Ich mag dieses Wort: bref. Es klingt ein bisschen wie das allzu einfach ausgesprochene englische Wort «breath». Und das heisst Atem.
Irgendwann einmal in tiefem Liebeskummer schrieb ich den Vers: «muss am Spiegel stehen, zu sehen, ob mein Atem noch trübt». Damit wollte ich die Frage nach meiner Relevanz für die vermisste Person und vielleicht sogar für die ganze Welt stellen. Die typische Reaktion nach einem Herzbruch mit persönlichkeitsverkleinernder Folge.
Was wir nicht recht wahrnehmen, wenn die Dinge rund laufen, ist, dass es auch ein Privileg ist, einem anderen Menschen einen Atem weit entfernt sein zu dürfen. Ich schreibe Gedichte, singe sie auch und bin eingeladen, hier meinen Atem auf Gedankengegenstände zu verwenden. Keine Angst, ich werfe ein Tictac ein, für alles allzu Nahe.
Derzeit wird ein Bild in den sozialen Medien geteilt: Es ist die Fotografie eines mit Graffiti-Schrift überzogenen S-Bahn-Wagens. Man liest dort in klaren weissen Lettern: HALB SECHS AUFGESTANDEN KAFFEE GETRUNKEN GEDUSCHT HEMD GEBÜGELT MIT DEM AUTO INS BÜRO GEFAHREN ZUM MITTAG SCHNITZEL MIT ERBSEN DAZU KARTOFFELN ZUM NACHTISCH PUDDING. Ich habe es mir als Screenshot gleich abgespeichert, weil mich Schrift im öffentlichen Raum interessiert. Seit ich, siebenjährig und an Mutterns rezitierenden Lippen hängend, Jahwe in Heines Gedicht Belsatzar als «Flammenschrift an der Wand» auftauchen sah, überlegte ich, welche Kraft schriftlicher Ausdruck in der Öffentlichkeit haben kann, und begann, Graffiti zu beobachten, die vom reinen «tagging» – also dem blossen Ausdruck von «ich war hier» durch Signatur und Kürzel – zu ganzen Texten mit Meinung und semantischer Tragkraft reichten.
Der Verlag Reclam hat einmal eine Sammlung Pompeiischer Wandkritzeleien herausgegeben. Bordelle, dunkle Ecken, aber auch die Wohnungstür der Geliebten, Schulhöfe und Mauern vor Kneipen wurden von jeher beschrieben. Es geht viel um Genitalien, Potenz und gepriesene Prostituierte. An den Wänden Pompeiis wurde politisches Sentiment kundgetan, es wurde geflucht und gescherzt.
Das Bild mit dem beschrifteten Wagen wird viele Male geteilt auf Facebook. Es gibt dazu Reaktionen derer, die die Anarchie, die ein Graffito ausdrückt, preisen, oder jener, die es ablehnen, es eine Schändlichkeit finden und wütend sind. Es gibt solche, die nur den Text sehen und in ihrer Exegese vermeinen, einen allzu westlichen Schicksalsbericht à la Bichsel vor sich zu haben.
Seine Darstellung der Einsamkeit des Mannes in der Geschichte Ein Tisch ist ein Tisch ist unerreicht. Im wahrsten Sinne ist es ja eine Einsamkeit, die letztlich auch durch Worte entsteht. Der Abgleich zwischen dem Ding und seinem Namen und das «Verrutschen» dieses durch Normen gefestigten Verhältnisses als Strategie sind gleich gebrochenen Versprechen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, in der er lebt.
Die weissen Lettern eines Anonymus, einer Anonyma auf dem Zug sprechen zum Betrachter aus einer Rolle des materiellen Privilegs. Einer oder eine hat ein Dach über dem Kopf, gestaltet das morgendliche Ritual nach eigenem Willen, besitzt Bügelbrett, Hemd, Auto und wohl einen Job, freut sich am Mittagessen, das en détail geschildert wird. Danach endet die Schilderung abrupt, und so manch einer diskutiert heiss, ob es sich hierbei um die Schilderung seelischer Verkrüppelung handelt, ob dies nicht ein speziell westweltliches Armutszeugnis ist, das einen Menschen als arbeitend und essend vorführt, aber keine Mitteilung über einen getroffenen Freund, eine geküsste Freundin enthält.
Aus meiner Arbeit mit Gefangenen zweier Gefängnisse, den Kontakten, die sich über die Jahre geformt haben, weiss ich, dass genau diese aufgezählten materiellen Dinge zu den Reichtümern eines Menschen gehören, der lange nicht in Freiheit war. Was dem einen also ein Ausdruck schmerzlicher Simplifizierung, ist dem anderen Vision des Friedens und der Freude. Es gilt, diese Enden eines Spektrums mit Zartheit zu werten, und diesem Graffito gilt meine Bewunderung für das Aufwerfen von Fragen, die einer Beatmung lohnen.