Überschätzt – Unterschätzt

Wunder

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Freitag, 21. Juni 2024

Oscar Wilde schrieb einmal die launige Zeile: «Ich glaube nicht an Wunder. Ich habe von ihnen zu viele gesehen.» Normalerweise traut man seinen Augen nicht, wenn man einem Wunder begegnet. Wilde aber traut den Wundern nicht, weil sie inflationär zur Erscheinung kommen.

Ähnlich geht es in diesen Tagen auch dem Vatikan. In Rom werden so viele neue Marienerscheinungen gemeldet, dass der Papst nun eigens dafür eine Prüfstelle einrichten lässt. Diese soll den echten Wunderglauben vor dem Zugriff «reli- giöser Schwärmerei» und «böswilliger Geschäftemacherei» schützen.

Aber was ist in diesem Zusammenhang schon echt? Bereits die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria halten wir Protestanten eher für ein theologisches Zauberkunststück als für ein Wunder. Papst Pius dagegen liess sie im 19. Jahrhundert als Dogma festschreiben. Weil Maria damit von der Erbsünde befreit war, konnte sie «die leibliche Aufnahme in den Himmel» erfahren. So kam der Pontifex der Volksfrömmigkeit entgegen, die Maria immer schon als ersten Anlaufpunkt für Fürbitten nutzte. Wer kein Wort von der lateinischen Predigt verstand, hielt sich eben an die Bilder.

Unsere katholischen Glaubensgeschwister fühlen sich immer ein wenig brüskiert, wenn wir den Wundern gegenüber reserviert sind. Ausgenommen von unserer Skepsis sind lediglich die Wundertaten Jesu, die in der Bibel bezeugt sind. Dass der Heiland Blinde sehend, Lahme gehend machte und Tote zum Leben erweckte, gehört auch zum Kernbestand unseres Glaubens.

Was mich betrifft: Manchmal beneide ich die Katholiken um ihre Liebe zu den Wundern. Und ärgere mich gleichzeitig über den staubtrockenen Königsberger Philosophen Kant, der mit seiner Ablehnung von Wunderglauben den Himmel entrümpelt hat.

Ich sitze nicht gerne in kargen Gotteshäusern, denen man das reformatorische Bilderverbot noch ansieht, und weide mich allein am Wort Gottes. Mehr Bling-Bling wäre doch ganz nett. Es gibt nun einmal Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich der Mensch nicht erklären kann. Nicht einmal, wenn er evangelisch getauft wurde. Hoffen nicht alle in Momenten, wo es eng wird, auf eine Wendung zum Guten?

Schöner als der andere grosse Aufklärer, Georg Christoph Lichtenberg, kann man Wunder in meinen Augen nicht definieren: «Sie lassen sich nicht herbeiwünschen, sondern kommen ungerufen, meist in den unwahrscheinlichsten Augenblicken und widerfahren denen, die am wenigsten damit gerechnet haben.» Es kann also auch uns Protestanten erwischen.

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