Eine Frau ist mit ihrer kleinen Tochter unterwegs zum Vater der Frau. Für sie ist es das erste Wiedersehen seit Jahren. Für das Mädchen das erste Treffen überhaupt mit «Opi Schnurrbart». In wenigen Bildabfolgen wird klar, wie schwierig die Begegnung ist. Der Vater nennt seine Tochter Dominique mal «Nikske», was auf flämisch so viel heisst wie «Nichtigkeit», mal «Dom», was im Brüsseler Dialekt «dumm» bedeutet. Mit schroffen Strichen bringt die frankobelgische Comiczeichnerin Dominique Goblet den Mief und die Enge der Stube aufs Papier, in der die Konfrontation stattfindet. Bald schon verliert sich der arbeitslose alkoholkranke Vater in Allmachtsphantasien – er brüstet sich als «bester Feuerwehrmann» im Quartier –, nur um im nächsten Moment in Selbstmitleid zu versinken. Er beschuldigt die Tochter, ihn als Kind verlassen zu haben. Dabei muss es umgekehrt gewesen sein. Nach und nach überziehen die wackeligen Buchstaben des väterlichen Geschreis den gesamten Bildraum.
Für Dominique und ihr eigenes Kind bleibt kaum mehr Platz. In gedämpft gefärbten Rückblenden kehrt die Künstlerin Goblet in das kindliche Universum zurück. Vieles ist dabei zeichnerisch nur anskizziert. Deutlich wird aber die Erinnerung an die Misshandlung durch die geliebte, doch emotional instabile Mutter. Dominique konfrontiert den Vater beim Besuch mit ihren schmerzhaften Erfahrungen. Der «Feuerwehrmann» hat die psychische und physische Gewalt nie mitbekommen. Er konnte seine Tochter nicht auffangen.
Die Zeichnerin Dominique Goblet begibt sich in dem autobiografischen Erzählband auf die Suche nach Nähe und Wahrheit. Diese handelt von der Wiederbegegnung, vom Abschied vom Vater, der schliesslich stirbt, von der nicht mehr anwesenden Mutter, aber von auch einer neuen Liebe. Zwei der vier Kapitel spielen nur in der Gegenwart und fokussieren auf die Liebesbeziehung der Protagonistin mit dem Schriftsteller Guy Marc Hinant. Hinant hat die Texte dazu mitgestaltet.
So tun als ob heisst lügen entstand im Zeitraum von zwölf Jahren. Die Skizzen dokumentieren den Wandel, dem die Erinnerung und der Zeichenstil der Künstlerin im Laufe der Zeit unterworfen waren. Die schwarzweissen, reduzierten Zeichnungen der Anfangszeit wurden nach und nach von neuen Malschichten überzogen. Wie Patina legen sich ölige Farbflächen und grobe Schraffuren von Buntstiften über die klaren, dünnen Linien. Die Bildsprache, die Goblet für den kindlichen Kosmos und ihr Leben im Jetzt findet, wächst und wuchert über die Jahre. Das Buch erzählt eine oft traurige Geschichte, wird aber vom leisen Humor der Protagonistin getragen. «Nikske» gibt nicht auf.
Deutlich wird dies an einer Serie von 24 sepiafarbenen Zeichnungen, die Goblet den eigentlichen Kapiteln vorangestellt hat. Die Bildabfolge zeigt die kleine Dominique und ihre Mutter. Das Mädchen mit dem breiten Lachen und dem Pagenschnitt strauchelt beim schnellen Laufen und weint über die beiden Löcher an den Knien, die die Strumpfhosen beim Sturz davongetragen haben. Die Mutter tröstet die Tochter, zieht die Strümpfe aus, formt daraus einen Knäuel und murmelt einen Zauberspruch. Dann zieht sie sie dem Kind wieder an. An den Knien sind sie wieder ganz. Bewundernd strahlt die kleine Dominique die Zaubermutter an. Erst auf dem letzten Bild, das die beiden in Rückenansicht zeigt, wird sichtbar, dass die Mutter der Tochter die Strümpfe bloss umgekehrt angezogen hat. Die Löcher bleiben. Die Mutter hat geflunkert, sie kann nicht zaubern. Aber es gelingt ihr in diesem Moment, ihr Kind zu trösten.
Goblet schafft es, die kindliche Abhängigkeit und die ambivalente Beziehung zur Mutter in Bilder zu fassen. Das ist bewegend und grandios. Zehn Jahre nach dem Ersterscheinen in französischer Sprache liegt dieser preisgekrönte Comicband nun auf Deutsch vor.
Dominique Goblet: So tun als ob heisst lügen. Avant, Berlin 2017; 148 Seiten; 40 Franken.
Susanne Leuenberger ist Redaktorin bei bref.