Überschätzt – Unterschätzt

Völlerei

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Freitag, 12. April 2024

Völlerei galt im Mittelalter als eine der sieben Todsünden. Aber an wen war die damit verbundene Drohung eigentlich gerichtet? Wohl kaum an die darbenden Armen, die bereits mit ihrem Leben bezahlten, wenn sie sich in den Wäldern ihrer Herrschaft einmal etwas Fleisch erwilderten. Oder wollte die römische Kirche gerade diese niederen Stände von den Fleischtöpfen fernhalten, die dem Klerus und den Fürsten vorbehalten waren? Heinrich Heine dichtete bissig: «Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, / Ich kenn auch die Herren Verfasser; / Ich weiss, sie tranken heimlich Wein / Und predigten öffentlich Wasser.»

Womöglich hätten die Lehren der Reformatoren nicht diese Wucht gehabt, wenn sie die kirchliche Doppelmoral nicht so drastisch bemängelt hätten. Luther war kein Kostverächter und wetterte doch gegen die Dekadenz am päpstlichen Hofe. Seine Initialzündung, der Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche, fand mit dem Zürcher Wurstessen im Beisein von Huldrych Zwingli seine radikale Entsprechung. Damit verstiessen die Zürcher demonstrativ gegen die Gebote der Fastenzeit.

Die Fastenzeit ist gerade vorbei. Dennoch hielte ich so ein Protestessen wieder für angebracht. Denn ich bin ein Schlemmerbauch vor dem Herrn. Das einzige Land, für das ich je patriotische Gefühle hegen könnte, spotte ich gerne, ist das Schlaraffenland. Deshalb gehen mir die zeitgeistigen Abstinenzforderungen auf die Nerven. Sie werden nicht einmal mehr theologisch begründet. Nun gebietet das vernunftgeleitete Mantra, dass die Menschheit mit den Nahrungsmittelressourcen anders umgehen muss, wenn wir diesen Planeten noch retten wollen.

Natürlich habe auch ich immer wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich, obwohl ich sehr regional und ökobewusst einkaufe, mit beitrage zur Überfischung der Meere, zur Massentierhaltung und zum Ausbau von Monokulturen. Und ich will nicht billigend in Kauf nehmen, dass unsere Wohlstandskultur lieber die Lebensmittel verderben lässt als ihre Marktpreise.

Doch in meinen Augen hat das heutige Verzichtsmantra etwas Doppelbödiges. Wie schon im Mittelalter sind es die bessergestellten Kreise, die im Überfluss den Verzicht predigen. Forderungen einer höheren Vermögenssteuer, die ja auch eine Form von Abspecken bedeuten würden, werden dagegen brüsk zurückgewiesen. Menschen, die am Existenzminimum nagen, kommt der Buddhisten-Slogan «Weniger ist mehr» nicht selten wie ein zynischer Glückskeksspruch vor. Ich halte mich da lieber an Ibsens Satz aus dem Theaterstück «Die Wildente»: «Der Leib fordert zuweilen auch sein Recht.»

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