Überschätzt – Unterschätzt

Die Weisheit

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Donnerstag, 06. Februar 2025

Mittelalterliche Volksweisheiten strotzen oftmals nur so vor klugen Einsichten. Denn sie werden nicht einfach gemütlich herbeisinniert, sondern gründen oft auf leidvoller praktischer Erfahrung.

«Wie viel Weisheit verblüht doch in armer Leute Tasche!», heisst einer der überlieferten Sprüche, der immer wieder leicht verändert wurde. In ihm steckt ein tragisches Paradox: Wenn Menschen in der Geschichte um eine Erfahrung reicher wurden, waren sie hinterher besonders arm dran.

König Salomon war reich und mächtig. Er hatte also die Mittel und die Musse, seine weisen Erkenntnisse in Sprüche zu giessen. Und wie bei vielen greisen Weisen gilt auch hier: Mit Abgeklärtheit wird Aufklärung betrieben, das soll vor Irrwegen schützen.

Dabei sind es gerade die Irrtümer, aus denen der Mensch lernt. Wer kennt das nicht? Es gibt Weisheiten, die der Zufriedenheit entspringen, und solche, die durch Schaden gestiftet worden sind. Meist haben gute Ratschläge die schlechte Angewohnheit, zu spät zu kommen. Aber wir wollen nicht ungnädig sein mit dem alten König, der hochbetagt zur Schwermut neigte.

Seine Lebensweisheiten sind in ihrem Pragmatismus alltagstauglich. Nicht wie die Glückskeks-Phrasen, mit denen wir uns gewöhnlich spirituell abspeisen lassen.

Salomon, der alles gesehen hatte, kommt zum Schluss, dass alles irdische Streben nichts als eitles «Haschen nach Wind» ist. Von ungeheurer Aktualität sind die Predigertexte des Königs auch deshalb, weil sie die politischen Machtverhältnisse der Spezies Mensch aufdecken.

Martin Luther hat daraus seine ureigene Nachdichtung gemacht: «Ich wandte mich und sah alle, die Unrecht leiden unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten.» Bestechend der Gedanke, dass es auch den Mächtigen an Trost fehlt, ein fatales, höllisches Spiel.

Das schreit zum Himmel, als ein fatales ewiges Menschheitsgesetz. Mit müden Augen blickt Salomon, blicken wir mit ihm auf diesen Zustand der Welt, blindgeworden vom dauernden Hinschauen.

Das ist hohe Poesie des Schmerzes, wie Albert Camus gesagt hätte: «Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Glück.» – Vielleicht ist das die eigentliche salomonische Erkenntnis: Weisheit braucht Zeit, Klugheit braucht dagegen Glück.

Bild: Keystone / akg-images

  • Beten und schweigen

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