Sie heissen Amar, Alaa und Hussan, und sie haben ein konkretes Ziel: Sie wollen von Ägypten aus nach Italien fliehen. Der Journalist Wolfgang Bauer und der Fotograf Stanislav Krupar haben syrische Männer auf ihrer Flucht begleitet. Und eine Reportage darüber geschrieben, deren Sprache packt und berührt.
Immer noch fliehen jeden Monat Tausende von Männern, Frauen und Kindern vor dem Krieg in Syrien. Die wenigsten von ihnen gelangen bis nach Europa – weil sie nicht wollen oder nicht können. Denn dazu braucht es viel Geld. Und einiges an Mut. Amar, Alaa und Hussan bringen beides auf. Doch bevor sie überhaupt ein marodes Schiff betreten können, beginnen die ersten Schwierigkeiten. Es erwarten sie falsche Versprechen, Lügen und eine Entführung durch verfeindete Menschenschmuggler: «Wir Flüchtlinge, die das Land verlassen wollen, sind eine Ware, mit der nach Belieben gehandelt werden kann», gibt Bauer die Erfahrung der drei Männer wieder.
Bauers Reportage bietet einen authentischen Ein blick in das Leben und Erleben von Flüchtlingen. Beim Lesen wird bald klar: Auf der Flucht zu sein bedeutet vor allem tagelanges Nichtstun, ohne zu wissen, wann und wie es weitergeht. Und es bedeutet, sich in Abhängigkeiten zu begeben: Bauer schildert, wie sich die Gruppe auf Schmuggler wie Abu Hassan und Nuri verlassen muss, die sie lange mit ausweichenden Erklärungen hinhalten. Später folgt dann das Ausharren auf dem überfüllten Schiff.
Über das Meer zeichnet sich durch klare Perspektivenübernahme aus. Das Schicksal der Flüchtenden geht den beiden Journalisten nah. Wie nah, wird klar, wenn Bauer die Euphorie der Flüchtenden angesichts der nahenden Abreise aus dem Hafen schildert: «Uns Reportern geht es ähnlich, wir können unsere Gefühle kaum noch von denen der Flüchtlinge trennen.»
Die Vorfreude ist aber zu früh, wie sich bald herausstellen wird: Denn auch ein zweiter Versuch, in See zu stechen, scheitert – und bringt die Migranten in ein Gefängnis von Alexandria. Die Reporter müssen beim Verhör ihre Identität preisgeben und werden in die Türkei abgeschoben. Dennoch bricht die Geschichte hier nicht ab: Den Teil der Schiffsreise schildert Bauer aufgrund der Erzählungen von Alaa, der es mit seinem Bruder Hussan nach etlichen erfolglosen Versuchen auf ein Boot geschafft hat. Amar hingegen muss einen Umweg über die Türkei nehmen. Die beiden Fluchtwege werden von nun an abwechslungsweise weitererzählt.
Wolfgang Bauer, der sich als Kriegsreporter einen Namen gemacht hat, liefert mehr als einen Erlebnisbericht. Der erfahrene Syrienbeobachter ergänzt die Reportage mit Hintergrundinformationen zum Krieg und zu den Fluchtgründen. Mit seiner schlichten Beschreibung gelingt es dem preisgekrönten Journalisten, das Schicksal von Syrienflüchtlingen greifbar zu machen.
Die wenigen Fotos von Stanislav Krupar, die in unregelmässigen Abständen auf fünf Doppelseiten eingefügt sind, erscheinen hingegen fast überflüssig. Die Reportage hätte sich getrost auf die Bilder verlassen können, die bei der Lektüre im Kopf des Lesers entstehen.
Über das Meer ist so etwas wie eine Pionierarbeit: Bauer und der Fotograf Krupar waren 2014 die ersten Journalisten, die Syrienflüchtlinge auf ihrer Reise übers Mittelmeer begleitet haben. Die Erfahrung liess die beiden nicht unberührt: Über das Meer endet mit einem Plädoyer für eine menschlichere Migrationspolitik in Europa.
Wolfgang Bauer: Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Suhrkamp; 131 Seiten; 16.40 Franken.
Stephanie Zemp ist freie Journalistin in Bern.