Saul Friedländer gehört zu den angesehensten Historikern des Holocaust. Nun hat der bald 85jährige seine Lebensgeschichte niedergeschrieben. Friedländer, ein glänzender Stilist, gewährt dabei nicht nur Einblick in seine Tätigkeit als Forscher, die ihn auch lange mit der Schweiz verband. Er erzählt ebenfalls von den Traumata, die ihn sein Leben lang begleitet haben.
1932 in Prag als Paul Friedländer geboren, wuchs er zunächst wohlbehütet auf, bis der Einmarsch der Nazis 1939 die jüdische Familie zur Flucht nach Frankreich zwang. In dem Land – und mehr noch in der französischen Sprache – sollte Friedländer eine neue Heimat finden. Auch wenn er seine Eltern in Frankreich zum letzten Mal sah: Sie gaben ihren Sohn in die Obhut einer Klosterschule und versuchten selber, bei Genf in die Schweiz zu fliehen. Der Versuch misslang, die Eltern wurden deportiert und in Auschwitz ermordet. Aus dem Bub wurde im Internat ein gläubiger Katholik. Nach dem Krieg jedoch fand Friedländer zum Judentum zurück, 1948 folgte der Umzug in den jungen Staat Israel. Fortan nannte er sich Saul.
Das Trauma, seine Eltern auf diese Weise verloren zu haben, nahm Friedländer mit. Jahrelang blieb er emotional gelähmt. Ängste und Phobien sind ihm bis heute geblieben, worüber er diskret, doch offen Auskunft gibt. Wichtiger ist Friedländer allerdings sein Weg als Historiker. In Israel gründete er eine Familie, seine Universitätslaufbahn aber machte ihn zum Pendler. Zunächst lehrte er für viele Jahre in Genf, am Institut de hautes études internationales. In der Schweiz begegnete er auch Jean-François Bergier. Jahrzehnte später sollte er in dessen Kommission mitarbeiten, welche die Rolle der Schweizer Banken im Zweiten Weltkrieg aufarbeitete. Heute lebt Friedländer in Los Angeles. Israel bleibt er bis heute verbunden, auch wenn er der Besatzungspolitik äusserst kritisch gegenübersteht und die Shoah zu politischen Zwecken missbraucht sieht.
Schon in den sechziger Jahren veröffentlichte Friedländer erste Arbeiten zur NS-Zeit. Er spürte trotz der inneren Distanz, dass er hier sein Lebensthema finden würde. Mitte der achtziger Jahre war es die verstörende Begegnung mit deutschen Historikern wie Martin Broszat, Hans Mommsen oder Ernst Nolte, die den Anstoss zu seinem doppelbändigen Meisterwerk Das dritte Reich und die Juden gab. Broszat sprach Friedländer die Fähigkeit und Berechtigung ab, als Jude und Überlebender über den Holocaust zu schreiben, weil ihm die nötige Distanz fehle. Für sich – er war NSDAP-Mitglied gewesen – hegte Broszat diesbezüglich allerdings keinerlei Bedenken. Ernst Nolte wiederum belehrte Friedländer, die Juden hätten Hitler den Krieg erklärt und dessen Politik sei damit zu begründen. Die Konfrontationen mit Broszat und Nolte gehören zu den spannendsten Beschreibungen im Buch.
1987 wurde Friedländer nach Los Angeles auf einen Lehrstuhl für Holocaustforschung berufen. Hier fand er das Umfeld, seinen grossen Plan zu verwirklichen: die Geschichte des Holocaust ganz neu aufzuarbeiten. Friedländer fügte als erster Historiker die Täter, die deutsche Gesellschaft und die persönlichen Zeugnisse nichtjüdischer Deutscher mit Dokumenten von jüdischen Opfern zusammen. Tagebücher und Briefe vermittelten einen neuen, ungleich intimeren Einblick in die Zeit des Dritten Reiches, als es bis dahin in der Geschichtsschreibung üblich war. Das hat Friedländer weltweite Anerkennung gebracht.
In seiner Autobiografie arbeitet er nun mit ganz ähnlichen Techniken: Gekonnt führt er sein persönliches Schicksal mit seinem Forscherleben zusammen. Dabei geht Friedländer jede Eitelkeit ab – eine grosse und wohltuende Ausnahme in Büchern dieser Art.
Saul Friedländer: Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben. C.H. Beck; München 2016; 320 Seiten; 35.90 Franken.
Claudia Kühner ist Journalistin und lebt in Zürich.