Das erste Mal, als ich auf einer Bühne weinte, war ich siebzehn Jahre alt. Bei einem Literaturwettbewerb über Träume eröffnete ich dem kleinen Publikum an der Hamburger Alster meinen Traum einer diskriminierungsfreien, gerechteren Gesellschaft. Ich stockte, pausierte, setzte noch einmal an und schaffte es nicht, meine Tränen zurückzuhalten.
Beschämt mied ich an diesem Abend die Blicke der Menschen. «Opfer!» wird hämisch bemerkt, wenn Betroffene über ihre Verletzungen sprechen. Wer weint, ist ein schwaches Opfer, lernte ich. Emotionen sind irrelevant. Es zählen nur Daten und Fakten. Als ich die Bühne verlassen hatte, versprach ich mir selbst: Nie wieder.
Ein Jahrzehnt lang hielt ich mein Versprechen, bis ich wieder auf einer Bühne mit mir kämpfte. Dieses Mal stand ich vor Hunderten von Menschen auf der Internetkonferenz re:publica und referierte über «Organisierte Liebe». Schon beim Schreiben hatte ich geweint, immer wieder. Also übte ich im Hotelzimmer meinen Text. Gefühlvoll, aber ohne Tränen wollte ich vortragen. Auf der Bühne kämpfte ich trotzdem wieder. Ich pausierte. Und setzte erneut an. Unter Tränen. Pausierte erneut. Und liess den Tränen schliesslich ihren Lauf. Wieder schämte ich mich. Den Applaus des Publikums nach meinem Vortrag konnte ich nicht annehmen. Wollte ich nicht annehmen.
Nie wieder, schwor ich mir. Nirgendwo würde ich je wieder weinen. Und hielt mein Wort. Zwei Jahre später referierte ich in einer kleinen, idyllischen Kirche in der Schweiz. Der Pfarrer, ein engagierter, feinsinniger Mann, bat mich, nach meinem Vortrag da zu bleiben. Schon allein das Referieren an diesem schönen Ort vor diesen Menschen, die ihre Ohren und Herzen geöffnet hatten, hatte mich bewegt. Als nun eine mehrköpfige Band mit Chor zu musizieren begann – die Worte Bonhoeffers rezitierend –, schloss ich meine Augen. Dann hörte ich, wie sie Worte aus meinen Texten zitierten. Und ich traute mich nicht mehr, meine Augen zu öffnen. Ich kämpfte mit mir. Es gelang mir, nicht zu weinen. Ich hatte es geschafft.
Es dauerte allerdings nur einige Tage und Gespräche, bis mein «Erfolg» mich zu entsetzen begann. Ich wachte auf und blickte erschüttert auf mein Herz, das zu erkalten drohte. Dabei ist es doch Aufgabe eines jeden Menschen, das Herz rein, wach und weich zu halten. Ein Auftrag, der Religionen und Philosophien vereint. Tränen, heisst es in der islamischen Tradition, reinigen und erweichen die Herzen.
So begann ich, überall Tränen zu sehen. Die Tränen des Vaters Ismail Yozgat, als der Richter den Mord der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund – kurz NSU – an seinem Sohn Halit beschreibt. Er hält die Beschreibungen nicht aus, schreit auf, in Tränen. Der Richter ermahnt ihn. Wenig später jubeln Neonazis im Publikum, als ein Angeklagter freigesprochen wird. Es folgt kein Ermahnen. So beschreibt die Autorin Mely Kiyak den Schmerz, der all jene traf, deren Väter und Brüder an Halits Stelle hätten sein können: «Sie alle haben mitgeweint. Es sind viele. Es sind Millionen Tränen von Millionen Menschen.» Nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess besuchte ich eine Demonstration. Wir marschierten, Parolen wurden gerufen. Wut war zu spüren. Im Hintergrund liefen Reden über Ermittlungsfehler, die Irrungen und Wirrungen des deutschen Verfassungsschutzes und seine mögliche Verstrickung im NSU.
Als Abschluss sprach die deutsch-jüdische Autorin Esther Bejarano, Überlebende des KZ Auschwitz, mit der zittrigen Stimme eines Menschen, der in seinen 93 Jahren viel erlebt hat. Es wurde leise. Andächtig hörten ihr über 1400 Menschen zu. «Ab heute», sagte sie, «bin ich Teil der Rache der Familien der NSU- Opfer, und ihr seid Teil meiner Rache am Nationalsozialismus.» Und wir alle, die eben noch wütend Parolen riefen, weinten. Um unsere Herzen weich und wach zu halten.