Nicht mal verreisen kann man, ohne dabei fotografiert zu werden. So ist es unlängst dem Schweizer Klimaaktivisten Max Voegtli ergangen, der auf dem Weg nach Mexiko von einem sogenannten «Blick»-Leserreporter entdeckt wurde. Dieser schrieb: «Ich flog heute von Zürich nach Paris. Und wen treffe ich da? Max Voegtli von Renovate.» Doch woher kannte der wachsame Leserreporter überhaupt den «Vollzeit-Aktivisten», der unter anderem bei der Blockade vom Gotthardtunnel beteiligt gewesen war? Dummerweise war Voegtli nur wenige Tage zuvor in der TV-Sendung «Talk Täglich» zu Gast gewesen, wo er über die Aktionen der Klimakleber gesprochen hatte.
Die empörten Reaktionen blieben erwartungsgemäss nicht aus: «Echte Klimaaktivisten reisen nicht», schrieb ein User in den sozialen Netzwerken. Und natürlich wurde in den Kommentaren auch die beliebte Floskel vom «Wasser predigen und Wein trinken» bemüht, wobei man passend zur Reisedestination auch von Mezcal hätte sprechen können.
Wir kennen Max Voegtli nicht und können über die Gründe seines Handelns nicht urteilen. Aber natürlich kann Moral auch ein Fashion-Objekt sein, das Farbe in den grauen Alltag bringt und das Leben zeitgeistiger und bedeutsamer macht. Das Tomahawk-Steak vom Grill schmeckt noch einmal zarter, wenn dazu eine vegane Beilage gereicht wird. Moral ist oft einfach das, was einem selber schmeckt. Und das kann auch ein Trip nach Mexiko sein mit einer Strassenblockade als Vorspeise.
Max Voegtli wurde allerdings nicht nur für seinen Abstecher nach Mexiko kritisiert, sondern grundsätzlich für seinen umtriebigen Lebenswandel, zu dem auch der Besuch eines Formel-1-Rennens gehört. Die Reaktionen sind sinnbildlich dafür, dass wir es in unseren Breitengraden noch immer nicht geschafft haben, ein positives Konzept eines moralischen Lebenswandels zu entwickeln. Moral bedeutet für uns Verzicht. Je grösser der Verzicht, desto moralischer erscheint uns ein Leben. Wir denken dabei an Mutter Teresa oder Jesus Christus, deren asketische Erscheinungen den moralischen Verzicht auch körperlich manifestieren.
Als Beispiel für moralischen Verzicht stehen auch die Bilder von Greta Thunberg, die auf dem Segelschiff zur Klimakonferenz in New York gereist ist, um nicht das Flugzeug nehmen zu müssen. Das Vergnügen am Verzicht ist dabei förmlich ins Gesicht der Aktivistin geschrieben, die auf den Fotos um einiges fröhlicher aussieht als so mancher Flugreisende in der Holzklasse. Die Anfeindungen gegenüber Greta Thunberg zeigen indes, dass selbst ein konsistenter Aufritt ohne Doppelmoral den Hass der Leute auf sich zieht. Gutes Handeln tolerieren wir eigentlich nur, wenn es von Leuten wie Lady Di ausgeübt wird, die nicht von uns verlangen, dass wir in Panik ausbrechen und auf möglichst viel verzichten, sondern uns mit strahlendem Grinsen zu verstehen geben, dass alles in bester Ordnung ist.
Hat Max Voegtli das Zeug zur Greta? Wir sehen uns die Fotos an, die der aufdringliche «Blick»-Leserreporter gemacht hat, und sind uns nicht sicher. Sie zeigen einen jungen Mann mit wildem Kraushaar, der mit schwerem Blick in einen Laptop starrt, der bis auf den letzten Flecken mit politischen Stickern beklebt ist. Von «Klimastreik» über «Go Vegan» bis «I love Mönscherächt» ist alles dabei.
Vielleicht ist Max Voegtli einfach ein junger Mann, der gerne Programm hat. Und vielleicht ist Moral ja wirklich eine harte Währung, die mehr verlangt, als dass man sich vor den Gotthardtunnel klebt oder Stickers auf den Laptop. Doch wenn wir die triumphierenden Kommentare der «Blick»-Leser sehen, die sich selber als die viel besseren Klimaschützer bezeichnen, weil sie noch nie in ihrem Leben weiter als bis ins Wallis gereist sind, dann fragen wir uns schon, welches jetzt die richtige Moral ist. Ist ein guter Mensch einfach einer, der nichts falsch macht? Der Bünzli, der zuhause vor dem Computer doppelzüngige Klimakleber jagt, erscheint so auf einmal als Krone der Schöpfung. Wer nichts wagt, gewinnt.
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard lobte sich dafür, armen Leuten immer nur mit winzig kleinen Beträgen auszuhelfen, da grössere Summen die Reinheit der Tat korrumpiert hätten. Eine Moral aber, die allein dazu dient, die eigene Reinheit zu bewahren, hilft der Welt nicht viel mehr als ein Sticker auf dem Laptop.