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Auf dem Schweigestuhl

Mit Gefühlen wird viel Schindluder getrieben, findet unser Kolumnist.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 10. November 2023

Eskalation ist gewiss, wenn sich erwachsene Menschen auf Stühlen niederlassen, die eigentlich für Kinder gedacht sind. Der Elternabend in unserem Kindergarten ist deshalb ein Pulverfass mit denkbar kurzer Zündschnur. Letztes Mal vergingen nur wenige Minuten, bis sich eine Mutter mit den blutunterlaufenen Augen eines Jagdhundes auf eine der Kindergärtnerinnen stürzte, weil diese es gewagt hatte, ihr Kind als disziplinarische Massnahme auf den Schweigestuhl zu setzen. Eine Viertelstunde später wünschte sich das versammelte Plenum jene Mutter auf den Schweigestuhl. Manchen Menschen liegt das Reden einfach nicht.

Immer wieder kam sie auf den Vorfall zurück, der sich während der Zubereitung eines Bananenbrotes ereignet hatte. Das Wort fiel so häufig, dass es seither für mich zur Tabubackware geworden ist. Das ging so lange, bis die angegriffene Kindergärtnerin unter Tränen sagte: «Es tut mir sehr weh, was Sie da sagen.» Worauf die Mutter triumphal konterte: «Mir tut es auch sehr weh. Es geht hier um mein Kind.»

Mit Gefühlen wird viel Schindluder getrieben. Wie in der Episode vom Kindergarten vermögen sie alle anderen Meinungen zu relativieren oder dienen gar als verkürzter Weg zur Wahrheit. Um nicht nachdenken zu müssen und dabei möglicherweise zu erkennen, dass wir uns getäuscht haben, rekurrieren wir lieber auf unseren Schmerz. Schmerz ist immer gut. Er ist das Argument all jener, die keine Argumente haben.

Seit einiger Zeit regt sich immer mehr Widerstand gegen diese flammenden Gefühlswahrheiten. So sprach schon im Mai vergangenen Jahres der Kulturchef der «NZZ», Benedict Neff, von sogenannten Gefühlsfanatikern, die mit ihrer Empfindlichkeit anderen Menschen gewisse Freiheiten untersagten, beispielsweise Indianerkostüme an Geburtstagspartys oder Rastahaare in Berner Szenebeizen. Und der Literaturkritiker Magnus Klaue wollte neulich in der «Welt» gar eine gefährliche gesellschaftliche Abkehr von der Realität erkennen, die mit der Verwendung des Begriffs der «gefühlten Temperatur» angefangen habe.

Aus der messbaren Welt werde eine fühlbare. Die Konsequenz laut Kritikern wie Neff und Klaue: Es gibt keine verbindliche Wahrheit mehr jenseits des persönlichen Schmerzes. Durch die Tabuisierung jeglicher Form von Kritik werde die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit untergraben.

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