Letzten Montag geh’ ich kurz vor fünfzehn Uhr durch den Eingang 4Süd zu meinem Spätdienst am Wiener Allgemeinen Krankenhaus.
Hassan, unser Security, kennt mich und winkt mich durch.
Eine ukrainische Familie hat kurz zuvor den Eingang betreten, und bevor ich weitergehen kann, spricht mich Hassan an:
«Herr Doktor, die haben keine FFP2-Masken, wir schicken sie wieder weg, oder, Herr Doktor?»
Es war ein ukrainisches Ehepaar Mitte vierzig mit den Eltern des Mannes, sie kamen, weil der mittesiebzigjährige Vater des Mannes ein metastasiertes Prostatakarzinom mit schmerzhaften Knochenmetastasen hatte. Er hatte in Kiew noch Chemo und Bestrahlung bekommen, bevor der Krieg begann, und hatte jetzt keine Morphine mehr und wand sich vor Schmerzen.
«Ich hole FFP2-Masken vom Stützpunkt, Hassan, und dann kannst du sie reinlassen, okay?»
Auf dem Weg zum Stützpunkt, um vier FFP-Masken für diese Kiewer Familie zu holen, denk’ ich mir: «Warum ist Hassan so ekelhaft zu den Ukrainern? Komisch, sonst ist er immer so ein Netter …»
Kurz vorm Stützpunkt passt mich Dragana ab, unsere Putzfrau, und flüstert mir zu:
«Supa, Ramin. Die ganze Tag gehta so. Issa so gemein zu die Ukrainische. No hota vergessen, dassa selba is Flichtling, oda wos?»
Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
Die Ukrainerinnen werden in Österreich mit offenen Armen empfangen. Sie kriegen sofort Aufenthaltstitel, Gesundheitsversorgung und Wohnungen.
In Wahrheit sind viele von unseren ukrainischen Patienten in Porsche und Pelzmantel gekommen, wohnen im Kempinsky, kriegen alles sofort und gratis, was ich ja gut und richtig finde.
Hassan ist 2015 monatelang halbert zu Fuss, halbert auf LKW, halbert tot von Aleppo nach Wien gekommen.
Er lebte fünf Jahre lang mit hundert anderen Kurden, Syrern, Afghanen und Somaliern in einer Schuhschachtel in Traiskirchen.
Er durfte in diesen fünf Jahren nicht arbeiten, obwohl er arbeiten wollte.
Er wurde sehr unherzlich und mit verschränkten Armen in diesem unseren Österreich empfangen.
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
Unsere Securities sind mehrheitlich Syrer, Afghanen, Iraki.
Sie müssen jetzt erkennen, dass sie in Österreich, in dem sie heute ihre Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, Asylsuchende zweiter Klassen waren.
Dass sie einfach, nur weil sie aus dem Orient vor Bomben und Hunger flohen und nicht aus dem benachbarten Europa, wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden im Vergleich zu den Ukrainern heute.
Und ich verstand diese Ekelhaftigkeit gegenüber unseren ukrainischen Patientinnen, auch wenn sie natürlich völlig inakzeptabel ist, und ich hab’ diese Quälereien in meinem Dienst sofort unterbunden.
Menschen sind Menschen.
Menschen wollen überleben.
Sie wollen, dass ihre Kinder überleben.
Ihre Eltern und Grosseltern.
Sie wollen, dass ihre Geschwister überleben.
Egal, wo sie geboren wurden und welche Sprache sie sprechen.
Egal, an welchen Gott sie glauben.
Egal, wie viel Pigment sie in ihren Haaren, in ihrer Haut mit sich tragen.
Unsere Putzfrau Dragana ist als Älteste, als Neunzehnjährige, im Herbst 1993 mit ihren drei kleinen Geschwistern im Bus von Sarajewo nach Wien gekommen, nachdem die Serben ihre Eltern erschossen hatten.
Sie schüttelt den Kopf und sieht mich an.
«Flichtling issa Flichtling, oda? A Mensch valossta net seine Heimat, wann stehta net vor seine Tod …»