Eskalation ist gewiss, wenn sich erwachsene Menschen auf Stühlen niederlassen, die eigentlich für Kinder gedacht sind. Der Elternabend in unserem Kindergarten ist deshalb ein Pulverfass mit denkbar kurzer Zündschnur. Letztes Mal vergingen nur wenige Minuten, bis sich eine Mutter mit den blutunterlaufenen Augen eines Jagdhundes auf eine der Kindergärtnerinnen stürzte, weil diese es gewagt hatte, ihr Kind als disziplinarische Massnahme auf den Schweigestuhl zu setzen. Eine Viertelstunde später wünschte sich das versammelte Plenum jene Mutter auf den Schweigestuhl. Manchen Menschen liegt das Reden einfach nicht.
Immer wieder kam sie auf den Vorfall zurück, der sich während der Zubereitung eines Bananenbrotes ereignet hatte. Das Wort fiel so häufig, dass es seither für mich zur Tabubackware geworden ist. Das ging so lange, bis die angegriffene Kindergärtnerin unter Tränen sagte: «Es tut mir sehr weh, was Sie da sagen.» Worauf die Mutter triumphal konterte: «Mir tut es auch sehr weh. Es geht hier um mein Kind.»
Mit Gefühlen wird viel Schindluder getrieben. Wie in der Episode vom Kindergarten vermögen sie alle anderen Meinungen zu relativieren oder dienen gar als verkürzter Weg zur Wahrheit. Um nicht nachdenken zu müssen und dabei möglicherweise zu erkennen, dass wir uns getäuscht haben, rekurrieren wir lieber auf unseren Schmerz. Schmerz ist immer gut. Er ist das Argument all jener, die keine Argumente haben.
Seit einiger Zeit regt sich immer mehr Widerstand gegen diese flammenden Gefühlswahrheiten. So sprach schon im Mai vergangenen Jahres der Kulturchef der «NZZ», Benedict Neff, von sogenannten Gefühlsfanatikern, die mit ihrer Empfindlichkeit anderen Menschen gewisse Freiheiten untersagten, beispielsweise Indianerkostüme an Geburtstagspartys oder Rastahaare in Berner Szenebeizen. Und der Literaturkritiker Magnus Klaue wollte neulich in der «Welt» gar eine gefährliche gesellschaftliche Abkehr von der Realität erkennen, die mit der Verwendung des Begriffs der «gefühlten Temperatur» angefangen habe.
Aus der messbaren Welt werde eine fühlbare. Die Konsequenz laut Kritikern wie Neff und Klaue: Es gibt keine verbindliche Wahrheit mehr jenseits des persönlichen Schmerzes. Durch die Tabuisierung jeglicher Form von Kritik werde die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit untergraben.
Gerade weil Gefühle so viel Raum für sich beanspruchen, tendiert manch einer dazu, sie gar nicht erst einzuladen. Diese totale Ablehnung kann jedoch auch nicht die Lösung sein. Schliesslich gibt es genug gute Gründe, an die intellektuelle Kraft der Emotionen zu glauben. So hat uns schon die Psychoanalyse gelehrt, dass sie unsere knochentrockene Wahrnehmung der Welt um jenen Teil von uns ergänzen, den wir selber nicht wahrhaben wollen.
Als Mann, der grösstenteils in den Neunzigern sozialisiert wurde, sind Gefühle für mich lange ein Fremdkörper gewesen. Sie zu zeigen galt als schwul und fand später unter dem Begriff «metrosexuell» eine verklemmte Legitimation. Gefühle waren etwas, was einem Mann nicht passieren sollte. Natürlich haben auch Männer Gefühle, doch da sie ihnen öffentlich verboten waren, lebten sie sie eben an den für sie reservierten Nischen aus, was erklärt, warum ein paar Typen sich schluchzend in den Armen liegen können, nur weil auf dem Feld irgendjemand einen Ball in ein Netz geschossen hat.
Meine Pubertät war ein Slapstick, in dem ich immer wieder über vollkommen unerklärliche Emotionen stolperte. Ich war Bruce Willis. In «Cry hard». Dass dies eher ungesund ist, kann man sich denken. Dass es auch gefährlich ist, sieht man an all den Kriegen, die von eiskalten Männern geführt werden, die nicht gerade für ihre Feinfühligkeit bekannt sind.
Es ist falsch, Gefühle zum Sündenbock zu machen und sie als weltfremde Gutmenschlichkeit zu brandmarken, wie das Kritiker wie Neff und Klaue in ihren Artikeln getan haben. Natürlich können Gefühle missbraucht werden, um den eigenen Willen durchzusetzen. Stichwort Bananenbrot. Aber Gefühle können auch den Blick für die anderen öffnen. Man sieht hinter das Gebäck und erkennt die menschliche Gesamtsituation: Wir sitzen alle auf viel zu kleinen Stühlen und wollen nur nach Hause.