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Warum hast du mich verlassen?

Zu Gott hatte unser Kolumnist lange ein gutes Verhältnis. Dann stellten sich andere dazwischen.
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Autor: Lukas Linder
Freitag, 08. März 2024

Ich muss jetzt endlich wieder zu Gott finden. Schliesslich bin ich schon fast vierzig, und in meinem Leben häufen sich die Probleme, die sich nicht wie ein fieser Kater vertreiben lassen. Im Gegenteil: nüchtern sehen sie gar noch schlimmer aus. Krankheit. Einsamkeit. Tod. Die Erkenntnis, dass ich vermutlich nie zum Mister Schweiz gewählt werde. Und auch den Literatur-Nobelpreis werde ich vermutlich nie erhalten. Wenn man einen Zug nach dem anderen davonfahren sieht, spürt man den Eishauch der Verzweiflung. Und man fragt sich: Was war noch einmal der Sinn von diesem Leben?

Junge Menschen sagen: Sinn? Brauch’ ich nicht. Ich habe meinen Audi Quattro. Damit vertreten sie eine Einstellung, die immer populärer wird. Das bestätigt eine neue Studie vom Bundesamt für Statistik, über die kürzlich in der «NZZ» berichtet wurde: Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes haben die Konfessionslosen die Katholiken überholt und stellen die grösste religionssoziologische Gruppe: «Mehr als drei Millionen Menschen gehören keiner Kirche mehr an.»

Die Konfessionslosen sind jung und gut gebildet. Sie suchen ihr Heil in der eigenen kreativen Verwirklichung und brauchen keinen Trost von irgendwelchen alten Fibeln. Ich bin, wie gesagt, nicht mehr ganz jung, und meine Bildung liegt auch brach, seit ich nur noch den Newsletter von GaultMillau lese («Bad Ragaz war Pinot-Noir-Hauptstadt»). Wo kann so einer wie ich im Leben Sinn finden?

Wie die «NZZ» schreibt, lautet die gängigste Alternative für Ungläubige: Arbeit. Als Schriftsteller bin ich mir jedoch bewusst, dass meine Arbeit vollkommen sinnlos ist. Sie dient allein der Befriedigung meines Egos. Eines Egos, das mit den Jahren immer anspruchsvoller wird. Früher war ich glücklich, wenn ich ein paar schlecht gereimte Sätze in mein Notizbuch kritzelte.

Heute falle ich in eine tiefe Depression, wenn nicht jeder meiner Gedanken – und mag er «Sunny Sunday mit nice Coffee» heissen – mindestens zweihundert Likes auf Facebook bekommt. Als weitere Alternative nennt die «NZZ» die Natur, die für manche einen fast sakralen Stellenwert bekommen könne. Bestimmt jedoch nicht für mich. Ich bin allergisch auf fast alles, und als ich mich das letzte Mal in den Wald wagte, hätte mich um ein Haar ein Jäger erlegt.

So muss ich also wohl oder übel zu Gott zurückkehren. Wo habe ich ihn das letzte Mal gesehen? Ich weiss es genau, es war in meiner Kindheit, als ich zum offenen Fenster hinausbetete, weil ich dachte, dass Gott mich so besser sehen könne. Offenbar gab es damals schon gewisse Zweifel an der göttlichen Allmächtigkeit. Und doch hatten wir ein ausgezeichnetes Verhältnis, solange wir unter uns blieben.

Zur Entfremdung kam es erst, als sich andere zwischen uns stellten und zu vermitteln versuchten. Pfarrer. Lehrer. Ein Typ namens Jesus. Es fühlte sich an, als wollten sie mir meinen Gott wegnehmen. Den Tiefpunkt markierte jener Tag im Religionsunterricht, als der Pfarrer uns Kondome austeilte, die wir über Karotten rollen sollten.

Es waren die Neunziger und die Kirche suchte verzweifelt nach Themen, mit denen sie ihre jüngsten Schafe gewinnen konnte. Sexualkunde ist aber ein vermintes Gelände, vor allem wenn Karotten mit im Spiel sind. Der Tag war eine Tortur für alle Beteiligten. Auch der Pfarrer verwarf immer wieder die Hände, so als frage er sich: Mein lieber Gott, warum hast du mich verlassen?

Es ist dieselbe Frage, die ich mir heute auch stelle. Allerdings ist es genau umgekehrt: Gott hat sich seit meiner Kindheit nicht von der Stelle gerührt. Nur ich erscheine schon lange nicht mehr zum Beten am Fenster, sondern nur noch, um zu schauen, ob niemand die Räder von unserem Auto gestohlen hat. Der Sinn des Lebens ist mir schon lange fragwürdig geworden. Braucht es überhaupt einen?

An guten Tagen sage ich: Mir reicht mein Suzuki Swift und vielleicht werde ich ja doch noch Nobel-Preisträger (oder Mister Schweiz). Doch Zweifel sind die Früchte des Alters. Wer tröstet mich, wenn sich am Ende herausstellt, dass mein Leben nicht so herausgekommen ist, wie ich mir das vorgestellt habe?

  • Warum so zaghaft?

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