Von einer Sprache in eine andere zu wechseln ist ein Akt der Freundschaft. Kinder sind Meister darin. Als Erwachsene dürfen wir das Übersetzen nicht verlernen, schreibt Nora Gomringer.
Wenn Sie dies lesen, ist er vorbei: der Hieronymus-Tag, den Übersetzerinnen und Übersetzern dieser Welt und der Sprachen in ihr gewidmet. Jährlich am 30. September erinnern wir uns an den Todestag des heiligen Hieronymus im Jahre 420 nach Christus. Die sogenannte Vulgata entstand aus seiner Übersetzung und war die Version der Bibel, die das Mittelalter prägte. Die Hagiographie des Hieronymus erklärt, dass er die Übersetzung vom Griechischen und Hebräischen ins Lateinische in Bethlehem angefertigt haben muss. Noch heute streitet die Wissenschaft, wie gut er überhaupt Hebräisch sprechen konnte, immerhin die letzte der Sprachen, die er erlernt hatte.
Mein Hebräisch ist so gut wie inexistent mittlerweile. Mit einigen protestantischen und katholischen Theologen hatte ich zu Beginn meines Studiums dem Hebraicum entgegengestrebt, nachdem mir das Maturazeugnis das grosse Latinum und Graecum bescheinigte, wie ich damals mit fast ungläubigem Staunen feststellte. Meine sehr humanistische und auf Sprachen konzentrierte Gymnasialzeit erlebte ein Ambitionstief, als ich die 10. Klasse erreichte und mir Cicero und Sokrates, dazu alle Lehren der Physik und Mathematik eine Weile gestohlen bleiben konnten und ich meiner Mutter gegenüber dunkle Andeutungen über das dräuende Ende meiner Schulzeit äusserte.
Vom damaligen Durchhänger erholte ich mich in den USA im Rahmen eines Highschooljahres, in dem ich mir vorkam wie an einem Bildungsbuffet. Ich durfte meinen Stundenplan mit «Drama Studies» und «Introduction to Anthropology» sowie «Advanced English» und Schullektüren anfüllen. So wurde ich eine Übersetzerin, aber vor allem eine Leserin, parallel dazu eine Autorin.
Es will mir scheinen, dass alle Kinder qua Lebenssituation Übersetzer sind. Und zwar nicht nur ausgewiesene Sprachenwandler wie meine Freundin Patricia etwa, die gehörlose Eltern hat und seit ihrer Kindheit die Worte und Klänge der Welt für ihre Eltern übersetzt und durch Berührung und Geste fühl- und sichtbar macht, oder wie die zahlreichen Kinder, die ihren Eltern die neue Sprachumgebung nach Flucht und Ankommen etwa erst verständlich machen. Wie oft fallen Sätze wie: Das meint dein Vater nicht so, der Opa sagt das, meint aber etwas ganz anderes. Alle Umstände, die solche und ähnliche Sätze in den Raum stellen, beinhalten Übersetzungsaufträge für Kinder, die sie ausführen müssen, um sich zurechtzufinden, Allianzen zu prüfen, die Erwachsenen einschätzen und vielleicht sogar verstehen zu können, auch wenn diesen selbst das oft unmöglich ist.
Hieronymus, so liest man, stammte aus reichem Elternhaus, die Eltern voller Bildungswillen für den Sohn. Gerade unterrichte ich an einem amerikanischen College, das voller smarter, gebildeter junger Menschen ist, deren Eltern zum grössten Teil wohlhabend sind. Meine Studenten sprechen sehr gut Deutsch und haben mit ihren 20 und 21 Jahren mehr als nur ein Fleckchen Welt gesehen. Sie studieren Deutsch, weil sie es dann schöner singen und besser aus den kleinen Musiknotaten der grossen Komponisten herauslesen und umsetzen können, auch weil sie aus Haushalten stammen, in denen Deutsch familiäre Bedeutung besitzt.
Ein gebildeter Amerikaner lernt es eben, wurde mir einmal erklärt. Bis heute habe ich das von verschiedenen Sprechern gehört, habe Japaner kennengelernt, die Deutsch lernten, um Hegel und Schopenhauer im Original lesen zu können, auch einen in Kyoto, der Heidi auswendig aufsagen konnte. Das Übersetzen, und das wird jedem, der es versucht, rasch und umfassend klar, ist keine Sache der Wörter, ist eine Sache der Befreundung und damit eine Chance auf die Befriedung von Kulturen.
Am Hieronymus-Tag in einem Jahr haben wir darum eine Verabredung! Wir nehmen ein Buch zur Hand und schlagen nach, ob jemand und wer es übersetzt hat in unsere Sprache, und flüstern ein Danke auf die Seite und fangen an, hineinzulesen.