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«Sie haben gerufen: Weg mit den Lügen-Bildern!»

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Freitag, 21. Juni 2024

Übersetzung von Auszügen aus Gottfried Kellers Novelle «Ursula» von 1877.

Die Pfingstzeit des Jahres 1524 war für die in den Kirchen zu Stadt und Land versammelte Bilderwelt kein liebliches Fest geworden; denn infolge einer weiteren Disputation und daherigen Ratsbeschlusses wurde, unter Zustimmung des Volkes, alles Gemalte, Geschnitzte und Gemeisselte, Vergoldete oder Bunte von den Altären und Wänden, Pfeilern und Nischen genommen und zerstört, also dass der Kunstfleiss vieler Jahrhunderte, so bescheiden er auch in diesem Erdenwinkel war, vor der Logik des klanglosen Wortes erstarb; (…) Trotz allem Schonen und Zögern brach es los wie ein Gewitter, und unter dem Rufe: «Fort mit den Götzen!» ging es an ein Hämmern, Reissen, Abkratzen, Übertünchen, Zerschlagen und Zerspalten, dass in kurzer Frist die ganze kleine Farben- und Formenwelt vom Tageslicht hinweggeschwunden war gleich dem Hauch auf einer Fensterscheibe.

Vor 500 Jahren gab es in der Stadt Zürich nur eine Kirche: die katholische Kirche.

Damals waren viele Menschen mit der Kirche unzufrieden.

Sie wollten die katholische Kirche verändern.

Diese Zeit nennt man heute: Reformation.

Reformation bedeutet: Erneuerung.

Einer von diesen Menschen war Huldrych Zwingli.

Zwingli war Theologe.

Das heisst: Er dachte über Gott und die Bibel nach.

Darüber hat Zwingli am Grossmünster gepredigt.

Das Grossmünster ist eine Kirche in der Stadt Zürich.

Zwingli wollte viele Dinge in der katholischen Kirche neu machen.

Zum Beispiel wollte er den Gottes-Dienst verändern.

Zwingli fand: In der Kirche darf es keine Bilder geben.

Und auch keinen schönen Schmuck.

Die Menschen sollten nur auf das Wort aus der Bibel hören.

Schöne Dinge lenken die Menschen nur ab.

Das sagt auch die Bibel so.

Dort steht: Die Menschen dürfen keine Bilder von Gott machen.

Alle Bilder von Gott sind falsch.

Zwingli hat darüber lange Gespräche geführt.

Mit anderen Theologen.

Und mit den Chefs von der Stadt Zürich.

Die Chefs haben Zwingli recht gegeben.

Sie haben entschieden: Alle Bilder sollen aus den Kirchen raus.

Und auch der übrige Kirchen-Schmuck.

Zum Beispiel die Figuren von Heiligen.

Die Menschen in Zürich haben das gut gefunden.

An Pfingsten vor 500 Jahren war es so weit.

Handwerker wurden in das Grossmünster geschickt.

Sie hatten Hammer und Farbe dabei.

Auch einige von den Chefs waren dabei.

Zuerst haben alle ein bisschen gezögert.

Manche Bilder waren vor langer Zeit entstanden.

Sie wollten sie nicht einfach kaputt machen.

Dann ist den Chefs eingefallen: Gott will diese Bilder nicht.

Und sie haben gerufen: «Weg mit den Lügen-Bildern!»

Die Handwerker haben Hammer und Farbe genommen.

Sie haben die Bilder übermalt.

Und von den Wänden gekratzt.

Dann haben sie die Figuren kaputt geschlagen.

Alles ging schnell.

Bald gab es nichts Schönes mehr in der Kirche.

Ein Jahr später, an einem schönen Herbsttage, fand das Nachspiel statt, als im Chorherrenstift zu Zürich der Kirchenschatz ausgehoben und zu Handen des Staates genommen wurde. Von den in Silber und Gold gebildeten Heiligtümern trennten sich die geistlichen Hüter nicht so leicht, und sie wichen schliesslich nur dem bestimmten Befehl, als die Abgeordneten des Rates in die Sakristei drangen.

Die Chefs von der Stadt waren damit aber nicht zufrieden.

Sie wollten auch den Schatz von der Kirche.

Das war ein Jahr später.

An einem schönen Tag im Herbst.

Damals gab es eine katholische Gemeinschaft im Grossmünster.

Die Gemeinschaft war reich.

Sie besass viel Land.

Und einen grossen Schatz.

Den sollte die Gemeinschaft nun der Stadt übergeben.

Die Gemeinschaft tat sich aber schwer damit.

Sie wollte den Schatz nicht einfach hergeben.

Vor allem nicht die Figuren aus Gold und Silber.

Deshalb kamen die Chefs von der Stadt persönlich vorbei.

Und zwangen die Gemeinschaft dazu.

Sie musste den ganzen Schatz übergeben.

Das tat weh.

Hansli Gyr war zu Schutz und Wache beigegeben und wunderte sich, indem er das zudringende Volk in Schranken hielt, selber über die verjährte Kostbarkeit, die nun durch die verödeten Kirchenhallen in den hellen Sonnenschein getragen und zunächst in das gegenüberliegende Kaufhaus gebracht wurde, welches ein grauer alter Ritterturm war.

Danach wurde der Schatz aus der Kirche getragen.

Auf der Strasse waren viele Menschen.

Alle wollten das Gold und das Silber sehen.

Und drängten sich um den Schatz.

Soldaten mussten die Menschen zurückhalten.

Ein Soldat hiess Hansli Gyr.

Hansli Gyr war selber überrascht über den Schatz.

Er hatte noch nie so viel Gold und Silber gesehen.

Gegenüber von der Kirche stand ein Turm.

Im Turm war ein Kauf-Haus.

Dorthin hat man den Schatz gebracht.

Sogleich folgte aber ein noch farbenreicheres Schauspiel, das mehr von einem fröhlichen Geräusch begleitet war, als die unabsehbare Menge der Messgewänder und Paramente, der Kirchenfahnen, Altartücher, Teppiche und Buntgewebe aller Art erschien, von Schülerknaben und anderer Jugend getragen und geschwenkt. Dieser Zug ging aber nicht in den Kaufhausturm, sondern bewegte sich wie ein Katarakt von Seide, Gold und Silberfäden, Leinwand und weissen Spitzengeflechten die Münstertreppe hinunter auf das im Flusse stehende Helmhaus, ein offener Estrich, wo die Trödler und Krämer sassen und allerhand Schacher getrieben wurde. Dort hielt man nun einen Markt über alle die Stoffe und Gewebe von zum Teil sehr alter Abkunft und kunstreicher Arbeit.

Zum Schatz gehörten aber nicht nur Gold und Silber.

Es gab auch viele kostbare Stoffe.

Zum Beispiel:

– Teppiche.

– Kleider für den Gottes-Dienst.

– Tücher für den Altar.

Buben trugen die Stoffe aus der Kirche.

Und schwenkten sie in der Luft.

Einige von diesen Stoffen waren alt.

Und sehr schön gemacht.

Sie waren aus Seide.

Oder mit Gold bestickt.

Die Stoffe leuchteten in allen Farben.

Darüber freuten sich die Menschen.

Die Stoffe wurden aber nicht in den Turm gebracht.

Die Buben trugen sie zum Fluss hinunter.

Dort war das Helm-Haus.

Im Helm-Haus war Markt.

Händler verkauften ihre Waren.

Auch die Stoffe wurde dort ausgelegt.

Und zum Verkauf angeboten.

Alle Menschen von Zürich konnten dort einkaufen.

Und ein Priester-Kleid nach Hause nehmen.

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