Der ehrliche Klappentext

«Nikolka. Niklaus von Steiger. Eine bernisch-russische Familienodyssee» von Inga Häusermann

Niklaus von Steiger war Berner Patrizier mit russischen Wurzeln, gehörte der Schweizer Nonkonformisten-Szene an und wurde vom Staatsschutz überwacht. Zwei Jahre nach seinem Tod erzählt Inga Häusermann in «Nikolka» seine bewegende Familiengeschichte.
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Autorin: Katja Baigger
Freitag, 12. November 2021

Stellen Sie sich vor, ein Ahne von Ihnen habe als Vorbild für eine Figur im Roman «Der Meister und Margarita» des Schriftstellers Michail Bulgakow gedient. So erging es Niklaus von Steiger, der 1933 in die russische Exilgemeinde von Bern hineingeboren wurde und Anfang 2019 verstarb. Inga Häusermann, Autorin, Künstlerin und Freundin der von Steigers, hat seine Geschichte recherchiert. In «Nikolka» schildert sie Niklaus von Steigers bewegende Biographie und bettet sie zugleich in die Familien- und Welthistorie ein.

In «Der Meister und Margarita» setzte Bulgakow diesem Vorfahren Niklaus von Steigers ein Denkmal in der Rolle des Baron Maigel. Im richtigen Leben hiess er Boris von Steiger und war ein Doppelagent, der für die russische Geheimpolizei und wohl auch für Amerika arbeitete. Niklaus von Steiger kannte ihn aus Erzählungen, die in seiner Familie weitergegeben wurden. Von diesem Fundus an Geschichten zehrt auch der Roman.

Niklaus von Steigers Vorfahren wanderten nach der Französischen Revolution von Bern nach Russland aus. Dort genossen sie die Privilegien des Adels, machten am Zarenhof Karriere und kämpften schliesslich in der Oktoberrevolution 1917 an der Seite der Weissgardisten gegen die Rote Armee. Als diese zunehmend an Boden verloren, flüchtete die Familie zurück in die Schweiz.

Braucht es diese historischen Verstrickungen, um die Geschichte einer weitverzweigten Familie spannend zu erzählen? Im Fall von «Nikolka» unbedingt, sind doch Stammbäume an sich eine trockene Angelegenheit und werden hier gleich die des Vaters und der Mutter re­kapituliert. Doch weil die Autorin den Figuren mit Anekdoten Leben einhaucht – etwa über einen ersten Flirt der Eltern Niklaus von Steigers in Konstantinopel oder über krumme Geschäfte des Vaters in Rumänien während des Zweiten Weltkriegs –, unterhält das Buch vortrefflich.

Es ist ein Spaziergang im Zeitlupentempo durch die Berner Innenstadt, den die Ich-Erzählerin mit dem betagten Niklaus von Steiger unternimmt. Die Erzählerin holt ihn bei ihm zuhause ab, dabei bilden die Ahnen­portraits im Treppenhaus, an denen sie vorbeigehen, das Gerüst dieser dokumentarisch-fiktionalen Familienodyssee. Sie führt von Bern über das Zarenreich via Odessa und Konstantinopel zurück in die Schweiz. Niklaus von Steiger, der in den 1960er Jahren vom Staatsschutz als Kommunist verdächtigt wurde, hängt sich bei der Erzählerin ein und blickt auf sein Leben zurück. Halt machen sie an Orten der Erinnerung. Die erste Station ist ein Café, in dem sich Niklaus von Steiger einst mit seiner späteren Frau Anke traf. Eine andere die Weinstube: Die Leser steigen hinab ins 17. Jahrhundert, werden Zeugen eines fingierten Treffens von Niklaus von Steiger und der Ich-Erzählerin mit dem Urahnen und Schultheissen Christoph von Steiger. Dieses Wechselspiel der Zeiten macht benommen, wie es auch im Buch an einer Stelle heisst. Gegenwart und Vergangenheit werden allzu nonchalant überblendet, was oft Verwirrung schafft.

Fortan tauchen die Leserinnen in die Zeit des Zarenreichs bis zur Rückkehr in die Schweiz ein, um sich schliesslich in einem Keller wiederzufinden, in dem Niklaus von Steiger als junger Mann mit seinem Cousin, dem Autor Sergius Golowin, und dem Maler Franz Gertsch 1964 den legendären Kulturkeller Junkere 37 gründete. Hier wurden nonkonformistische Ideen diskutiert, die später die 68er Bewegung aufnehmen sollte.

In der mal mehr, mal weniger detailreichen Schilderung reihen sich realistische Berichte an Erinnerungs- und Traumbilder. Immer wieder verschwimmen Dichtung und Wahrheit auf irritierende Weise. Der Roman gipfelt in einer Hollywoodszene: Alle Ahnen treten gleich­zeitig an einem prunkvollen Fest auf, inklusive Michail Bulgakow. Das ist allzu dick aufgetragen. Das Leben der von Steigers wäre an sich schon spannungsreich genug, da braucht es kein Fabulieren. Charakteristisch für den dokumentarischen Familienroman ist ja, dass die meis­ten Ahnen nicht mehr befragt werden können und die Erzählung lückenhaft bleibt. Wer gerne in die Geschichte des Berner Patriziats oder jene von weitverzweigten Familien eintaucht, wird das Buch mögen.

Inga Häusermann: «Nikolka. Niklaus von Steiger. Eine bernisch-russische Familienodyssee». Hier und Jetzt, Zürich 2021; 284 Seiten, 42.90 Franken.

Katja Baigger ist Redaktorin bei der «NZZ».

  • N° 10/2021

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