Ernest Hemingway, berühmt für seine atemraubenden Kurzgeschichten, trat einst unter Freunden die Wette an, eine Geschichte in nur sechs Worten schreiben zu können. «For sale: baby shoes, never worn.»
Die Zeile trifft mitten ins Herz, sofern die Leserin den Inhalt dieser wenigen Worte erschliessen kann und den Grund erahnt, warum die winzigen Schuhbänder nie geschnürt wurden. Dazu brauche es jedoch ein «persönliches Archiv an Hintergrundwissen», wie Autorin Maryanne Wolf es nennt, und vor allem Übung im vertieften Lesen.
Doch gerade dieses langsame Lesen sieht die Kognitionsexpertin und Literaturwissenschaftlerin heute in Gefahr. Vertiefte Lektüre werde mehr und mehr von einer oberflächlichen, schnellen Lektüre verdrängt. Heute seien Kinder im Schnitt sechs bis sieben Stunden online, Jugendliche bis zu 19 Stunden. Digitale Medien sind auf schnelles Lesen angelegt und auf die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne ihrer Nutzer. Wie gut und ob überhaupt der Leser fähig ist, einen Text zu verstehen, hängt aber davon ab, wie viel Zeit sein Gehirn hat, das Gelesene aufzunehmen und mit verschiedensten Emotionen und Gedanken zu verknüpfen. Mit der Schnellleserei, so Wolfs These, verschwindet auch die Fähigkeit, sich auf die Perspektive und die Botschaft anderer einzulassen – und eine Kurzgeschichte wie die von Hemingway zu verstehen. Die Forscherin ist sogar überzeugt, dass das Leseverständnis mit dem Potenzial für Mitgefühl zusammenhängt und umgekehrt das Mitfühlen mit der Fähigkeit, zu lesen und sich auf andere Perspektiven einzulassen. Diese alarmierende Botschaft untermauert die Autorin mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien.
So zitiert sie Forscher der Stanford University, die zum Schluss kamen, dass die Empathie bei jungen Menschen im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte um 40 Prozent abgenommen habe. Der stärkste Niedergang sei in den letzten zehn Jahren zu beobachten, seit die schnelllebigen digitalen Medien ihren Siegeszug antraten.
Wolf erstaunt das nicht, da es sich bei der Empathie um eine komplexe Mischung aus kognitiven, sozialen und emotionalen Prozessen handelt, ein «riesengrosses Netzwerk aus Denken und Fühlen, das Sehen, Sprache und Kognition verknüpft». Dieses Netzwerk werde vor allem durch Tätigkeiten wie Lesen entwickelt. Es brauche Jahre, so die Autorin, bis sich das Gehirn und seine Schaltkreise für diese vertiefte Form des Verstehens ausbildeten. Ein geübter aufmerksamer Leser hingegen verarbeite und verknüpfe die Informationen aus verschiedensten Ebenen der Wahrnehmung zu einem komplexen Bild.
Junge Menschen laufen für Wolf Gefahr, dieses langsame Lesen nie zu beherrschen und das vielschichtige Verstehen zu verlernen. Sie wechseln 27 Mal pro Stunde zwischen verschiedenen Quellen und Medien und schauen zwischen 150 und 190 Mal am Tag auf ihr Handy. Diese fluktuierende Aufmerksamkeit macht es schwer, sich länger einer Sache oder einem Menschen zuzuwenden, da das Mass an Reizeinwirkung gross ist und Langeweile schnell einsetzt.
Wolfs Plädoyer hat Längen, die vielen Verweise auf Studien einerseits und Literaten anderseits ermüden. Das Fazit jedoch ist bemerkenswert: Lesen ist keine natürliche Fähigkeit des Menschen, sondern eine über Jahrhunderte erworbene Kulturtechnik. Nun ist das langsame Lesen bedroht und damit auch seine Kernerfahrung, die Marcel Proust einst als «Wunder der Kommunikation im Herzen der Einsamkeit» beschrieben hat. Um dieses Glück zu teilen, könnte man wieder einmal einen Roman lesen. Vielleicht von Proust oder Hemingway.
Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. Penguin; München 2019; 300 Seiten, 25.50 Franken.
Corinne Holtz ist Musikjournalistin und freie Autorin in Zürich.