Ich war sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre alt, als mir meine Mutter zum ersten Mal erzählte, dass mein steirischer Grossvater Karl nicht zur Hochzeit meiner Eltern im August 1967 im Wiener Standesamt erschienen war. In einem Brief an meine Mutter begründete er sein Nichterscheinen: «Deine Verehelichung mit einem Ausländer, noch dazu mit einem Mohammedaner, will ich als Dein Vater nicht mit meiner Anwesenheit legitimieren, liebe Frida, da ich der Überzeugung bin, dass diese Verbindung ein Fehler und zum Scheitern verurteilt ist.»
Ich war stinksauer auf meine Mutter: «Mein ganzes Leben hast du mich gelehrt, immer hinzuschauen und aufzustehen und meinen Mund aufzumachen, wenn Unrecht geschieht, Mama, und du selbst hast 27 Jahre gebraucht, um mir das zu erzählen? Um mir zu erzählen, wie herzlos und brutal und dumm mein eigener Grossvater damals war?»
Mutter: «Ja, du hast recht. Ich hätte es dir früher sagen sollen. Ich weiss nicht, warum ich … ich habe, glaub’ ich …, ich wollte, glaub’ ich, dass du ein gutes Verhältnis zum Opa hast, der dich immer so gern gehabt hat, und ich wollte das nicht zerstören wahrscheinlich …»
Einige Tage danach sitze ich mit meinem Vater im Auto auf dem Weg von St. Pölten nach Wien und stelle ihn zur Rede: «Ich versteh’ einfach nicht, warum du mir nie davon erzählt hast. Ich kapier das nicht. Du redest stundenlang über jeden Schaas und zerfitzelst stundenlang jede Kleinigkeit in seine klitzekleinen Teilchen, aber du erzählst mir niemals, dass Opa so etwas Schreckliches getan und geschrieben hat?»
Vater: «Hast du in deinem Leben jemals erlebt, dass mich dein Grossvater schlecht behandelt hat?»
«Nein, aber ich bin ja auch erst viel später auf die Welt gekommen!»
Vater: «Wie hat mich dein Grossvater behandelt, seit du auf der Welt bist?»
Ich schlucke. «Wie … ja eigentlich wie seinen eigenen Sohn. So hab ich das bisher zumindest immer erlebt, aber jetzt frag’ ich mich halt.»
Vater: «Ramin-ján, deine Mutter und ich, wir haben uns 1965 kennengelernt und du bist 1979 auf die Welt gekommen, und in diesen 14 Jahren dazwischen haben wir sehr viele Dinge erlebt. Sehr viele schöne Dinge und sehr viele schreckliche Dinge. Und das meiste davon haben wir dir erzählt. Aber vieles davon haben wir dir nicht erzählt. Und das ist unser gutes Recht, mein liebes Kind. Du und dein Bruder, ihr seid unser Leben! Aber wir sind nicht verpflichtet, euch alles zu beichten, was uns jemals passiert ist, Ramin-ján. Wir hatten auch ein Leben vor euch, und dieses Leben ist unsere Sache.»
Ich schau’ aus dem Seitenfenster auf die vorbeiziehende Wienerwaldlandschaft.
«Ja, da hast du recht … das stimmt … aber hat sich der Opa wenigstens jemals bei dir entschuldigt?»
Vater: «Nein, aber wie du selbst gesagt hast, hat er mich letztlich behandelt wie seinen eigenen Sohn. Er hat mich nie um Verzeihung gebeten. Aber ich konnte zwischen den Zeiten lesen.»
In Gedanken höre ich meine Mutter, wie sie sagt: «Zwischen den Zeilen, nicht zwischen den Zeiten, Khashi! Ununterbrochen sagst du ‹zwischen den Zeiten›, aber es heisst ‹zwischen den Zeilen›, hundert Mal habe ich dir das schon gesagt! Was soll denn ‹zwischen den Zeiten› heissen?»
Ich schmunzle und sage: «Also ist das, was Opa damals vor eurer Hochzeit geschrieben hat, einfach Vergangenheit für dich, Papa? Vergangen und vergessen?»
Vater: «Nein, das hat nichts mit Vergangenheit zu tun und es hat nichts mit Vergessen zu tun. Es ist Vergebung. Es ist einfach Vergebung. Tamum shodo raft (Schluss fertig).