Viele denken beim Stichwort China an ein Milliardenvolk, das in Fabriken versklavt Plastikkitsch und Plagiate aller Art herstellt; an ein Riesenreich, das von einem kommunistischen Regime gerade in einen Überwachungsstaat verwandelt wird, oder an eine Nation, die die Ressourcen der umliegenden Länder plündert und Menschenrechte mit Füssen tritt. Vorurteile über das Reich der Mitte gibt es zuhauf, obwohl oder vielleicht gerade weil die chinesische Gesellschaft für den Westen unbekanntes Terrain ist. Das Buch des Sinologen und Philosophen Kai Marchal verspricht, diesen Stereotypen mit Erfahrungsberichten aus erster Hand zu begegnen und die chinesische Kultur so etwas verständlicher zu machen. Dazu begibt sich Marchal, der als Professor für chinesische Philosophiegeschichte an der Universität Taipeh lehrt, auf die Spuren des chinesischen Denkens.
In Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist hat er verschiedene Zugänge gewählt: Er schreibt aus einer persönlich-biografischen Sicht, als kritischer Beobachter westlicher Verklärungen sowie als philosophischer Kenner der chinesischen Geistesgeschichte. Doch gerade diese Vielzahl an Perspektiven erschwert die Lektüre. Eine verständliche, flüssige Erzählung sucht man vergeblich. Stattdessen ist das Buch eine Melange aus sprunghaften Anekdoten, schemenhaften Sentenzen und akademisch-abstrakten Gedankengängen. Es entsteht der Eindruck, Marchal habe seine eigene Beschreibung des Landes zur Schreibmaxime erhoben: «China: ein Labyrinth, ein Fuchsbau, ein Wunder an Überkomplexität!» Oft wählt der Autor zudem einen ironisch-distanzierten Ton, was es zusätzlich erschwert, sich auf das Buch einzulassen.
Vielleicht ist die Verwirrung, die der Autor stiftet, aber auch das, was nach einem jahrzehntelangen Spagat über Kulturen und Geschichten hinweg noch bleibt. Marchal, der in Deutschland geboren wurde und heute im chinesisch geprägten Taiwan lebt, führt ein Leben im permanenten Kulturvergleich. Manche seiner Brückenschläge sind denn auch tatsächlich erhellend. Vor dem inneren Auge ergibt sich ein viel klareres Bild davon, wer Konfuzius möglicherweise war, wenn als Gegenbeispiel der Altgrieche Sokrates herangezogen wird. Die politische und kulturelle Atmosphäre, die zur Zeit des Philosophen Wang Bi und seiner Kumpane herrschte, lässt sich besser verstehen, wenn Marchal sie mit den Hippies und der 68er Bewegung vergleicht.
Gerade dieser kulturübergreifende Vergleich jedoch droht oftmals zu scheitern, denn die Lektüre setzt eine grosse Vertrautheit mit der europäischen Geistesgeschichte voraus. So lässt Marchal von C. G. Jung über Ezra Pound bis Slavoj ŽiŽek kaum einen Autor aus, der sich irgendwie einmal zu den Ideenwelten aus dem Reich der Mitte geäussert hat.
Marchal ist dann am besten, wenn er dem chinesischen Denken ohne solche Querverweise nachgeht. Seine Ausführungen zum philosophischen Daoismus, zu den Kommentaren Wang Bis, dem Konfuzianismus oder dem buddhistischen Philosophen Nagarjuna sind schlüssig und klar. Als Gesamtwerk mag das Buch indes nicht zu überzeugen. So gelingt es Marchal nicht, eine Verbindung zwischen der chinesischen Philosophiegeschichte und der politischen Gegenwart herzustellen. Die Stereotype gegenüber China kann er weder erklären, noch vermag er Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Als Annäherung an ein fremdes Land taugt das Buch damit nicht. Dafür schreibt Marchal schlicht zu wirr, zu unzugänglich und zu voraussetzungsreich.
Kai Marchal: Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren des chinesischen Denkens. Matthes & Seitz; Berlin 2019; 349 Seiten; 31.90 Franken.
Dolores Zoé Bertschinger ist Religionswissenschaftlerin und freie Autorin in München.