Der ehrliche Klappentext

«Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne» von Svenja Goltermann

Opfer von Krieg, Sexismus oder Rassismus sind in den Medien nicht erst seit #metoo oder #blacklivesmatter allgegenwärtig. Doch wer gilt eigentlich wann und warum als Opfer? Die Historikerin Svenja Goltermann ergründet in ihrem gleichnamigen Buch die modernen Wurzeln des Opferstatus, der bis heute ambivalent ist.
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Freitag, 26. Januar 2018

Aktueller liesse sich eine Publikation Anfang 2017 nicht schliessen: «Es könnte in Zukunft gesellschaftlich und politisch wichtig sein zu sagen: Ich bin ein Opfer.» #metoo also?

Svenja Goltermann, Professorin für Geschichte der Neuzeit und Direktorin des Zentrums für die «Geschichte des Wissens» an der Universität Zürich, erzählt die Geschichte des Opferbegriffs vom frühen 18. Jahrhundert bis heute. Dabei macht sie an verschiedenen Stationen Halt und fragt: Ausgehend von welchen politischen Sachlagen, medizinischen Kenntnissen und kriegsstrategischen Überlegungen wurden Menschen überhaupt als «Opfer», als «Vermisste» oder «Geschädigte» definiert? Mit «historischem Reflexionswissen» will Goltermann also in eine laufende Debatte über den Status des Opfers in unserer Gesellschaft intervenieren.

Beispiele für Opfer fallen einem viele ein: Arbeitslose sind Opfer neoliberaler Umstrukturierungen, People of Color sind Opfer von alltäglichem Rassismus, und verwahrloste Kinder sind Opfer von vernachlässigter Fürsorgepflicht – so einige gängige Stereotype. Dass uns überhaupt zahlreiche Beispiele für Opfer in den Sinn kommen, ist laut Goltermann typisch für ein modernes Opferverständnis. Dieses sei einerseits mit der Idee verknüpft, dass Opfer einen Verlust erlitten, etwa ihre Arbeit, Integrität oder behütete Kindheit verloren haben und darum Entschädigung und juristischen Beistand einfordern dürfen. Andererseits haftet dem modernen Opfersein das Stigma der Passivität an, was eine doppelte Abwehr zur Folge hat: Betroffene selbst wehren sich dagegen, als «Opfer» verstanden zu werden – und zugleich wird vielen Menschen von aussen ihr Opfersein abgesprochen.

Voraussetzungen für den modernen Opferbegriff findet Goltermann in der Erfassung und Dokumentation von Kriegstoten im 19. Jahrhundert, in Debatten um legitime und illegitime Gewalt sowie in der Entstehung des Völkerrechts. Im Ersten Weltkrieg sieht sie einen Katalysator des Opferbegriffs, weil deutsche Kriegsversehrte und Angehörige mit politischer und juristischer Unterstützung erstmals staatliche Entschädigungen einforderten und als Geschädigte staatlich anerkannt wurden. Im Nationalsozialismus setzte sich dann der Begriff des «Kriegsopfers» – im Gegensatz zu «Krüppel» oder «Kriegsinvalidem» – überhaupt erst durch. Damals noch positiv konnotiert als Opfer für das Vaterland, wurde das «Kriegsopfer» im Zuge des Vietnamkrieges umgedeutet: Kriegsveteranen galten als traumatisierte Opfer des Krieges, als physisch und psychisch Verletzte.

Diese Gleichsetzung von Opfer und psychisch Versehrten speiste das moderne Verständnis des «passiven, hilflosen Opfers». Dieses findet sich gegenwärtig in der Rede von der Resilienz wieder, der psychischen Widerstandskraft eines Individuums. Die Resilienz ist der vorläufige Höhepunkt der Individualisierung und Psychologisierung des Opfers: Wer heute ein Opfer des Arbeitsmarktes, der weissen Mehrheitsgesellschaft oder von Sexismus wird, ist nicht mehr nur Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern hat unter Umständen seine Resilienz zu wenig trainiert – und ist am Ende selber schuld.

Goltermanns Buch ist anspruchsvoll; viele historische Zusammenhänge werden als bekannt vorausgesetzt; sprachlich dürften einige Passagen flüssiger sein. Besonders lehr- und aufschlussreich ist Goltermanns gekonnte Verschränkung von Medizingeschichte, Politik und Kriegswesen. Nimmt man ihre Argumentation ernst, so ist die Reflexion über den Opferbegriff eine wesentliche Aufgabe unserer Zeit. Die aktuelle #metoo-Debatte könnte ein Anstoss dazu sein – gerade weil sie die Ambivalenz des Opfers nicht auflöst. Die unzähligen Frauen, die sich als Betroffene von sexualisierter Gewalt outen, zeigen den strukturellen und systematischen Sexismus in unserer Gesellschaft auf. Zugleich festigen sie ein negatives, stigmatisiertes Opferverständnis, indem sie sich scheuen, sich selber als solches zu bezeichnen: «Ich auch» ist (noch) nicht dasselbe wie zu sagen «Ich bin ein Opfer».

Svenja Goltermann: Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Fischer, Frankfurt a.M. 2017; 333 Seiten; 35 Franken.

Dolores Zoé Bertschinger ist Religionswissenschaftlerin und freie Journalistin in München.

  • N° 2/2018

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