellte Akteur:innen» walten und «allgemeine Verbote und Regeln verhängen würden». Wer aber kennt jemanden, der dafür ist, die Verwendung des Gendersterns gesetzlich zu verankern, Pippi-Langstrumpf-Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen oder Weissen das Tragen von Dreadlocks zu verbieten? Eben.

Wer jedoch Radikale vor dem Auge hat, der hat leichtes Spiel, um fundamentale Gefahren für die ganze Gesellschaft heraufzubeschwören. Die Woken würden nichts weniger als die Errungenschaften der Aufklärung, die offene Gesellschaft und die Demokratie gefährden, heisst es.

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Besonders häufig wird ein Verlust der Meinungsäusserungsfreiheit beziehungsweise eine Cancel Culture beklagt. Begründet wird das mit Beispielen ausgeladener Vortragsredner an Universitäten, verhinderten Auftritten von weissen Reggae-Bands oder anti-woken Schriftstellern, die bei der Vergabe von Kulturgeldern unberücksichtigt blieben.

Der Vorwurf der Zensur ist wohlweislich absurd, schliesslich war es noch nie in der Geschichte der Menschheit so einfach wie heute, jede noch so krude Meinung öffentlich zu machen – zumindest in demokratischen Staaten ohne Internetzensur. Kommt dazu, dass die Zensurwarnungen über die landesweit reichweitenstärksten Medien ein Millionenpublikum erreichen – ohne dass tags darauf je die Polizei vor der Türe steht.

Unredliche Religionsvergleiche

Es wird also ziemlich viel Unfug getrieben in dieser Debatte. Dazu gehört auch die Mode, Wokeness mit einer neuen Religion gleichzusetzen. So nannte etwa der französische Schriftsteller Pascal Bruckner die Woke-Bewegung in den Zeitungen von Tamedia «eine Art Religion universitärer Kreise», der es darum gehe, «deren Vertreterinnen und Vertretern ein gutes Gewissen zu verschaffen».

Der (schwarze) Intellektuelle John McWhorter landete in den USA mit «Die Erwählten – Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet» einen Bestseller. Der Philosophieprofessor Jean-François Braunstein schrieb ein ganzes Buch zum Thema «La Religion woke». Und der Historiker Niall Ferguson gründete in Austin (Texas/USA) eine Anti-Woke-Universität, da er Wokeness für «eine verrückte Religion», «eine Art Kult mit vielen quasi-religiösen Ritualen» und eine «dogmatische Sekte» hält, wie er gegenüber der «ZEIT» sagte.

Dabei ist dieser Religionsvergleich nicht mehr als ein rhetorischer Trick. Denn alle genannten Autoren beschreiben die Woke-Aktivisten ausschliesslich mit jenen Ausprägungen, die diese mit Religion teilen – und zwar ausschliesslich mit den negativen. Dazu gehören beispielsweise die Erbsünde (im Antirassismus das «weisse Privileg»), die Ächtung von Ketzern (Shitstorms über soziale Medien) oder der Missionierungseifer.

Ein solcher Vergleich über Gemeinsamkeiten statt Unterschiede ist unredlich: Äpfel und Birnen, beides Früchte, beide sind süss, wachsen an Bäumen. Und doch sollte man Äpfel eben sprichwörtlich nicht mit Birnen vergleichen. Tut man es doch, ist – um zurück zum Thema zu kommen – beispielsweise auch Fussball eine Religion: beides stiftet Sinn, kennt gemeinsam eingeübte Rituale, weckt Emotionen und motiviert vielleicht sogar, andere zu bekehren.

Woke zu sein bedeutet nicht, bis zur Erschöpfung zwinglianisch die eigene Moral zu optimieren.

Kein Wunder deshalb, dass Medien derzeit alles Mögliche als «Ersatzreligion» bezeichnen. In den letzten paar Monaten waren das gemäss der Schweizer Mediendatenbank: Veganismus, Fussball, Klimaschutz, Fasten, Verschwörungstheorien, Popmusik, Horoskope, der Glaube an Ausserirdische, Marxismus, der Newsletter des Onlinemagazins «Republik» und Skifahren in Österreich.

Besonders beliebt für Religionsvergleiche scheinen Engagements zu sein, die moralisch begründet sind. So verglich ein Pfarrer vor kurzem in dieser Zeitschrift Klimaaktivisten mit religiösen Eiferern: «Ihre Untergangsängste tragen Züge einer Ersatzreligion: Schuld, Läuterung, Verzicht, Ablasshandel und Häretiker, die bestraft werden, indem sie am medialen Pranger landen.»

Dass die Vergleiche mit Religion meist abwertend gemeint sind, fiel kürzlich auch dem österreichischen Theologen Kurt Remele auf, der in einem Artikel für den «Standard» den Vergleich von Veganismus mit Religion kritisierte: «Die negativen Begleiterscheinungen des eigenen Glaubens werden auf jene projiziert, die keine Tiere essen: Ideologieanfällig- keit und Eifer, Abgrenzung und Auserwählungsbewusstsein, Fanatismus und Dogmatismus.»

Wer sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzt, was die Woke-Bewegung und Religion gemeinsam haben, der muss auch Unterschiede betrachten. Und die sind augenfällig: Die allermeisten Aktivisten engagieren sich ja nicht primär wegen eines Kults oder gemeinsam ausgeübter Rituale. Sondern weil sie tatsächlich soziale Gerechtigkeit schaffen, den Rassismus bekämpfen oder das Klima schützen wollen.

Wer sich hingegen einer Religion zuwendet, so darf man vermuten, tut dies in erster Linie wegen seines Glaubens. Oder aber um Antworten zu finden auf «die letzten Fragen des Woher und Wohin von Welt und Mensch», wie es der schottische Religionssoziologe Steve Bruce ausdrückt.

Spricht man sie auf diesen alles entscheidenden Punkt an, offenbaren Woke-Kritiker ihr Weltbild, in dem offenbar gar kein Platz ist für Moral, Ideale oder so etwas wie Altruismus. Der Historiker Niall Ferguson sagte auf die Bemerkung der «ZEIT», dass Aktivisten trotz allem die Welt verbessern möchten: «Ich kaufe das Argument nicht. Es ist einfach eine weitere Ideologie, die als Utopie verkauft wird, damit einzelne Menschen Karriere machen.»

«Unausrottbar nervig»

Nun ist Wokeness zwar keine Religion. Dass die Bewegung aber religiöse oder genauer protestantische Wurzeln hat, davon liess ich mich kürzlich durch einen Essay überzeugen, den ich im renommierten US-Magazin «Harper’s» gelesen habe. Autor Ian Buruma stellt darin die These auf, dass der «moralische Eifer der Progressiven» heute das «säkularisierte Erbe des Protestantismus» sei.

Kurz gefasst lässt sich seine Argumentation auf die bekannte These der protestantischen Arbeitsethik von Max Weber zurückführen: Um Gott wohlzugefallen, ist die Erfüllung irdischer Pflichten eine Voraussetzung. Damit meint Weber vereinfacht gesagt die Eigenschaft, arbeitsam und fleissig zu sein. Auf diese Weise grenzte er die protestantische Kultur, «den Geist der harten Arbeit», von jener der Katholiken ab. Letztere propagierten traditionell eher eine mönchische Askese – also eine Lebensart, die mit dem zu Webers Zeiten einsetzenden Kapitalismus nicht vereinbar war.

Besser arbeiten, mehr für die Kinder da sein und dann auch noch moralisch perfekt sein: Solchem Selbstoptimierungswahn möchte ich entkommen.

Buruma argumentiert in seinem Essay nun, dass sich Arbeitsamkeit und Fleiss nicht nur auf die Arbeit an sich beziehen. Sondern auch auf spirituelle Arbeit, die eine Art moralische Vollkommenheit anstrebt. Dieses Arbeiten an sich selbst, die permanente Selbstverbesserung, spiegelt sich laut ihm auch im Claim der Antirassismusbewegung in den USA wider: «Doing the work». An dieser Stelle musste ich an die Überforderung denken, die ich regelmässig spüre, wenn ich die Erwartungen an mich selbst wieder einmal ins Unermessliche treibe: besser arbeiten, mehr für die Kinder da sein, sinnvollere Hobbys pflegen – und eben auch moralisch perfekt sein. Solchem Selbstoptimierungswahn, der typisch ist für unsere Leistungsgesellschaft, möchte ich eigentlich entkommen.

Der Philosoph Hanno Sauer bringt es ziemlich gut auf den Punkt, wenn er schreibt: «Wokeness ist sowohl ein unersetzlicher Treiber moralischen Fortschritts als auch (für die Mehrheit) unausrottbar nervig.» Wir verändern unser Verhalten eben nicht nur durch Regeln, sondern auch durch sozialen Druck. Scham- und Schuldgefühle zu ertragen ist sehr unangenehm – ganz besonders dann, wenn man bereits sonst allzu oft das Gefühl hat, nicht zu genügen.

Autor Buruma, ein in den USA lebender Niederländer, beschreibt eine weitere, vielleicht typisch anglikanische Eigenart von heutigen Woken, die als eine Art Erbe des Protestantismus gesehen werden kann: die Tendenz, öffentlich Reue zu bekunden oder sich zu entschuldigen, um die eigene Tugendhaftigkeit zu beweisen. Als Gegenpol zu dieser protestantischen Reuekultur sieht Buruma wiederum eine Tradition der Katholiken: die Beichte unter vier Augen.

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Buruma unterstellt den Protestanten darum auch eine «Tendenz zur Heuchelei». Früher hätten sie ihren Reichtum mit kolonialer Sklavenarbeit verdient, sich aber dennoch für Erwählte gehalten, da sie «gottgefälliger» waren. Eine ähnliche Selbstgerechtigkeit wirft er heute jenen Mächtigen vor, die sich lautstark mit der Woke-Bewegung solidarisieren, daneben aber von den herrschenden Ungerechtigkeiten profitieren. Er führt als Beispiel den milliardenschweren Unternehmer Phil Knight an, dessen Firma Nike eine Kampagne gegen Rassismus führte, der gleichzeitig aber Rechtsaussen-Politikern Geld spendete.

Dass die Eliten bessergestellt seien als die meisten, sei noch nie ein Hinderungsgrund gewesen, sich tugendhaft zu fühlen, schreibt Buruma, «solange die Erwählten sich öffentlich zu ihrem Engagement für soziale Gerechtigkeit bekennen». Solche Strategien sind in den USA auch als «Woke Washing», «Woke Capitalism» oder «Virtue-Signalling» (Signalisierung von Tugenden) bekannt: Mit progressiven Gesten wie etwa Diversitätstrainings versuchen Firmen, stärkere Regulierungen wie zum Beispiel Quoten zu verhindern.

Kampf gegen ein Phantom

Es mag also durchaus sein, dass die Woke-Bewegung ein (zweifelhaftes) protestantisches Erbe in sich trägt. Doch im Kern führt auch Burumas Essay in eine Sackgasse, da aus dem Text zumindest implizit herausgelesen werden kann, dass wir uns besser um andere Anliegen kümmern sollten als um Wokeness. Die Kluft zwischen Arm und Reich zu bekämpfen sei beispielsweise dringender als eine Debatte zum Genderstern. Buruma schliesst mit der Bemerkung, dass wir mehr Marx und weniger Calvin oder Luther lesen sollten.

Damit reiht sich Buruma ein in eine Gruppe von linken Autoren, die zur Woke-Bewegung auf Distanz gehen. Hierzulande argumentierte etwa «Tages-Anzeiger»-Journalist Martin Ebel in einem langen Essay, warum auch Grüne und andere Linke gegen eine «bürokratisch umgesetzte Sprachpolitik» oder das «Reinigen historischer Texte» sein dürfen.

Vordenkerin dieser neuen anti-woken Linken ist die US-Politologin Susan Neiman mit ihrem Buch «Links ist nicht woke». Eine Kritik, die sie an einer extremen Form der Wokeness formuliert, mag berechtigt sein. Nämlich jene, dass eine Art Stammesdenken gefördert wird, wenn Menschen in Gruppen eingeteilt werden. Wer Menschen auf ihre Ethnie, ihre sexuelle Orientierung oder ihren Glauben reduziert, diskriminiert im Kern selbst: Auch ein «alter, weisser Mann» kann antirassistische Haltungen vertreten.

Ob Winnetou, Jim Knopf oder Mohrenkopf: Es gibt auch weniger drastische Wege, um woke Anliegen zu unterstützen als Selbstzensur, Verzicht oder Boykott.

Doch diese Linken führen ebenso wie die Konservativen einen Kampf gegen ein Phantom: Woke Sprachpolizisten und Meinungszensoren gibt es so selten wie Feuerwehrmänner auf offener See. Minderheiten sind nicht übermächtig, wie es uns Kritiker weismachen wollen. Aber sie sind laut, und das ist gut so – schliesslich ist es noch nicht lange her, dass sie lieber schwiegen, weil ihre Anliegen entweder ignoriert oder geächtet wurden. Nun erheben sie vornehmlich über Social Media ihre Stimme.

Woke zu sein bedeutet nicht, bis zur Erschöpfung zwinglianisch die eigene Moral zu optimieren. Und es bedeutet erst recht nicht, die eigene Tugendhaftigkeit in protestantischer Tradition nach aussen zu tragen, um beispielsweise möglichst viele Likes zu generieren. Um «wachsam» zu sein, reicht es möglicherweise, den Betroffenen nicht im Wege zu stehen und in Zeiten von wiederaufkeimendem Faschismus, Klimakrise und steigender Armut ausgerechnet sie zur grössten Gefahr für die Gesellschaft zu machen.

Sollte mir also jemand die Notwendigkeit von Toiletten für ein «drittes Geschlecht» erklären, dann kann ich das einfach mal so stehenlassen, statt meinem Gegenüber mit emotionalen Werturteilen und der Biologie der Geschlechter zu kommen. Möglicherweise wäre damit ja wirklich jemandem geholfen. Und ob Winnetou, Jim Knopf oder Mohrenkopf: Es gibt auch weniger drastische Wege, um woke Anliegen zu unterstützen als Selbstzensur, Verzicht oder Boykott.

Ich kann mich nach einem Fernsehabend über die filmische Darstellung von indigenen Völkern informieren, meine Kinder nach einer Gutenachtgeschichte mit Jim Knopf über Rassismus aufklären oder mich bei der Firma mit den leckersten Schokoküssen beschweren. Manchmal ist es aber auch okay, sich einfach schlafen zu legen.