Der ehrliche Klappentext

«100 kleine Schauergeschichten» von S. Corinna Bille

Erstmals sind die «100 kleinen Schauergeschichten» von S. Corinna Bille auf deutsch erschienen. Es lohnt sich, in diese Traumbilder einzutauchen und das Werk einer der bedeutendsten Schweizer Schriftstellerinnen zu entdecken.
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Autorin: Katja Baigger
Freitag, 08. September 2023

Diese Texte sind keine Gedichte: Das müssen sich Leserinnen und Leser der «100 kleinen Schauergeschichten» immer wieder sagen. Denn die Prosaminiaturen von S. Corinna Bille wirken lyrisch, ohne Lyrik zu sein. So heisst es in «Rückkehr»: «Ich habe meine geliebten Dörfer wiedergesehen. Im Puder ihrer Bäume, in der Blüte des Feuersteins. Ich habe die offene Rhone wiedergesehen, die grüne Rhone, und über den Kiefernwäldern die reglosen Nebelschleier.» Die Sprache ist enorm bildreich und dicht. Daher kann man die Texte immer wieder lesen und entdeckt ständig neue Facetten.

S. Corinna Bille ist eine bedeutende Schriftstellerin der französischsprachigen Schweiz, und sie sollte gelesen werden. Die «100 kleinen Schauergeschichten» stellen einen idealen Einstieg in ihr Werk dar, das aus Erzählungen, Romanen, kleiner Prosa und einem Briefwechsel mit Maurice Chappaz besteht. Bei der Lektüre von letzterem kann man den Liebesstürmen der beiden Schriftsteller folgen. Das Duo gilt neben Iris und Peter von Roten – auch sie wohnhaft im Wallis, ähnlich emanzipiert und ihre Leidenschaft in einem Briefwechsel ausdrückend – als interessantestes Liebespaar der Schweizer Literaturgeschichte.

Wer sich also von der melancholischen Sprache der Texte Billes betören lässt, taucht ein in das ursprüngliche Wallis mit seinen Tälern und Naturgewalten. Es sind die Bergbauern, die Holzfäller, die Wälder, aber es ist auch Geschirr oder das schlossähnliche Haus in Siders, in dem sie aufgewachsen ist, die die Autorin zu den «Schauergeschichten» inspirierten.

Und sie versteht es, Hommagen zu verfassen, ohne Namen zu nennen. So blitzt in «Die Fledermäuse» die Identität Rainer Maria Rilkes, der in Raron begraben liegt, nur kurz auf, mit einer Anspielung auf das Gedicht «Der Panther»: «Ich habe ihn auf seinem winzigen Balkon wie ein Panther auf und ab gehen sehen.»

Das Schauerliche an diesen Notaten ist, dass sie die Schattenseiten der ewigen Themen Liebe, Begehren und Vergänglichkeit ans Licht zerren. Nun sind diese der Welt entrückten, abgründigen Traumbilder unter dem Titel «100 kleine Schauergeschichten» auf deutsch erschienen – endlich. Als erster Teil einer Trilogie kamen die «Cent Petites Histoires Cruelles» 1973 in einem Verlag in Vevey heraus, zusammengestellt von der Autorin selbst. Übersetzt hat sie nun für den Rotpunktverlag Lis Künzli, eine Kennerin des Gesamtwerks Billes. 1978 erschien der zweite Band, die «Cent Petites Histoires D’Amour». Folge drei, die «Trente-Six Petites Histoires Curieuses», stellte Maurice Chappaz zusammen, diese erschien 1985 postum. Der Verlag plant, die Bände zwei und drei 2025 in deutscher Übersetzung herauszubringen.

Freuen können sich die Leserinnen schon jetzt über die Miniaturen, die Vexierbildern ähneln; jede Lektüre bringt eine weitere Interpretation hervor. Es liegt daher nahe, solch schaurig schöne Geschichten bebildern zu lassen. Die Illustratorin Anna Luchs hat zu ausgewählten Miniaturen Bilder gezeichnet, die einen neuen Bedeutungsraum eröffnen. So blickt links neben «Die kleinen Faune» tatsächlich ein kleiner Faun mit menschlichem Antlitz und Tierkörper in die Ferne. Trägt er auf seinem Rücken das Mädchen, von dem im Text die Rede ist? Das fragen sich die Leser. Ähnlich enigmatisch wie die Schauergeschichte ist auch ihre Illustration; die Bedeutung lässt sich nie ganz erschliessen.

Oft bildeten Träume, die Bille in ihrem «Carnet de rêves» festhielt, die Grundlage für ihre Miniaturen. So etwa, als das Erzähler-Ich in das geliebte Dorf zurückkehrt, aber den Schlüssel fürs Haus nicht mehr findet. S. Corinna Bille hat ein Leben lang kleine Geschichten aufgeschrieben. Auch aus Ereignissen und Geistesblitzen wurde Poesie. So bei der letzten der «Petites Histoires Curieuses», die ein paar Tage vor ihrem Tod im Spitalbett entstand. Zu Maurice Chappaz sagte sie: «Schnell, Papier, Papier und Stift, ich habe eine Idee.»

S. Corinna Bille, Anna Luchs: «100 kleine Schauergeschichten». Aus dem Französischen von Lis Künzli. Rotpunktverlag, Zürich 2023; 152 Seiten; 28.90 Franken.

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