Der ehrliche Klappentext

« Ungewisses Manifest » von Frédéric Pajak

Frédéric Pajaks « Ungewisses Manifest » ist ein literarisch-zeichnerisches Gesamtkunstwerk und ein engagiertes Ankämpfen gegen das Vergessen. Im neuesten Band stellt sich der Westschweizer Schriftsteller seinen persönlichen Träumen.
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Mittwoch, 20. April 2022

Schon als Zehnjähriger träumte Frédéric Pajak davon, ein Buch zu schaffen, «das Wörter und Bilder vereint ». Als Zwanzigjähriger fiel ihm der Titel zu : «Ungewisses Manifest ». Ein « Aufheulen gegen die Ideologien, gegen den Zeitgeist und gegen die Zeit, die vergeht », sollte es laut der Vorrede zum ersten Band sein. Vor kurzem hat Pajak, nun 66 Jahre alt, sein Werk fertiggestellt. Neun Bände stark ist es geworden. Pajaks Motiv, gegen die Auslöschung der Vergangenheit anzukämpfen, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit Künstlern und Schriftstellern. So zeichnet er etwa das Leben Walter Benjamins bis zu dessen Tod auf der Flucht vor den Nazis nach. Sein Blick ist dabei unverhohlen subjektiv und verbindet sich mit Reflexionen über das eigene Leben und Schaffen.

Pajaks schwarzweisse Tuschezeichnungen bedecken den grösseren Teil der Buchseiten, darunter stehen ein paar Zeilen Prosa. Doch die Bilder sind nicht bloss Illustration des Textes, und ebensowenig sind die Texte nur Bildunterschriften. Wort und Bild sind eigenständig und korrespondieren in feinsinniger Weise. Pajaks Zeichnungen bilden Landschaften und Stadtszenen ab, teilweise sind es abgezeichnete Fotografien. Das Schwarz überwiegt meist das Weiss, und viele Bilder muten bedrohlich oder melancholisch an.

Die Publikation der deutschsprachigen Ausgabe, von Ruth Gantert präzis und stilsicher übersetzt, ist nun bei Band 6 mit dem Untertitel « Wunden » angelangt. Das Buch lässt tief in die Seele des Künstlers blicken. Hier erfahren wir, dass Pajak im Alter von zehn Jahren – zu jener Zeit, als er seine Vision von Wort und Bild hatte – seinen Vater verlor, und zwar doppelt. Zuerst trennte sich die Mutter vom Vater und zog mit den Kindern von Paris nach Nyon. Kurz darauf starb der Vater bei einem Autounfall.

Nun wird klar, dass Pajaks Kampf gegen den Verlust der Geschichte persönlich grundiert ist. Teuer sind ihm die Erinnerungen an den intakten Teil der Kindheit und an den Vater, der Maler war. Frédéric wurde mit seiner Trauer alleingelassen. « In der Nacht, die auf die Nachricht seines Hinscheidens folgt, höre ich ihn mit mir sprechen, und dieses Zwiegespräch ist nie ganz abgebrochen. »

Die Mutter nahm wenig Rücksicht auf ihre Kinder. Die schöne junge Witwe holte wechselnde Liebhaber ins Haus, entdeckte den Feminismus und schleppte die Familie an den FKK-Strand. Sie fuhr Auto wie ein Henker, und um ein Haar bestätigte sich Frédérics Vorahnung, dass auch der Rest der Familie bei einem Unfall sterben würde. Die Schule in Nyon kommt ebenfalls schlecht weg. Nach kritischen Fragen zur Bibel schrie ihn die Lehrerin an : « Fahr zum Teufel ! » In der folgenden Nacht im Bett liegend, sah er sich selbst « mitten in den Flammen des Scheiterhaufens, neben meinem Vater. Ich bin glücklich. »

Doch nicht alles in Pajaks Buch ist düster. In nonchalanter Unausgewogenheit sind ein paar Skizzen aus der Gegenwart montiert. Zu Hochform läuft Pajak in seiner Gastro- und Kulturkritik auf. Er kann sich köstlich über ein « misshandeltes Gemüse » und andere kulinarische « Massaker » aufregen. Mit wenigen Sätzen führt er anhand eines Restaurantbesuchs den Zerfall der Esskultur vor. « Lange galt das Mittagessen als ein Fest, jetzt wird gesnackt. »

Gewichtiger ist indes Pajaks Suche nach der Familiengeschichte. Bei einem Besuch in Jerusalem fand er heraus, was seine Mutter und seine Elsässer Grossmutter ihr Leben lang verschwiegen hatten : Ihre Vorfahren waren konvertierte Juden. Sollte sich nun auch Pajak als Jude betrachten ? Gegenüber der Idee eines auserwählten Volks, ja überhaupt eines Volks, ist er skeptisch. « Meine Zugehörigkeit ist diejenige zu einer Sprache. »

Eine traurige Ironie will es, dass Pajak seinen Kampf gegen den Verlust der Vergangenheit austrägt, während seine Mutter im Altersheim an Alzheimer erkrankt. Noch lebt sie. Aber irgendwie auch nicht, stellt ihr Sohn fest. « Ist das Leben etwas anderes als Erinnerung, und sei diese zurechtgelegt oder gefälscht ? »

Frédéric Pajak: «Ungewisses Manifest, Band 6. Wunden». Aus dem Französischen von Ruth Gantert. edition clandestin, Biel 2021; 144 Seiten; 40 Franken.

Florian Bissig ist Kulturjournalist und literarischer Übersetzer.

  • N° 3/2022

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