Gedankenversunken radelte ich nach einem schönen Termin nach Hause. Als ich nach der längeren Fahrt meinen Fuss vor meinem Zuhause absetzte, stellte ich überrascht fest: In meinem Kopf wuselten Erinnerungen an Menschen, die Unrecht getan hatten und mit ihren üblen Taten bislang ungestraft davongekommen waren. Warum, fragte ich mich, kommen ausgerechnet diese Gedanken hoch – in einem eigentlich ruhigen und glücklichen Moment? Warum beschäftigen mich diese Themen so sehr?
Die Antwort war eine, die ich nicht mochte. Ich war wütend, irgendwo tief in mir. Nicht nur punktuell, beispielsweise in dem Moment, in dem ich Zeugin von Unrecht wurde. Sondern in meinem Innern gab es einen wütenden Dauerzustand, den ich nur dann bemerkte, wenn es still war. Ein Gefühl, das gegen diese ungesühnten Ungerechtigkeiten rebellierte.
Ich musste zugeben, dass ich nicht so sehr über den Dingen stand, wie ich es mir wünschte.
Wie sollte es auch anders sein in einer Zeit, in der Wut und Empörung zur medialen Währung verkommen sind. Sie verleihen politischen Themen Relevanz und Aufmerksamkeit. Und wir Empörenden und Wütenden hoffen, mit Betroffenheit Probleme lösen zu können.
Ich sehe eine ganze Generation junger Menschen, aber auch Ältere um mich, die wütend sind. Wütend auf die Politik, die den Klimawandel nicht ernst nimmt, wütend auf Kreise, die ihn gar leugnen. Wütend auf Regierungen, die Kriege führen, fremde Länder besetzen, sie ihrer natürlichen Ressourcen berauben und Menschen töten. Wütend auf Präsidenten, die Frauen verachten und Menschenfeindlichkeit in ihre Gesellschaften streuen. Wütend auf Regierende und Chefredaktoren, die nicht Respekt und Besonnenheit, sondern Masslosigkeit, Hedonismus und Verachtung vorleben. Wütend auf Menschen an der Macht, die nicht Verantwortung übernehmen, sondern die Grenzen des gesetzlich Erlaubten für sich und ihren eigenen Vorteil überschreiten.
Ich habe mich schon viel mit Wut beschäftigt. Ich habe die punktuelle Wut gelobt, als Motor, um das persönliche Engagement nicht versiegen zu lassen. Doch als Dauerzustand möchte ich sie nicht mehr in mir tragen. Selbst wenn sie wie ein Grundrauschen meist unbemerkt im Hintergrund bleibt. Denn immerwährende, nie endende Wut, so sagt man, ist wie ein Gift, das man täglich in kleinen Dosen einnimmt. Ein bitteres Gefühl, das den Wut empfindenden Menschen krank macht. Ich will nicht krank sein. Ich will die Wut hinter mir lassen.
Am Ende der Wut, sagte einst Martin Luther King, steht die Vergebung. «We must develop and maintain the capacity to forgive. He who is devoid of the power to forgive is devoid of the power to love.»
Wie aber kann ein politischer Mensch, der nach einer besseren, gerechteren Welt strebt, vergeben, ohne das Übel zu normalisieren? Insbesondere dann, wenn das Üble nach wie vor besteht und um sich greift?
Mir fällt keine andere Antwort ein als Gottvertrauen. Tatsächliches Gottvertrauen. Darauf, dass Gott sieht und hört. An dem Tag, an dem ich meinen Fuss absetzte vor unserem Zuhause, erkannte ich, dass ich meine Wut nur dann loslassen kann, wenn ich darauf vertraue, wirklich vertraue, dass Gott das Unrecht bezeugt. Denn dann braucht es dazu nicht mich.
Klar: ich werde immer wieder Wut verspüren, wenn Unrecht geschieht. Aber ich werde mich dagegen wehren, mich je wieder in ihre Gefangenschaft zu begeben. Ich werde meine Energie und Kraft in Hoffnung geben. Denn ich möchte nicht in einer Welt leben, die von Wütenden gestaltet wird. Sondern – so pathetisch es klingt – von Hoffenden, Liebenden und Vergebenden.