Mai 1989. Ich in der vierten Klasse Volksschule in Viehofen, unsere Lehrerin Frau Müllner verkündet uns, dass wir zum Volksschulabschluss eine Sketch-Parade auf der Bühne des Pfarrheims Viehofen für unsere Eltern darbieten würden. Sie teilt an jenem Freitag im Mai Durchschläge (Durchschläge waren die «Kopie» der achtziger Jahre) von rund zehn Sketchen in dramatischer Form aus und trägt uns auf, sie alle bis Montag zu lesen und uns zu überlegen, welche Rollen wir gerne übernehmen würden.
«Lest euch alle Sketche genau durch und überlegt euch, wer ihr gern …»
… Ich schrei raus: «Ich will die Fahrschülerin sein in diesem Sketch!» (Ich halte den Durchschlag des Fahrschülerinnensketches in die Luft.)
Frau Müllner schaut mich verdutzt an.
«Ramin, ich habe gesagt, dass ihr das bis Montag lesen sollt und dann entscheiden wir das, und …»
«… Ich hab’s aber schon jetzt gelesen und ich will die Fahrschülerin in diesem Sketch hier sein.» (Ich halte den Durchschlag mit dem Fahrschülerinnensketch noch höher hoch und fächle zur Betonung damit herum.)
«Ramin, die Fahrschülerin ist aber eine Frau und daher ist das eine Rolle für die Mädchen. Es gibt ja genug Rollen für Buben, Ramin, du findest sicher eine Rolle für die Buben, die dir gefällt.»
«… Ich will aber die Fahrschülerin sein! Und wenn sie eine Frau ist, dann spiel ich halt eine Frau!»
Frau Müllner lächelt mich an.
«Na ja. Wenn du meinst. Okay, dann spielst du halt die Fahrschülerin.»
Juni 1989. Seit einem Monat studiere ich meinen Text ein und probiere mit meinem Szenenpartner die Fahrschülerinnenszene. Meine Mutter schneidert mir währenddessen ein Kleid (ja, meine Mutter hat damals noch an einer Nähmaschine Socken gestutzt, Säume aufgefrischt und eben auch Kleider genäht). Sie kaufte mir eine passende Perücke und Highheels in meiner Grösse und sie besorgte Ohrclips, die zum Outfit passten.
Am Tag der Aufführung war meine Mutter meine Visagistin und Kostümbildnerin. Sie schminkte mich, klippte mir meine Clips ans Ohr, zog mir meine Perücke zurecht. Frau Müllner stand daneben und strahlte mich an. «Du bist die beste Besetzung für die Fahrschülerin, Ramin!» Ich strahlte sie auch an: «Danke, Frau Lehrerin! Ich bin froh, dass es Ihnen gefällt!»
Da kommt plötzlich der Pfarrer in den Backstagebereich und sagt zu meiner Mutter:
«Frau Nikzad, Sie machen einen Fehler! Sie geben Ihren Sohn der Lächerlichkeit preis, wenn Sie ihn so auf die Bühne schicken! Er ist ein Kind und weiss es nicht besser, doch Sie sind eine erwachsene Frau und seine Mutter und Sie sollten es besser wissen! Ein Bub ist ein Bub und kein Mädchen! Frau Nikzad! Ich appelliere an Ihre Vernunft, denn …»
«… Mama, ich brauch noch die Perlenkette! …» schrei ich.
«… Jössas, stimmt, die Perlenkette!» sagt meine Mutter. «Wart kurz, Schatzi!»
Sie stellt sich vor den Pfarrer.
«Herr Pfarrer, bitte verzeihen Sie, ich muss jetzt eine Perlenkette suchen, aber ich möchte Ihnen nur kurz sagen: Vielleicht wird sich mein Sohn heute lächerlich machen auf Ihrer Bühne. Wenn er eine Frau spielt auf Ihrer Pfarrheimbühne. Eine Frau in Perücke und Kleid und Make-up und Perlenkette. Aber er will es so. Und wenn er etwas will, dann tut er es. Wenn er es will, dann wird er es tun. Und es ist ihm sch****egal, ob Sie oder irgendwelche Eltern im Publikum das lächerlich finden. Das kümmert ihn nicht, das können Sie mir glauben. Und wenn Sie versuchen werden, ihn davon abzuhalten, wird er kreischend und randalierend die Bühne stürmen und herumbrüllen. Wollen Sie das, Herr Pfarrer? Können wir das wollen, Herr Pfarrer? Vor all den anderen Eltern? Vor unserer Frau Lehrerin Müllner hier?»
Der Pfarrer: «Herrgott nochamal … Schauen S’ einfach, dass er das ruhig über die Bühne bringt, fix nochamal …» Er verschwindet.
Meine Mutter und Frau Müllner lachen und machen sich auf die Suche nach meiner Perlenkette.