Man hat Mary Berg auch schon eine glücklichere Schwester Anne Franks genannt – beide nahmen ihre Verfolgungssituation als jüdische Mädchen zum Anlass, mit einem Tagebuch zu beginnen. Die Schicksale der beiden Mädchen verliefen allerdings beinahe umgekehrt. So verbrachte Anne Frank den grössten Teil des Krieges in der labilen Sicherheit ihres Verstecks in Amsterdam, fernab von Verfolgung und Deportation, bis sie schliesslich entdeckt wurde und wie der Grossteil ihrer Mitbewohner als Opfer der NS-Todesmaschinerie umkam. Mary Berg hingegen floh mit ihrer wohlhabenden Familie aus Lodz nach Warschau und gelangte ins Ghetto. Dort wurde sie Zeugin furchtbarer Not und Verfolgung, die schon vor der Deportation Tausende von Juden das Leben kostete. Anders als Anne Frank überlebte sie: Am Ende rettete der Umstand, dass Marys Mutter in den USA geboren und somit amerikanische Staatsbürgerin war, die Familie vor dem sicheren Tod. Die Bergs wurden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht.
In ihren Aufzeichnungen, die nun erstmals auf Deutsch vorliegen, erweist sich Mary Berg als genaue Beobachterin und begnadete Autorin. Mit einem direkten, ungefilterten Blick beschreibt sie das Leben ihrer Familie, aber auch ihren Freundeskreis im Ghetto. Diese Erzählungen aus dem Alltag ergänzt sie mit allgemeinen Beobachtungen zum Ghettoleben, so dass die komplizierte und grausame Struktur dieses erzwungenen Mikrokosmos in all seinen Facetten erkennbar wird. Berg berichtet etwa davon, wie vor allem die wohlhabenderen Bewohner sich um die Fortführung eines urbanen Alltags bemühen. Cafés, Berufsausbildungskurse und Theaterrevuen sind Teil davon. Auf der anderen Seite nehmen das Elend und die Angst zu: Menschen verhungern auf der Strasse und die Spitäler sind überfüllt. Jederzeit besteht die Gefahr, von brutalen SS-Leuten ohne äusseren Anlass schikaniert oder gar getötet zu werden.
Die Extremsituation im Ghetto weckt den Zusammenhalt seiner Bewohner, aktiviert aber auch ihren individuellen Überlebensinstinkt. So beschreibt Berg, wie Gutsituierte die notleidenden Waisenkinder im Heim von Janusz Korczak unterstützen. Gleichzeitig hält sie fest, wie die Privilegierten verzweifelt darum kämpfen, in der Ghettohierarchie eine möglichst auskömmliche und sichere Position zu behalten: etwa, indem sie sich der Ghettopolizei anschliessen. In dieser Rolle sind sie gefangen zwischen Kollaboration mit den Nazis und Solidarität mit den Bewohnern des Ghettos.
1943, als Mary Berg und ihre Familie bereits in die USA flüchten konnten, setzten sich letzte Bewohner, die noch nicht deportiert worden waren, im berühmten Aufstand heldenhaft zur Wehr. Bergs Aufzeichnungen lassen erkennen, dass der Widerstand bereits lange zuvor begonnen hatte. Widerstand leisten konnte etwa heissen, dass man dem Befehl der Nazis, die eigenen Pelze zugunsten der deutschen Soldaten im Winterkrieg abzuliefern, sehr schleppend nachkam – und wenn sich die Abgabe gar nicht mehr verhindern liess, beschädigte man die Pelze so sehr, dass sie praktisch unbrauchbar waren.
Interessant ist auch zu begreifen, wie gut informiert die Ghettobevölkerung war, obwohl sie offiziell nur Zugang zu von Nazis kontrollierten Presseorganen hatte und keine Radios besass. Bereits 1942 erfuhr Mary Berg, dass das Los der deportierten Juden der Tod im Vernichtungslager war.
Ihre auf polnisch verfassten Aufzeichnungen, die sie in zwölf Ringheften in die USA rettete, erschienen noch vor Kriegsende 1945 in den USA und wurden dort stark beachtet. Doch Berg selbst zog sich nach wenigen Jahren zurück. Sie starb 2013 fernab jeder Öffentlichkeit. Dass ihre Aufzeichnungen nun, 75 Jahre nach Ersterscheinung, auf Deutsch neu zu entdecken sind, ist ein Gewinn.
Mary Berg: «Wann wird diese Hölle enden? Das Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebte». Orell Füssli, Zürich 2019; 342 Seiten; 32 Franken.
Alfred Bodenheimer ist Literaturwissenschaftler, Autor und Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte in Basel.